Der ITRA-Score. Oder: Wie man es schafft, im Trailrunning Äpfel und Birnen zu vergleichen ...

 


von Sabine

 

Anfang dieser Woche ging eine Meldung durch die sozialen Medien: Hannes Namberger hat bei seinem Rekordlauf beim Pitz Alpine den höchsten ITRA Score erreicht, den jemals ein deutscher Läufer erzielt hat: 914 Punkte gab’s für diese Bestleistung. 


An dieser Stelle haben sich einige gefragt: Was genau ist jetzt der ITRA Score? Tatsächlich ist es nicht einfach, sich bei den von der ITRA definierten Indizes zurechtzufinden. Den meisten sind die ITRA Points bekannt – vor allem als Qualifikationspunkte für den UTMB: Bei den einen begehrt, bei den anderen verhasst. Doch von vielen unbemerkt hat die rege Statistikabteilung der ITRA zwei weitere Kennzahlen geschaffen, die helfen sollen, die Leistungen der Athletinnen und Athleten zu quantifizieren und zu klassifizieren: Den ITRA Score und den ITRA Performance Index. Damit sollte die Basis geschaffen werden, Leistungen auf unterschiedlichen Trailstrecken miteinander zu vergleichen. Und ein solcher Vergleich ist für Trailrunning als Wettkampfsport durchaus interessant.
 

Interessant ist auch, sich mal anzuschauen, welches die besten Leistungen waren, die auf dem Trail jemals erbracht wurden – deutschlandweit und weltweit. Wer möchte, kann jetzt schon mal raten, welcher Läufer und welche Läuferin bei welchem Event die beste Leistung abgeliefert hat, die die Trailrunning-Welt jemals gesehen hat …


Doch zuerst mal zur Definition der drei Kenngrößen, die von der ITRA ausgewiesen werden.


 

ITRA Points, ITRA Score, ITRA Performance Index

 
Trailrunning ist – mathematisch gesehen – eine harte Nuss, wenn es darum geht, Strecken und Leistungen zu vergleichen. Sicher, es gibt auch beim Straßenlauf schnellere und weniger schnelle Strecken– hier entscheidet beispielsweise die Zahl von Ecken bzw. scharfen Kurven, die Windanfälligkeit sowie das vorherrschende Klima zum Zeitpunkt der Austragung. Aber beim Trailrunning sind die Unterschiede von Strecke zu Strecke deutlich größer. Hier kommt es auf die Höhenmeter an und auf die Art und Weise, wie diese Höhenmeter verteilt sind: Gibt es lange, steile An- und Abstiege oder handelt es sich um ein hügliges Gelände mit ständig wechselnder, moderater Steigung? Außerdem spielt der Laufuntergrund eine entscheidende Rolle: Sind die Wege breit und eben, oder ist das Gelände technisch? Das Spektrum reicht hier vom Landschaftslauf bis zum sogenannten Skyrunning. Und schließlich gibt es im Trailrunning keine definierte, „klassische“ Streckenlänge: Das Spektrum reicht vom kurzen 10km Trail oder Berglauf bis hin zu den ganz langen Kanten wie Tor des Geants oder Spine Race, bei denen man mehr als 300 km zurücklegt. Man würde also immer Äpfel mit Birnen vergleichen, wenn man einfach die Laufzeiten aus zwei Trailrennen nebeneinanderstellen würde.
 

Um genau diese Äpfel und Birnen vergleichbar zu machen, hat die ITRA ein mehrstufiges Verfahren gewählt. 

  • ITRA Points: Mit diesen Punkten klassifiziert die ITRA die Wettkampfstrecken. Hierfür berechnet sie zunächst mal über eine einfache Formel die flache Äquivalenzstrecke, die die gleiche Leistung erfordern würde wie die tatsächliche Wettkampfstrecke. Diese Äquivalenzstrecke, bei der ITRA „km_effort“ genannt, berechnet sich als:

Von diesem km_effort können dann „Strafpunkte“ abgezogen werden, wenn beispielsweise der durchschnittliche Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Verpflegungsstationen kleiner als 15 km_effort-Punkte ist oder wenn die Strecke aus mehr als zwei identischen Runden besteht. Die nach Abzug der Strafpunkte resultierenden km_effort werden dann dem Rennen zwischen 0 und 6 ITRA-Points zugeteilt (entsprechend einer Rennlängen-Kategorie von XXS bis XXL).

Nicht in jedem Rennen bekommt man automatisch ITRA-Punkte. Damit eine Evaluation der Strecke und eine Zuteilung von ITRA Punkten erfolgt, muss die veranstaltende Organisation Mitglied der ITRA sein oder 100 Euro pro Rennen für die Evaluation bezahlen. Gerade in Deutschland gibt es nur einige wenige Veranstaltungen, bei denen man sich ITRA-Punkte verdienen kann. Umgekehrt sind die meisten Veranstaltungen, die ITRA-Punkte vergeben, auch auf der Liste der Qualifikationsrennen für den UTMB.  Für Läufer bedeuten ITRA-Punkte daher, dass sie die entsprechende Zahl von UTMB-Qualifikationspunkten erhalten.  

  • ITRA Score: Der Score bewertet eine individuelle Leistung eines Läufers oder einer Läuferin bei einem Rennen. Hierzu wird zunächst aus der Streckenlänge und den Höhenmetern die flache Äquivalenzstrecke errechnet, die die gleiche Leistung erfordern würde wie die tatsächliche Wettkampfstrecke. Anders als beim km_effort zur Berechnung der ITRA-Punkte, die ja auch der Berechnung einer Äquivalenzstrecke dient, ist die exakte Formel für diese Umrechnung proprietär und wird von der ITRA nicht veröffentlicht. In einem zweiten Schritt wird für jedes Rennen ein Korrekturfaktor verwendet, der den technischen Anspruch der Strecke sowie die Gesamtstreckenlänge kompensieren soll. Auch dieser Korrekturalgorithmus ist proprietär. Laut Angabe der ITRA ist der Algorithmus histogrammbasiert: Es wird die Häufigkeitsverteilung der Finisherzeiten des betreffenden Rennens mit einem aus der Gesamtdatenbank der Finisherzeiten gewonnenen „Standard“ verglichen. Auf Basis der derzeitigen Weltrekordzeiten wird dann eine minimal mögliche Laufzeit angenommen, für die es 1000 Punkte geben würde.  Der Score wird dann nach folgender Formel berechnet:
Dabei ist KV der Korrekturfaktor (Einheit: h/km) und ÄqDist die Länge einer flachen Strecke, die die gleiche Leistung erfordern würde wie die tatsächliche Wettkampfstrecke. Der Korrekturfaktor ist dabei umso höher, je technischer bzw. schwieriger die Strecke ist. Dieser Faktor bleibt auch über die Zeit konstant; nur bei Streckenänderungen wird er entsprechend neu berechnet und angepasst.

Der ITRA-Score liegt zwischen 0 und 1000 – je höher der Score, umso höher ist die Leistung zu bewerten.

Damit für eine Leistung ein ITRA Score berechnet wird, muss der Veranstalter die Ergebnisliste bei der ITRA in einem speziellen Format einreichen.

Der ITRA-Score ist umgekehrt proportional zur Laufzeit. Aus der Steigung lassen sich die Korrekturfaktoren berechnen, die bei der Berechnung der Scores die Schwierigkeit der Strecke repräsentieren.


  • ITRA Performance Index: Der Performance Index bewertet die aktuelle Form des Athleten / der Athletin auf Basis der erbrachten/von der ITRA registrierten Leistungen. Aus den (maximal) fünf besten Scores der vergangenen drei Jahre wird ein gewichtetes Mittel berechnet. Eine Gewichtung erfolgt zum einen hinsichtlich des Scores: Die besten Scores werden höher gewertet als die schlechteren. Zum anderen fallen die aktuelleren Scores mehr ins Gewicht als diejenigen, die schon länger zurückliegen. Für jede Streckenkategorie (XXS bis XXL) wird, sofern man mindestens eine Leistung in den letzten drei Jahren zu Buche stehen hat, ein Performance Index berechnet, dazu kommt der Gesamtindex, der alle Streckenlängen berücksichtigt. Auch hier ist, wie beim ITRA-Score, der exakte Berechnungsalgorithmus proprietär.

Der Performance Index ist nicht nur für die Beurteilung der eigenen Leistungsentwicklung interessant, er ermöglicht Eliteathleten bei einigen Rennen auch den Zugriff auf reservierte Startplätze.  Derzeit ist wegen der vielen Corona-bedingten Rennabsagen der Performance Index „eingefroren“. Das heißt, der Performance Index bleibt bis 31.12.2020 auf dem Stand vom 1.3.2020, auch wenn der Athlet/die Athletin in dieser Zeit Rennen absolviert hat, die mit einem ITRA Score versehen sind. Ab 1.1.2021 soll dann wieder die ursprüngliche Berechnung (Berechnung auf Basis der Scores der  letzten 3 Jahre) gelten.


Da steckt schon ganz schön viel Mathematik in den einzelnen Indizes – und leider werden die präzisen Algorithmen nicht offengelegt. Und dennoch hat die Statistik-Abteilung der ITRA hier gute und recht zuverlässige Instrumente geschaffen.



Ein Blick in die Trailrunning-Geschichte lohnt …
 

Machen wir den Systemtest: Wer hat die besten Scores in Deutschland erzielt? Den Besten bei den Männern kennen wir ja schon: Hannes Namberger. Die folgenden Tabellen präsentieren die Top 10 Leistungen bei den Männern und Frauen entsprechend der ITRA Scores. Berücksichtigt wurden dabei alle Leistungen aus den Jahren 2017 bis 2019, sowie die wenigen Leistungen aus dem Corona-Jahr 2020. Außerdem sind nur Leistungen aus den ITRA Kategorien XS-XXL aufgeführt, da die Kategorie XXS meist Bergläufe beinhaltet – und das ist eigentlich eine andere Disziplin.



 

Bei Männern liegen an der Spitze zwei Leistungen sehr nah zusammen: Stefan Hugenschmidt’s Sieg beim Eiger Ultra 2017 und Hannes Nambergers Rekordlauf beim Pitz Alpine 2020. Außerdem stammen in den Top 10 vier Leistungen (von drei unterschiedlichen Läufern) aus 2019 oder 2020 – das lässt Hoffnung aufkommen, dass auch 2021 das Niveau ähnlich hoch gehalten oder noch gesteigert werden kann.
 

Bei den Frauen sieht es etwas anders aus. Hier gibt es in den Top 10 aus 2019/2020 nur Leistungen von einer Athletin: Eva Sperger. Ansonsten ist 5 Mal Michelle Maier vertreten. Sie hat,  seitdem sie 2016 aus dem Nationalkader verbannt wurde, hervorragenden Lauf nach dem anderen abgeliefert  – allerdings war sie seit der Saison 2019 verletzt. Ganz oben: Die inzwischen für Deutschland startende und in der Schweiz lebende Britin Julia Bleasdale mit ihrem Lauf beim Swissalpine Irontrail T88 2018. Sie war zuvor auf der Bahn zu Hause und legte 2019 eine Baby-Pause ein.

 

Kommen wir nun zu den internationalen Top 10 aller Zeiten.  Als ich in den letzten Tagen in den sozialen Medien die Frage stellte, wer denn wohl den höchsten jemals erzielten ITRA-Score erzielt hat, wurden die „üblichen Verdächtigen“ genannt – allerdings nur aktive Athleten: Jim Walmsley, Kilian Jornet, Davide Magnini. Kein Wunder, denn man hat das Gefühl, dass in den letzten Jahren ein Streckenrekord nach dem anderen fällt. Daher muss doch auch der höchste ITRA-Score noch ganz „frisch“ sein.
 



Dabei vergisst man, dass es schon Ausnahmeathletinnen und -athleten gegeben hat, als Trailrunning noch in den Kinderschuhen steckte. Eine solche absolute Ausnahmeleistung bot Matt Carpenter 1993 beim Pikes Peak Marathon. Damals siegte der heute in Manitou Springs, Colorado, lebende Läufer in 3:16:39 – eine Zeit, die selbst Kilian Jornet 2019 um mehr als 10 Minuten verfehlte,  und das wenige Wochen nach seinem Rekordlauf beim Sierre Zinal. Wenn ein Rekord bei einem solch renommierten Rennen 27 Jahre Bestand hat, dann muss es eine Ausnahmeleistung gewesen sein – und genau das bestätigt auch der ITRA-Score. Interessanterweise stellte Carpenter zwölf Jahre nach seinem Lauf beim Pikes Peak Marathon beim Leadville Trail 100 einen Streckenrekord auf (ITRA Score: 935), der ebenfalls seitdem Bestand hat.
 

Auch bei den Frauen steht eine Leistung ganz oben in der Liste, die viele nicht mehr auf dem Schirm haben: Der Sieg von Rory Bosio beim UTMB 2013 – mit dem immer noch bestehenden Streckenrekord von 22:37:26. Auch dieser Lauf der Kinder-Intensivkrankenschwester aus Truckee, Kalifornien, ist eine absolute Ausnahmeleistung. Dies zeigt zum einen die Tatsache, dass Rory es schaffte, beim  UTMB 2013 in die Top 10 in der Gesamtwertung zu laufen – sie belegte schließlich Platz 7. Das schaffte vor ihr und nach ihr bislang keine andere Läuferin. Außerdem gibt es kaum ein anderes Ultra-Rennen von Weltformat, bei dem der Streckenrekord der Frauen so dicht am Streckenrekord der Männer (20:11:44; Francois d’Haene 2014) liegt. Unvergessen ist für mich immer noch die Szene, als Catherine Poletti die völlig ausgepowerte Rory Bosio gnadenlos im Ziel auf eine Ehrenrunde zwingen wollte und ihr nicht einmal eine Minute Ruhe gönnte …

Interessant ist auch ein Vergleich der beiden Top 10 Listen: Während bei den Männern nur 5 Läufer die zehn besten Leistungen erzielt haben – Jim Walmsley ist viermal vertreten, Kilian Jornet dreimal und Matt Carpenter zweimal – sind auf der Liste der Frauen insgesamt 9 unterschiedliche Läuferinnen zu finden. Die absolute Spitze scheint hier breiter zu sein als bei den Männern.


Das Fazit: Die Berechnung des ITRA Scores ist zwar recht komplex und nur in Ansätzen transparent, aber er ermöglicht tatsächlich, im breiten Spektrum der Trailrennen Leistungen zu vergleichen. Ein Verdienst der ITRA-Statistiker, die in den letzten Jahren immer noch an ihren Kenngrößen gefeilt haben. 


Ein Problem haben ITRA Score und ITRA Performance Index allerdings: Viele Rennen/Leistungen werden nicht bewertet. Denn es gibt immer noch viele Organisatoren, die sich nicht der ITRA angeschlossen haben und nicht mit der ITRA zusammenarbeiten – vor allem aufgrund der personellen Verflechtungen zwischen der non-profit Organisation ITRA und den gewinnorientierten Unternehmen UTMB/UTWT. Es ist zu hoffen, dass sich unter dem neuen ITRA-Präsidenten Bob Crowley die Situation ändert. Aber das ist ein Thema für einen anderen Blogpost …
 

 See you on the trails!




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