Linda Dewees ist eine Trail- und Ultraläuferin aus Inyokern in Kalifornien. Im Jahr 2010 hatte sie sich den „Grand Slam of Ultrarunning“ vorgenommen: Western States 100, Vermont 100, Leadville Trail 100 und Wasatch Front 100 – vier 100-Meiler innerhalb einer Zeitspanne von nur 11 Wochen. Die damals 52-Jährige hatte bis zu diesem Zeitpunkt schon fast 50 Ultrarennen gefinisht, darunter auch einige 100 Meiler. Aber: Linda ist keine Top-Läuferin. Sie finisht ihre Läufe meist weiter hinten im Feld. „Back of the Pack“, wie die Amerikaner sagen. Und das bedeutet: Auch bei den Rennen des Grand Slam würde sie nur wenig Puffer zum Cutoff haben. Würde dieser geringe Puffer auch dann noch reichen, wenn sie zwischen den Rennen kaum Zeit zur Erholung hat?
Zusammen mit 27 anderen Läufern und Läuferinnen trat sie beim Grand Slam an. Und die ersten Rennen liefen gut: Den Western States finishte sie in 28:27, den Vermont 100 sogar in 26:35. Knapp wurde es dann beim Leadville Trail: Linda erreichte in 29:41 das Ziel, weniger als 20 Minuten vor dem Cutoff. Als sie zum letzten Rennen der Serie, dem Wasatch Front 100, antrat, waren schon 14 der 28 ursprünglich angetretenen Läuferinnen und Läufer ausgeschieden – Linda war die einzige Frau, die noch im Grand Slam dabei war; und neun der verbleibenden „Slammer“ waren (deutlich) jünger als sie. Beim Wasatch Front 100 sah es anfangs noch gut aus für Linda – doch dann wurde ihr Vorsprung zu den Zwischen-Cutoffs immer kleiner. Schließlich, nach etwa 2/3 des Rennens, war es vorbei: Linda schaffte den Cutoff nicht mehr. Für sie war der Grand Slam das Härteste, was sie jemals gemacht hatte – und dieser Grand Slam endete mit einem DNF. Übrigens: Keiner der anderen verbliebenen Mitstreiter war im letzten Rennen ausgeschieden.
Als ich 2010 dieses Drama verfolgte, fragte ich mich: Hätte Linda eine Chance gehabt, wenn sie jünger gewesen wäre? Und wäre ein Mann mit dem gleichen Training und der gleichen Vorbereitung erfolgreicher gewesen als sie? Schließlich weiß man doch, dass im Alter die Leistungsfähigkeit nachlässt – und dass die Rekordzeiten von Frauen bei Streckenlängen zwischen 100 Metern und 100 Meilen im Durchschnitt 12% langsamer sind als die von Männern.
Auf diesen Erkenntnissen beruhen die Tabellen zum „Age Grading“ der World Masters Athletics (WMA) Association, die es inzwischen auch als Online-Rechner gibt. Hierbei werden auf Basis der Rekordzeiten für jedes Alter von 5-100 Jahren Korrekturfaktoren berechnet, mit denen man die erzielte Zeit multiplizieren muss, um so eine alters- und geschlechtsunabhängige Zeit zu erhalten. Damit will man Leistungen von Athletinnen und Athleten unterschiedlichen Alters vergleichbar machen oder individuelle Leistungen im Zeitverlauf vergleichen und von altersbedingten Leistungseinbußen bereinigen. Eine solche Methode verwendet z.B. die Deutsche Ultramarathon Vereinigung in ihrer Ergebnisdatenbank.
Sind Männer immer die letzten Finisher?
Beginnen wir daher mal mit dem zweiten Punkt des Einwands: Laufen am Ende des Feldes wirklich vorwiegend Männer? Eigentlich kenne ich mich sehr gut mit dem "Back of the Pack" aus ... ich bin ja meistens dort zu finden. Und richtig: Ich habe das Gefühl, da sind vorwiegend Männer. Aber auch sonst - an der Spitze und im Mittelfeld - sind vorwiegend Männer. Weil bei den allermeisten Läufen einfach deutlich mehr Männer laufen als Frauen.
Gefühl hilft also bei dieser Frage nicht weiter.
Besser ist es, einen Blick in die Daten zu werfen. Und hierzu muss man zunächst die Problemstellung richtig formulieren. Da wir im Marathon sowie beim Trail- und Ultrarunning deutlich unterschiedliche Teilnehmerzahlen bei Männern und Frauen haben, dürfen wir nicht nur den letzten Teilnehmer/Teilnehmerin anschauen, sondern beispielsweise die letzten 5%, die ins Ziel kommen. Und hier stellt sich die Frage: Ist der Anteil der Frauen in dieser Gruppe höher, gleich oder niedriger als im Gesamtfeld. Die holzschnittartig formulierte These „Letzte Finisher UTMB, ZUT, Berlin Marathon: Alles Männer.“ würde statistisch korrekt formuliert heißen: „Unter den letzten 5% der Finsher befinden sich anteilig signifikant mehr Männer als im Gesamtfeld.“
Das wiederum ist leicht zu überprüfen. Nicht nur für die drei genannten Rennen, sondern auch für ein paar andere namhafte Veranstaltungen.
Das Ergebnis: Am Ende des Felds – in diesem Fall bei den letzten 5% der Finisher – laufen mehr Frauen, als es der Gesamtteilnehmerquote der Frauen entspricht. Dieser Unterschied ist hochsignifikant. Und wenn bei vielen Rennen der letzte Finisher ein Mann ist, dann liegt das vor allem daran, dass deutlich mehr Männer diese Rennen laufen als Frauen. Die Wahrnehmung, dass die letzten Finisher grundsätzlich Männer sind, ist sozusagen eine statistische Täuschung.
Unsere Leistungsfähigkeit ist durch Alter und Geschlecht determiniert. Oder nicht?
Wie ist es aber mit dem Punkt, dass das Scheitern an Cutoffs kein Problem des Geschlechts, sondern der Fitness ist?
Dafür gäbe es durchaus gute Argumente. Denn grundsätzlich ist die Leistung eines Läufers oder einer Läuferin durch zwei Komponenten bestimmt: Durch deterministische Faktoren wie Gene, Geschlecht, Alter einerseits – und andererseits durch Faktoren, die jeder Athlet im Training weitgehend selbst in der Hand hat: körperliche Fitness (eigentlich ein Oberbegriff von einer Vielzahl von Faktoren wie aerobe Fitness/VO2max, Laufökonomie, Laktattoleranz, spezifische muskuläre Ausdauer, Temperaturkontrolle, Energiebereitstellung), mentale Stärke, Ernährung etc.
Verwenden wir doch mal ein Bild: Wenn man sich die Leistung eines Läufers als Wasserpegel in einem Glas vorstellt, dann entspricht die Höhe des Glases den deterministischen Faktoren, die beeinflussbaren Faktoren werden dagegen durch die Menge an Wasser in diesem Glas symbolisiert. Den höchsten Pegel (=Leistung) erreicht man, wenn das Glas nicht nur möglichst hoch (=Voraussetzungen), sondern auch komplett gefüllt ist (=optimales Training/Vorbereitung). Dies ist bei Spitzensportlern der Fall: Für eine Top-Leistung müssen alle Faktoren passen – sowohl die deterministischen als auch die beeinflussbaren. Im Bild wird klar, dass sich genau bei diesen Spitzenleistungen die deterministischen Faktoren am deutlichsten auswirken müssten – höher als den Glasrand kann man kein Wasser einschenken. Was aber, wenn man durchschnittliche Leistungen betrachtet? Das wäre bildlich gesprochen ein durchschnittlich hoher Wasserpegel. Dieser kann entstehen, wenn ein hohes Glas nur mäßig gefüllt ist. Man erreicht diesen Pegel aber auch mit einem niedrigeren Glas, das randvoll ist. Übersetzt heißt das: Durchschnittliche Leistungen können sowohl von einem mäßig begabten Streber wie von einem schlampigen Genie erbracht werden. Spielen also die deterministischen Faktoren bei durchschnittlichen Leistungen überhaupt noch eine Rolle?
Da im Folgenden Histogramme (Häufigkeitsverteilungen) der Laufzeiten bei Marathons und Ultramarathons untersucht werden, taucht immer wieder der Begriff Perzentil auf. Ein x%-Perzentil in einer solchen Laufzeitverteilung ist eine Zeit, die dadurch definiert ist, dass x% der Läufer schneller sind als das x%-Perzentil. Konkret: 5% der Läufer sind schneller als das 5%-Perzentil, 25% der Läufer schneller als das 25%-Perzentil oder 50% der Läufer schneller als das 50%-Perzentil (=Median). Die Abbildung unten stellt einige Perzentile beim Laufzeit-Histogramm des Berlin Marathon 2018 dar.
Anschauliche Erklärungen für die Kenngrößen von Histogrammen findet man beispielsweise hier.
Was sagt die Wissenschaft dazu?
Nun, da gibt es ein Problem: die Wissenschaft beschäftigt sich viel häufiger mit der Elite als mit dem "Otto- Normalläufer". Aber zumindest eine Studie setzt sich tatsächlich mit dem Einfluss von Alter und Geschlecht auf die Laufleistung auseinander - und dies sowohl bei Spitzenläufern als auch bei Freizeitläufern. Die Wissenschaftler Gerald Zavorsky, Kelly Tomko und James Smoliga haben die Daten der drei größten Marathons in den USA (New York, Boston, Chicago) aus den Jahren 2001 bis 2016 analysiert. Dabei interessierte sie, welche Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen und zwischen unterschiedlichen Altersklassen bestehen. Spitzenläufer und Freizeitläufer haben sie hierzu getrennt betrachtet.
Bei den Eliteathleten fanden sie die schon aus anderen Studien bekannte U-förmige Kurve: Die Marathonläufer sind in den Altersgruppen zwischen 25 und 34 Jahren am schnellsten; sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Athleten steigen die Laufzeiten an. Die Leistungsdifferenz zwischen Männern und Frauen betrug im Mittel über alle Altersgruppen 17%. Außerdem war der Leistungsabfall im Alter bei den Frauen grösser als bei den Männern: Während die schnellsten Männer zwischen 65 und 69 Jahren 51% langsamer waren als die Schnellsten zwischen 25 und 29, betrug bei den Frauen dieser Unterschied 61%.
Abb. 3: Marathonzeit der Altersklassensieger und -siegerinnen beim Boston-Marathon, Chicago-Marathon und New York-Marathon in den Jahren 2001 bis 2016. Aus: Zavorsky GS et al., Declines in marathon performance: Sex differences in elite and recreational athletes. |
Und bei den Freizeitläufern? Da kann man die U-förmige Verteilung noch erahnen, aber die Streuung der Leistungen ist nun viel größer. Gleichzeitig nehmen aber die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bzw. zwischen den Altersgruppen ab. Beispielsweise bei den Läufern im Mittelfeld - mathematisch ist das der Median oder das 50%-Perzentil: Der durchschnittliche Leistungsunterschied zwischen Frauen und Männern beträgt hier nur noch 12% und ist über alle Altersgruppen fast identisch. Der Leistungsabfall zwischen Jung und Alt (also 25-29 vs. 65-69 Jahre) beträgt nur noch 26% bei den Männern und 20% bei den Frauen. Außerdem gibt es in einem breiten Bereich zwischen 25 und 44 Jahren fast keine Leistungsveränderungen. Geht man vom Mittelfeld weiter zum „Back of the Pack“, dann verändern sich diese Zahlen nur unwesentlich.
Abb. 4: Marathonzeit der Freizeitläufer beim Boston-Marathon, Chicago-Marathon und New York-Marathon in den Jahren 2001 bis 2016. Aus: Zavorsky GS et al., Declines in marathon performance: Sex differences in elite and recreational athletes. |
Fazit: Alters- und Geschlechtsunterschiede gibt es bei Spitzenläufern, im Mittelfeld und Back-of-the-Pack. Nur sind diese Unterschiede bei den Spitzenläufern deutlich höher als bei den Freizeitläufern.
Nun ist Marathon eine Sache, Ultra(trail)running eine ganz andere. Wie sieht es da aus?
Leider gibt es meines Wissens keine Studie, die beim Ultra(trail)running Spitzen- und Freizeitläufer in ähnlicher Art und Weise erfasst wie die Studie von Zaworsky, Tomko und Smoliga. Aber es gibt die Statistikdatenbank der Deutschen Ultramarathon Vereinigung.
Will man ähnlich wie in der Studie von Zaworsky, Tomko und Smoliga die Finisherzeiten von schnellen, mittleren und langsamen Läufern untersuchen, dann muss man für diese Untersuchung ein Rennen auswählen, das einen moderaten Cutoff hat. Warum? Weil ein strikter Cutoff die wirklich langsamen Läufer „aus der Statistik wirft“. Wie dramatisch das ist, sieht man beispielsweise an der Verteilungskurve der Laufzeiten vom UTMB oder Western States 100. Das hat nichts mehr mit einer Glockenkurve zu tun. Und eine Abweichung von der Glockenkurve führt zu einer systematischen Unterschätzung (Bias) der Alters- und Geschlechtsunterschiede bei mittleren und langsamen Läufern.
Und genau da gibt es ein Problem: Bei den meisten Ultramarathons ist der Cutoff sehr viel anspruchsvoller als bei den Stadtmarathons. Beim Marathon ist meist nach 6 bis 7 Stunden Zielschluss. Vergleicht man das mit dem Weltrekord, so ergibt sich ein Faktor von etwa 3. Das heißt: Man kann dreimal langsamer laufen als der Weltrekordhalter und wird immer noch in die Ergebnistabelle aufgenommen.
Nicht so bei den meisten Ultra(trail)veranstaltungen. Teils aus logistischen und teils aus historischen Gründen ist der Faktor zwischen Streckenrekord und der Zielschlusszeit bei den meisten Ultramarathons viel kleiner als beim Marathon. Die folgende Tabelle gibt ein paar Beispiele.
Tab. 2: Streckenrekord, Cutoff und der auf den Streckenrekord normierte Cutoff (f) für unterschiedliche Laufveranstaltungen. |
Gesucht also: Ein Ultramarathon, dessen Verhältnis von Cutoff zu Streckenrekord vergleichbar mit dem von Städtemarathons ist. Der keine zusätzlichen Incentives hat wie spezielle Medaillen für bestimmte Zielzeiten (Western States, Comrades). Wichtig sind aber noch weitere Eigenschaften: Der Wettkampf darf keine Qualifikation erfordern – auch dies wirft die langsameren Läufer aus der Statistik und führt zu einem Bias. Außerdem sollte der Wettkampf teilnehmerstark und möglichst alt sein - und keinen bzw. nur geringfügigen Streckenänderungen unterworfen gewesen sein - schließlich braucht man eine beachtliche Läuferzahl, um eine belastbare Statistik zu erstellen.
Zwei Rennen erfüllen diese Bedingungen am besten: Der historische 100 km Lauf von Millau in Südfrankreich und der Karwendelmarsch, der zwar in seiner Neufassung erst 10 Jahre auf dem Buckel hat, aber inzwischen beträchtliche Läuferzahlen aufweist und daher eine aussagekräftige Statistik verspricht. Beide Rennen haben sehr moderate Cutoffs und weisen die geforderten Glockenkurven auf.
Auch beim Ultramarathon: Alter und Geschlecht wirken sich auf die Laufzeit aus
Und wie sind die Ergebnisse? Bei der Abhängigkeit der Laufzeit vom Alter ergeben sich ähnliche Ergebnisse wie bei der Marathon-Studie: Zwischen 20 und 45 gibt es keine signifikanten Effekte, danach werden die Läufer langsamer – egal ob man an die Spitze, in die Mitte oder ans Ende des Feldes schaut. Dass beim Millau 100k und beim Karwendelmarsch der linke „Aufschwung“ der U-Kurve (also hin zu jüngeren Läufern) fehlt, hängt damit zusammen, dass hier die Altersklasseneinteilung anders ist (M20 beinhaltet die gesamte Hauptklasse bis 29 Jahre). Zudem liegen für die Läufer und Läuferinnen unter 20 Jahren so wenige Ergebnisse vor, dass damit keine seriöse Statistik zu machen ist.
Aber auch quantitativ ist die Abnahme der Geschwindigkeit mit dem Alter beim Ultramarathon ähnlich wie bei den Marathons: Zwischen „Jung“ und „Alt“ (also M20 vs. M65) nimmt die Laufzeit an der Spitze um ca. 50% zu, in der Mitte des Feldes sind es noch 30%, am Ende etwa 15%.
Und der Vergleich Frauen versus Männer? Bei den Streckenrekorden ist sowohl beim Millau 100k als auch beim Karwendelmarsch der Geschwindigkeitsunterschied zwischen Männern und Frauen 19%. Dieser Spitzenwert sackt schon in der erweiterten Spitzengruppe (5%-Perzentil) auf 10% (Millau 100k) bzw. 12% (Karwendelmarsch) ab und ändert sich danach bis zum Ende des Felds (95%-Perzentil) nur unwesentlich.
Abb. 7: Geschwindigkeitsunterschied Männer-Frauen bei Ultramarathons (100km von Millau, Karwendelmarsch; links) und Berlin Marathon (rechts) in Abhängigkeit von der Position im Läuferfeld. Der deutliche Abfall des Geschwindigkeitsunterschieds zwischen dem Sieger und der erweiterten Spitze ist darauf zurückzuführen, dass die Differenz zwischen der langsamsten und schnellsten Laufzeit der Top 5% der Läuferinnen geringer ist als die Differenz bei den Top 5% der Läufer. Das heißt: die auf die Teilnehmerzahl normierte Leistungsdichte ist an der Spitze des Felds bei den Frauen höher als bei den Männern. Dieser Effekt, der im Wesentlichen auf der deutlich geringeren Teilnehmerzahl bei den Frauen beruht, wurde auch schon bei Marathons beschrieben. |
Interessant ist hier der Vergleich mit dem Geschwindigkeitsunterschied Männer-Frauen beim Marathon. Hier ist der Gender-Effekt in der erweiterten Spitzengruppe am höchsten – höher noch als bei den Rekordzeiten. Je weiter man sich im Läuferfeld nach hinten arbeitet, umso geringer wird der Einfluss des Geschlechts auf die Laufzeit, ist aber selbst am Ende des Felds (95%-Perzentil) immer noch vorhanden und beträgt rund 7%.
Und warum nimmt der Faktor, der die Laufzeitunterschiede zwischen Alt und Jung bzw. Frauen und Männern beschreibt, von der Spitze bis zum Ende des Felds überhaupt ab? Hier kann man nur spekulieren, denn es gibt keine prospektive Studie, die das jemals untersucht hätte. Hierzu müsste man Männern und Frauen unterschiedlichen Alters einem identischem Training unterziehen, damit man den Faktor der Leistungsausschöpfung eliminieren kann. Ein sehr schwieriges Unterfangen …
So bleiben nur Interpretationsversuche. Zaworsky hat zum Beispiel die Tatsache, dass der Leistungsrückgang bei Spitzensportlerinnen ab 50 Jahren deutlich stärker ausgeprägt ist als bei Freizeitsportlerinnen, mit hormonellen Unterschieden zwischen Spitzen- und Freizeitsportlerinnen begründet. Das ist möglich, erklärt aber nicht, warum auch bei Männern die Altersabhängigkeit bei den Freizeitsportlern geringer ist als bei Spitzensportlern …
Ein weiterer Erklärungsansatz: Gewichtete Selektion. Dies ist sehr schön zu sehen beim Einfluss des Alters: Die teilnehmerstärkste Altersklasse ist die der 40-44-jährigen. Danach nimmt die Größe der Altersklassen ab, und ab 60 Jahren ist diese Abnahme besonders drastisch. Doch ist bei den älteren Teilnehmern die Zusammensetzung des Teilnehmerfelds verschoben: Einen Ultramarathon trauen sich in diesem Alter nur noch die fitten Läufer zu, diejenigen, die den Sport schon seit Jahrzehnten betreiben. Die anderen laufen entweder gar nicht mehr oder wenn sie es tun, dann auf kürzeren Strecken. Dies mildert den erwarteten Leistungsabfall mit dem Alter ab.
Dazu kommt: Je weiter man sich von den Spitzenzeiten entfernt, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Leistungsmöglichkeiten (deterministische Faktoren) durch eine suboptimale Vorbereitung (beeinflussbare Faktoren) nicht voll ausgeschöpft wurden. Wie in Abbildung 2 angedeutet, mischen sich hier beide Einflussfaktoren, wovon der deterministische – per Definition – eine Alters- und Geschlechtsabhängigkeit beinhaltet, der andere nicht. Nimmt man also an, dass eine individuelle sportliche Leistung immer von den beiden Faktoren – der Leistungsmöglichkeit und der Leistungsausschöpfung – bestimmt ist, so sind die Ergebnisse der Untersuchungen zu den Alters- und Geschlechtsunterschieden im Marathon und Ultramarathon eigentlich zu erwarten.
Nein, aber …
Zurück zur Ausgangsfrage: Bestimmt ausschließlich die Fitness, ob man einen Cutoff schafft oder nicht? Die Antwort: Nein. Alle Untersuchungen zeigen, dass im Mittelfeld bzw. am Ende des Felds der Einfluss von Geschlecht und Alter zwar weniger prägend, aber immer noch vorhanden ist.
Eines muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden: Wir sprechen meist nicht über den Cutoff von Karwendelmarsch oder Millau, viel relevanter sind die Cutoffs von UTMB, Western States, Großglockner Ultra oder ZUT. Und deren Cutoffs sind – wie in Tabelle 2 gezeigt – nun mal sehr viel strenger. Das heißt: Um zu untersuchen, welche Rolle Alter und Geschlecht für das Erreichen des Cutoffs spielen, darf man nicht die Läufer und Läuferinnen betrachten, die beim Millau 100k oder beim Karwendelmarsch am Ende des Feldes laufen, man müsste eher Läufer im hinteren Mittelfeld betrachten – mathematisch gesprochen in etwa das 75% Perzentil. Hier ist – bei gemessenen Geschlechterunterschieden von ca. 12-13% und einem Laufzeitunterschied zwischen Jung und Alt von über 25% - der Einfluss der deterministischen Faktoren noch sehr viel ausgeprägter.
Und gleichzeitig enthält die Aussage, dass beim Kampf gegen den Cutoff nur die Fitness ausschlaggebend ist, auch ein Körnchen Wahrheit: Denn bei denjenigen, die dem Cutoff davonzulaufen versuchen, dürfte häufig die Leistungsfähigkeit nicht vollständig ausgeschöpft sein – wie bei den meisten Freizeitathleten und -athletinnen. Ausgenommen davon sind natürlich Läuferinnen und Läufer höheren Alters, vor allem in Rennen mit sehr anspruchsvollem Cutoff.
Bei den meisten anderen aber könnte die Leistung durch ein optimiertes Training, bessere Wettkampfeinteilung, unspezifische (z.B. Ernährung, Gewichtsabnahme) oder spezifische Vorbereitung positiv beeinflusst werden. Forscher der Universität Cambridge haben beispielsweise festgestellt, dass sich im Feld von Marathonläufern zwischen Spitze und hinterem Läuferfeld große Unterschiede im Training auftun: Das Trainingsvolumen (Kilometer pro Woche, Einheiten pro Woche, längster in der Vorbereitung durchgeführte Lauf) war bei den Spitzenläufern deutlich höher als in der Mitte oder am Ende des Felds. In gewisser Weise ist das ein Henne-Ei-Problem: Laufen die Läufer und Läuferinnen am Ende des Feldes so langsam, weil sie weniger trainieren? Oder trainieren sie weniger, weil sie nicht die Voraussetzungen haben, das Laufprogramm der Elite zu verkraften? – Wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte. Während es bestimmte Läufer gibt, die aus physiologischen Gründen das Trainingsvolumen reduzieren müssen – hierzu zählen beispielsweise ältere Läufer mit bekanntermaßen verlängerten Regenerationszeiten – würden andere von einer Erhöhung von Trainingsvolumen oder -intensität profitieren.
Und eine weitere Sache muss hervorgehoben werden: Wenn es darum geht, Alters- und Geschlechtsunterschiede hinsichtlich Leistungsfähigkeit zu kompensieren, können weder Ältere noch Frauen auf Vorteile bei der Trainingswirkung hoffen: In einer Studie aus dem Jahr 1985 wurde gezeigt, dass die Veränderung von VO2max auf Trainingsreize weder vom Alter noch vom Geschlecht beeinflusst wird.
Zum Schluss an alle, die mit den und gegen die Cutoffs kämpfen: Weniger hadern – mehr oder besser trainieren! In diesem Sinne: See you on the trails!
Zum Thema "Frauen im Trail- und Ultrarunning" sind bereits mehrere Artikel in der Serie "Der XX-Faktor im Ultrarunning" erschienen.
Zu Teil 1: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mythen
Zu Teil 2:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: Dabei sein ist alles
Zu Teil 3:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: Zwischen den Ohren
Zu Teil 4:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mit zweierlei Maß
Zu Teil 5:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: Eine Sache der Werte
Zu Teil 6:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: The Why
Außerdem gibt es folgende weiterführende Artikel zum Thema:
Kommentare
Kommentar veröffentlichen