von Sabine
Seit vergangenem Samstag läuft der Big Dog’s Backyard Ultra – die Einzelweltmeisterschaft in dieser Disziplin. Gesucht wird: die "Last Person Standing". Oder doch eher der "Last Man Standing"? Denn bei einem Blick in die Startliste frage ich mich: Wo sind die Frauen?
In einem Feld von 75 AthletInnen aus aller Welt treten gerade mal 4 Frauen an: Die Österreicherin Angelika Huemer-Toff, die 2022 bei der Teamweltmeisterschaft das Event in Österreich gewonnen hat, Jennifer Russo (USA), die im Mai diesen Jahres beim Capital Backyard Ultra 74 yards gelaufen ist – mehr als jede Frau vor ihr -, daneben die Französin Claire Bannwarth und die Kanadierin Amanda Nelson. Vier von 75 – das ist eine Quote von 5%. Weitaus weniger als die Frauenquote der meisten Ultraläufe. Selbst der für einen notorisch niedrigen Frauenanteil bekannte UTMB kommt auf eine Quote von 12% Frauen, beim Western States stellten Frauen in diesem Jahr 26% des Starterfelds.
Wie kommt das? Interessieren sich Läuferinnen nicht für den Austragungsmodus
des Backyard Ultra? Ist ein Rennen, bei dem es weder eine eindeutige Ziellinie
noch einen klaren Zeitrahmen gibt, für Frauen weniger attraktiv?
Ein problematischer Qualifikationsmodus und ein Mythos
Tatsächlich nehmen an Backyard Ultra-Veranstaltungen im Durchschnitt etwas weniger Frauen teil als an anderen Ultra-Veranstaltungen. Schaut man sich beispielsweise die Silver- und Bronze-Label Backyards in den USA an, so ist die Frauenquote im Durchschnitt 19% – deutlich niedriger als die Quote von 32% bei den übrigen Ultra(trail)läufen. Ein ähnliches Bild zeigt die DACH-Region: 14% (Backyards) gegenüber 22% für andere Ultraläufe. In Frankreich dagegen weicht die Frauenquote beim Backyard (12%) kaum von der von anderen Rennen (14%) ab.
Mangelndes Interesse kann also die extrem geringe Frauenbeteiligung am Big’s Backyard Ultra nicht erklären - dann müsste auch die Frauenquote bei den anderen Backyard Ultras ähnlich niedrig sein wie beim Big's Backyard. Für den "Frauenschwund" verantwortlich ist vielmehr ein problematischer Qualifikationsmodus, der wohl immer noch einem Mythos aufsitzt.
Zur Einzelweltmeisterschaft im Backyard Ultra, die alle zwei Jahre stattfindet, werden zum einen die Gewinner der nationalen Backyard-Wettkämpfe im Rahmen der Teamweltmeisterschaften eingeladen – in diesem Jahr wurden darüber 33 Startplätze besetzt, darunter eine Frau (=3%). Der Rest der 75 Startplätze wird durch die sogenannte At-Large Liste aufgefüllt, das sind die Top-Leistungen des 2-jährigen Qualifikationszeitrahmens (in diesem Jahr vom 16.8.2021 bis 15.8.2023), ungeachtet der Tatsache, ob es sich um Sieger, Assists (="erste Verlierer") oder andere Läufer bei Backyard Ultras weltweit handelt. Von den 42 so vergebenen Startplätzen gingen 3 (=7%) an Frauen.
Bei der Qualifikation zum Backyard Ultra werden Männer und Frauen zusammen gewertet. Es wird also praktisch davon ausgegangen, dass Männer und Frauen beim Backyard Ultra die gleiche Leistung bringen können – oder anders gesagt: Dass der Leistungsvorteil von 10-20%, den Männer bei allen Laufdisziplinen vom 100 Meter Lauf bis hin zum Ultramarathon haben (->Artikel), beim Backyard Ultra nicht existiert.
Tatsächlich ergingen sich viele Kommentare nach den Siegen von Maggi Guterl 2019 und von Courtney Dauwalter 2020 beim Big’s Backyard Ultra (übrigens damals noch ohne Qualifikationssystem!) in Spekulationen: Dass es beim Backyard Ultra nicht auf Schnelligkeit ankommt, sondern vor allem auf Durchhaltevermögen – also eher auf eine psychische Leistungskomponente. Und dass es da wohl keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt oder Frauen sogar einen Vorteil haben.
Nach dem Sieg von Maggie Guterl 2019 sagte der Rennveranstalter Gary Cantrell: „Bei anderen Backyard Ultras gibt es eine Männer- und eine Frauendivision, wodurch die Frauen benachteiligt werden. Jeder will eine Chance auf den Sieg haben, und nicht nur auf den Sieg in der Frauenklasse. Von allen Rennformaten ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen beim Backyard Ultra am kleinsten, beide sind auf gleicher Augenhöhe.“
Alles Spekulationen! Denn die Tatsachen zeigen in eine andere Richtung. Die Weltrekorde auf den Strecken von 100 Metern bis zum Marathon weisen einen Leistungsunterschied zwischen Männern und Frauen von durchschnittlich 11% auf. Beim Ultramarathon streut der Leistungsunterschied etwas mehr und beträgt zwischen 7,5% und 18,3% (siehe Tabelle 1). Die derzeitigen Bestleistungen beim Backyard Ultra betragen 102 Yards bei den Männern (Phil Gore) und 74 Yards bei den Frauen (Jeniffer Russo). Das ist ein Leistungsunterschied von 38%!
Leistungsunterschiede zwischen Männern und Frauen in
unterschiedlichen Ultralauf-Disziplinen - berechnet aus den
derzeitigen Weltrekorden. |
Ein zweites Indiz, dass Gary Cantrell mit seiner Einschätzung ordentlich danebenliegt, zeigt einen Blick in die Siegerliste der Team WM von 2023: An den insgesamt 36 Einzelevents nahmen 522 AthletInnen teil, darunter 63 (=12%) Frauen. Wären nun beim Backyard Männer und Frauen tatsächlich auf gleicher Augenhöhe, dann würde man erwarten, dass etwa 12% der Einzelevents, also in etwa 4 Events, von Frauen gewonnen werden. Tatsächlich gab es nur in einem Event (Österreich) eine Siegerin.
Ginge es hier um Wissenschaft, so würde man sagen: Die Hypothese von Gary Cantrell, dass Frauen und Männer beim Backyard auf Augenhöhe sind, wurde empirisch widerlegt.
Und die Konsequenzen?
In dem sehr lesenswerten Artikel „Beating the Boys“ hat Zoe Rom, Chefredakteurin des amerikanischen Magazins „Trailrunner“, festgestellt, dass über die Leistungen von Läuferinnen vor allem dann berichtet wird, wenn sie auch alle Männer hinter sich lassen und den Gesamtsieg erringen. Sie schreibt: „Großartig zu sein sollte nicht bedeuten, dass man Leistungen vollbringt, die über die Geschlechterkategorien hinausgehen. Das kann das falsche Gefühl verstärken, dass Männer die Benchmark sind ... Beruflich, persönlich und vor allem sportlich werden Frauen ständig an Männern gemessen, und zwar in einer Weise, die nicht hilfreich ist.“
Die äußerst geringe Zahl von Frauen bei den Einzelweltmeisterschaften im Backyard Ultra ist also nicht nur ein numerisches Problem. Mit der oben zitierten Aussage von Gary Cantrell negiert er nicht nur die sportphysiologischen Unterschiede von Männern und Frauen, er impliziert auch, dass der Sieg in der Frauenkategorie weniger Wert ist als ein Gesamtsieg. Dem ist aber nicht so. Ist Courtney Dauwalter’s Sieg beim Moab 240, bei dem sie alle anderen – auch die Männer – weit hinter sich ließ, höher zu werten als ihr Sieg mit Streckenrekord beim Western States, wo fünf Männer vor ihr ins Ziel kamen? Wie gut oder schlecht das Männerfeld ist, ändert doch nichts an der Exzellenz einer Leistung einer Frau!
Es ist zu hoffen, dass den Organisatoren der Backyard Ultra Veranstaltungen die Problematik bald auffällt und sie sich eher von der Evidenz als von (widerlegten) Hypothesen leiten lassen.
Dabei muss man das Qualifikationssystem gar nicht kompliziert machen. Es braucht keine Frauenquoten. Es braucht keine separaten Wettkämpfe. Es braucht einfach nur zwei Wertungen. Da die meisten Backyard Ultras ein eher kleineres Teilnehmerfeld haben, sollte der Wettkampf selbst aber gemeinsam ausgetragen werden, d.h. es sollte auch möglich sein, dass Frauen der Assist für Männer und Männer der Assist für Frauen sind. Wichtig wäre lediglich, dass am Ende ein "Last Man Standing" und eine "Last Woman Standing" gekürt wird.
Einer der Gründungsmythen des Backyard Ultra besagt, dass die Idee für dieses Rennen dem Buch „The long walk“ von Stephen King entstammt: Eine Gruppe von hundert Freiwilligen geht auf einen Marsch, bei dem jeder, der langsamer wird als 4 Meilen pro Stunde, erschossen wird; dem letzten Überlebenden wird lebenslanger Luxus versprochen. Was auffällt: Alle Protagonisten in Steven King’s Buch sind Männer. Es wäre schade, wenn das irgendwann auch beim Backyard Ultra so wäre.
Zum Thema "Frauen im Trail- und Ultrarunning" sind bereits mehrere Artikel in der Serie "Der XX-Faktor im Ultrarunning" erschienen.
Zu Teil 1: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mythen
Zu Teil 2:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: Dabei sein ist alles
Zu Teil 3:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: Zwischen den Ohren
Zu Teil 4:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mit zweierlei Maß
Zu Teil 5:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: Eine Sache der Werte
Zu Teil 6:
Der XX-Faktor im Ultrarunning: The Why
Außerdem gibt es folgende weiterführende Artikel zum Thema:
- (Un)sichtbare Heldinnen: Der Gender Performance Gap im Ultrarunning
- FAKTENCHECK: Einfluss von Alter und Geschlecht auf die Laufleistung im
Ultramarathon
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