Der XX-Faktor im Ultrarunning – Teil 6: The Why




von Sabine
 

Am 16. Juli 2016 kurz vor 5 Uhr morgens stand in dem kleinen Örtchen Silverton eine ganz beachtliche Menschenmenge auf der Straße, um den Sieger des Hardrock 100 im Ziel zu empfangen. Aber dann bogen um die Ecke von 14th Street und Reese Street zwei Läufer: Kilian Jornet und Jason Schlarb. Keiner von ihnen beschleunigte, keiner versuchte den anderen auf den letzten 100 Metern abzuhängen. Im Gegenteil: Fast im Gleichschritt ging es Richtung Ziel, und die beiden überschritten die Ziellinie Hand in Hand. Nach den anfänglichen Glückwünschen mussten sie sich einige Fragen gefallen lassen, warum sie den Sieg nicht bis zum Ende ausgefochten haben. Und dass aus diesen kritischen Fragen kein veritabler Shitstorm wurde, lag vor allem an der Bekanntheit, aber auch an der Beliebtheit von Kilian Jornet. Der sagte immer wieder – so oft es die Journalisten und Podcaster hören wollten: Der Plan entstand nach dem letzten langen Anstieg. Als sich auch dort keiner der beiden entscheidend absetzen konnte, vereinbarten sie, miteinander zu arbeiten statt gegeneinander. Ihr neues Ziel: unter 23 Stunden zu bleiben. Und das gelang ihnen auch. Dass nach 100 Meilen und dieser gemeinsamen Schlussanstrengung einer von beiden auf der Zielgeraden davonsprinten könnte, fanden beide absurd. Ihnen ging es nicht um den Sieg über den anderen, sondern um den Sieg über die Strecke und den Sieg gegen die Uhr. Den hatten sie schließlich gemeinsam errungen. Mit ihrer Geste haben Kilian Jornet und Jason Schlarb letztendlich denen widersprochen, die – oftmals lautstark – die Anschauung vertreten: Wenn man an einem Wettkampf teilnimmt, dann kämpft man um den Sieg oder um einen Platz … und das unbedingt und bis zur letzten Minute. Eine Auffassung, die z.B. auch die Internationale Triathlon Union teilt: Sie hat erst vor kurzem zwei Athleten disqualifiziert, nachdem sie beim Triathlon in Tokio gemeinsam und Hand in Hand ins Ziel gelaufen waren.



Warum laufen wir?

Ultraläufer laufen. Viel. So weit – so klar. Aber warum laufen wir? Weil wir Bewegung lieben? Weil wir gerne in der Natur sind? Oder doch eher, weil wir gewinnen oder zumindest am Ende auf dem Siegerpodest stehen wollen? Ein weiterer Aspekt kommt in den Fokus, je länger die Strecke ist: Wir wollen uns selbst testen. Wie weit kann ich laufen? Und was halte ich physisch – und psychisch – durch?

Es gibt so viele Gründe zu laufen …

Einige Veranstaltungen im Trail- und Ultrarunning versuchen, etwas für Läufer mit den unterschiedlichsten Motivationen zu bieten. Eine davon ist der Karwendelmarsch. Seit seiner „Wiederbelebung“ im Jahr 2009 wird er für zwei „Kategorien“ ausgetragen: Für Läufer (52km) und Marschierer (52km und 35km).

Nun ist beim Trailrunning die Grenze zwischen Laufen und Marschieren eher verwaschen: Gerade in den Bergen marschieren die Läufer an steilen Steigungen, weil es ökonomischer ist … und manch ein Marschierer läuft auch – das verraten zumindest die Laufzeiten. Im Wettkampfreglement des Karwendelmarschs ist bei beiden Kategorien Laufen und Gehen explizit erlaubt. Strecke, Startzeit und Cutoff sind gleich, ebenso die Teilnahmegebühr.

Was aber unterscheidet dann die beiden Kategorien? Der Unterschied liegt vor allem darin, dass beim Lauf stärker der Wettkampfcharakter betont wird: Es gibt für die Läufer eine Siegerehrung und es werden Altersklassen geführt. Bei den Marschierern gibt es zwar seit 2013 eine Zeiterfassung und ein Ranking, aber auf Siegerehrung und Altersklassenauszeichnung wird verzichtet. Der Lauf ist also eher wettkampforientiert (Sieg, Platzierung), während der Marsch stärker leistungsorientiert ist (Finish, Gehzeit). In beiden Kategorien haben sich seit 2009 die Teilnehmerzahlen vervielfacht – aber eines ist deutlich: Die Quote der weiblichen Teilnehmer ist beim Karwendelmarsch sehr viel höher als beim Karwendellauf.


Abbildung 1. Links: Anteil der Frauen bezogen auf die Gesamtteilnehmerzahl beim Karwendelmarsch bzw. Karwendellauf. Beim Karwendelmarsch nehmen prozentual signifikant mehr Frauen teil als beim Karwendellauf. Rechts: Siegzeiten beim Karwendelmarsch bzw. Karwendellauf bei Frauen und Männern. Im Durchschnitt benötigt der Sieger/die Siegerin beim Karwendelmarsch nur ca. 1:20 Stunden länger als der Sieger/die Siegerin beim Karwendellauf. Werte sind nur für den Zeitraum 2013-2018 abgebildet, da es vor 2013 keine Zeitmessung für die Marschierer gab.


Nun könnte man meinen, dass sich die Zeiten der Marschierer und der Läufer drastisch unterscheiden. Dem ist aber nicht so. Zwar sind die Marschierer im Mittel langsamer als die Läufer –der schnellste Marschierer kommt in der Regel etwa 1 Stunde und 20 Minuten nach dem ersten Läufer ins Ziel, und die Marschierer brauchen im Durchschnitt 3 Stunden länger als die Läufer – aber die Zeiten überlappen deutlich: Nicht die Leistungsfähigkeit bestimmt, ob sich die Teilnehmer des Karwendelmarschs zur Kategorie „Lauf“ oder „Marsch“ anmelden – es scheint eher davon abzuhängen, was die primäre Motivation des Teilnehmers oder der Teilnehmerin ist. Ist er/sie am Wettkampf interessiert oder primär an der Herausforderung und dem Erlebnis? Wenn dem so ist, dann suggerieren die Teilnehmerzahlen vom Karwendelmarsch, dass für Frauen die Motivation im Mittel mehr in der persönlichen Herausforderung besteht als im Wettkampf im Sinne eines Vergleichs mit den anderen Läuferinnen und Läufern.

Nach dem Vorbild des Karwendelmarschs werden seit dem letzten Jahr auch bei der Mountainman-Serie Wettbewerbe mit relaxten Cutoffs angeboten, bei denen man sowohl als Läufer als auch als Wanderer auf die Strecke gehen kann. Hier wird unterschieden zwischen der S-Strecke (8-15km, bis 1000 Höhenmeter), M-Strecke (15-25km, bis 1500 HM), L-Strecke (30-40km, bis 2000 HM) und XL-Strecke (40-55km, bis 2500 HM). Beides gibt es als Lauf- und Wanderstrecken – wie beim Karwendelmarsch mit gleicher Startzeit, gleichem Cutoff, gleicher Strecke, gleicher Teilnahmegebühr. Sowohl für Läufer als auch Wanderer gibt es eine Zeitmessung, bei den Wanderern gibt es allerdings kein Ranking. Und dieser kleine, aber feine Unterschied hat einen riesigen Effekt: Während bei den Laufstrecken die prozentuale Beteiligung der Frauen von S nach XL abnimmt, wie man es auch bei anderen Trail-Festivals kennt, sind bei den Wanderern selbst auf der XL-Strecke fast die Hälfte der Teilnehmer Frauen. Von einer solchen Frauenquote würden andere Ultraveranstaltungen nur träumen.


Abbildung 2: Anteil der Frauen bezogen auf die Gesamtteilnehmerzahl bei den Mountainman-Veranstaltungen 2019 in Abhängigkeit von der Streckenlänge (S, M, L, XL). Während bei der Kategorie „Läufer“ der Anteil der Frauen mit zunehmender Streckenlänge von 67% (Strecke S) auf 19% (Strecke XL) abnimmt, stellen in der Kategorie „Wanderer“ selbst auf der XL-Strecke die Frauen immer noch 45% der Teilnehmer.


Aber kann man überhaupt davon ausgehen, dass Wanderer/Marschierer weniger wettkampforientierte Trailrunner sind? Sicher nicht. Nach meiner eigenen Erfahrung gibt es sowohl beim Karwendelmarsch als auch beim Mountainman viele Wanderer/Marschierer in traditioneller Wanderkleidung, denen es nicht im Traum einfallen würde, in Spandex und grellbunten Trailrunning-Schuhen durch die Berge zu hüpfen.  Aber es gibt auch die Teilnehmer, denen man schon an ihrer Ausrüstung ansieht, dass sie sich eher zu den Trailrunnern zählen würden.

Wegen dieser Gemengelage können die Zahlen vom Karwendelmarsch und Mountainman nur einen ersten Hinweis geben; es wäre aber zu weit gegriffen, damit beweisen zu wollen, dass Männer stärker am Wettkampf interessiert sind als Frauen.



Wettbewerb oder persönliche Herausforderung?

Und trotzdem deutet vieles darauf hin, daß Frauen und Männer in unterschiedlichem Maße den vergleichenden Wettkampf suchen. Diese Beobachtungen sind im Einklang mit einer Vielzahl von psychologischen und ökonomischen Studien, bei denen genau dies untersucht wurde. Lise Vesterlund und Muriel Niederle haben in ihrem klassischen Rechenexperiment gezeigt, dass Männer – anders als Frauen - auch dann noch den Wettkampf suchen, wenn sie gar keine Chance haben, das heißt: Wenn es sich für sie ökonomisch nicht rechnet.

Aber auch beim Laufsport hat man ähnliche Beobachtungen gemacht: Der Ökonom Rodney Garrat und die Verhaltensforscherin Catherine Weinberger haben ihre Untersuchung im Gegensatz zu Vesterlund und Niederle nicht im Labor, sondern sozusagen auf der Straße durchgeführt: Bei einem Straßenlaufwettbewerb. Die State Street Mile in Santa Barbara ist eine populäre Laufveranstaltung, die seit 1983 jährlich Anfang Juni in der kalifornischen Küstenstadt stattfindet. Dabei gibt es verschiedene Laufkategorien. Zum einen vier „Eliteläufe“ – je einen für Männer und für Frauen der „Hauptklasse“ (bis 40 Jahre) sowie je einen für Männer und Frauen der „Master“-Kategorie (d.h. 40 Jahre und älter). Diese Eliteläufe sind durchaus attraktiv, denn für die Bestplatzierten gibt es Geld zu gewinnen.  Der Zugang zu diesen Eliteläufen ist aber beschränkt: Um sich zu „qualifizieren“, muss man bei der Anmeldung angeben, dass man schneller laufen kann als die jeweilige Qualifikationszeit (die für die verschiedenen Läufe selbstverständlich unterschiedlich ist). Wichtig: man muss die Qualifikationszeit nicht vorweisen können, hier zählt nur die Selbsteinschätzung. Für diejenigen, die sich die Qualifikationszeiten nicht zutrauen oder wer einfach keine Lust haben, in den hochkompetitiven Eliteläufen mitzulaufen, gibt es mehrere nach Wettkampfklassen aufgeteilte Läufe für „Age Grouper“ – deutsch: Freizeitathleten. Teilnahmegebühr und Strecke sind für Elite und Freizeitathleten gleich, für die Age Grouper gibt es aber kein Preisgeld.

Daher wäre es eigentlich vernünftig, dass alle, die die jeweilige Qualifikationszeit draufhaben, bei den Eliteläufen starten. Dem ist aber nicht immer so. Garrat und Weinberger prüften, welche Zeiten die Läufer erzielt und für welches Rennen sie sich angemeldet hatten. Sie fanden heraus, dass bei den jungen Männern, die im Rennen die Qualifikationszeit unterboten haben, tatsächlich 87% für das Eliterennen angemeldet waren. Bei den jungen Frauen waren es dagegen nur 64%. Das heißt umgekehrt: 36% aller Frauen, die eigentlich die Fähigkeiten für das Eliterennen mitbrachten, haben sich bei den Läufen der Freizeitathleten angemeldet.

Nun ist das nicht unerwartet, denn fast alle Gender-Studien zur „Competitiveness“ zeigen: Frauen setzen sich viel seltener als Männer Wettkampfsituationen aus. Garrat und Weinberger fanden aber zusätzlich einen unerwarteten Effekt: Nur 44% der Läufer der Master-Kategorie, die sich anhand ihrer Laufzeit für die Eliterennen qualifiziert waren, starteten tatsächlich dort. Das ist eine noch geringere Quote als bei den jungen Frauen. Und bei den Frauen der Master-Kategorie war die Quote noch geringer: Dort liefen gerade mal 28% um das Preisgeld mit! Eine so geringe Quote kann nicht durch die Wettkampfmodalitäten erklärt werden. Denn bei der State Street Mile ist bei den Rennen der Masterklasse die Qualifikationszeit an das Alter angepasst und auch die gelaufenen Zeiten werden mit einem altersabhängigen Korrekturfaktor versehen, damit die älteren Läufer und Läuferinnen nicht benachteiligt werden.

Um es überspitzt auszudrücken: Hochkompetitive Wettkämpfe sind vor allem das Ding von jungen Männern. Und: Es sind nicht nur die Frauen, die die weniger kompetitiven Wettbewerbe vorziehen, auch die älteren Männer scheinen nicht mehr so fokussiert auf Wettkämpfe zu sein.



Ein kleines Molekül

So lange es Genderforschung zum Thema „Competitiveness“ gibt, so lange wird diskutiert, ob die stärkere Wettkampfbereitschaft von Männern – oder, wie wir jetzt wissen: von jungen Männern –angelegt oder anerzogen ist: Nature versus Nurture ...

Die Studie von Garrat und Weinberger gibt dazu einen ersten Hinweis: Vielleicht kann man den Einfluss des Geschlechts auf die Wettkampfbereitschaft zum Teil mit einer unterschiedlichen Sozialisation erklären, beim Einfluss des Alters fällt eine solche Erklärung allerdings schwer.

Bleibt ein Molekül: Testosteron. Längst ist bekannt, dass Testosteron, das als „köpereigene Aufputschdroge“ gilt, (Wett)Kampfbereitschaft und Risikofreudigkeit moduliert. Auch im Sport. Nicht umsonst war und ist Testosteron im Doping so beliebt. Denn kaum ein anderer Wirkstoff wirkt so direkt wie das männliche Sexualhormon.

Testosteron ist bei Männern in einer sehr viel höheren Konzentration vorhanden als bei Frauen. Während junge Männer Testosteronspiegel von über 20 nmol/l aufweisen können, sind bei Frauen Testosteronspiegel von 0,5-2 nmol/l typisch. Aber der Testosteronspiegel ist keine Geschlechtskonstante.  Bei Männern verändert sich der Spiegel mit dem Alter – ab ca. 30 Jahren kommt es zu einer deutlichen Reduktion. Und auch bei Frauen variiert der niedrige Testosteronlevel: Er schwankt mit dem Zyklus.

Eigentlich klingt es ein bisschen absurd: Frauen, die ja nicht gerade mit Testosteron „gesegnet“ sind, sind die idealen Versuchskaninchen, will man den Einfluss von Testosteron auf Entscheidungen oder Handlungen untersuchen. Denn bei ihnen oszilliert der Spiegel – und zwar regelmäßig, gut vorhersagbar und innerhalb eines kurzen Zeitrahmens.

Und genau diese – wenn auch sehr geringe – Variation des Testosterons bei Frauen reicht schon aus, um Änderungen in der sportlichen Leistungsbereitschaft auszulösen: Blair Crewther und Christian Cook haben im vergangenen Jahr eine Studie veröffentlicht, in der sie Athletinnen – Elite- und Freizeitsportlerinnen – zu unterschiedlichen Zeitpunkten in ihrem Zyklus untersuchten. Bei diesen Untersuchungen wurden sowohl der Testosteron-Level als auch – per Fragekatalog – die Wettkampfbereitschaft und die Trainingsmotivation bestimmt. Wenig überraschend – denn das war aus anderen Studien bereits bekannt - fand sich der Peak des Testosteronspiegels zum Zeitpunkt des Eisprungs. Dieser Anstieg von Testosteron war mit einer signifikant erhöhten Wettkampfbereitschaft und Trainingsmotivation korreliert. Dabei stieg bei Elite-Athletinnen das Testosteron in der Phase des Eisprungs viel stärker als bei Freizeitsportlerinnen – und entsprechend war der korrelierende Anstieg bei Wettkampfbereitschaft und Trainingsmotivation höher.


Abbildung 3. Links: Veränderung des Testosterongehalts im Speichel in den unterschiedlichen Phasen des weiblichen Zyklus in der Follikelphase (Tag 6-8 des Zyklus), der Ovulationsphase (Eisprung, Tag 13-15 des Zyklus) und der Lutealphase (Tag 20-22 des Zyklus). Der Testosteronspiegel ist während des Eisprungs am höchsten (*: signifikanter Unterschied gegenüber Follikelphase und Lutealphase bei Eliteathletinnen, #: signifikanter Unterschied gegenüber Lutealphase bei Freizeitathletinnen, p<0.05). Die Eliteathletinnen hatten in allen Phasen einen signifikant höheren Testosteronspiegel als die Freizeitathletinnen (**: p<0.05). Dies ist in Einklang mit einer Studie bei der gezeigt wurde, dass Leistungssportlerinnen nach Wettkämpfen teilweise einen höheren Testosteronspiegel hatten als Männer. Rechts: Die untersuchten Frauen zeigten in der Zeit des Eisprungs die höchste Wettkampfbereitschaft und Trainingsmotivation (*: signifikanter Unterschied zur Follikelphase und Lutealphase, p<0.05), die niedrigsten Werte wurden in der Lutealphase gemessen (#: signifikanter Unterschied zur Follikelphase, p<0.05).
Abbildungen aus Crewther BT und Cook CJ, Physiology & Behaviour 2018. 



Stereotypen oder Läufertypen?

Testosteron spielt also eine bedeutende Rolle, wenn es um die Wettkampforientierung von Sportlern geht. Aber determiniert der Testosteronspiegel die Entscheidung, ob man den Wettkampf sucht oder nicht? Mit anderen Worten: Kann man damit erklären, warum in den klassischen Wettkampfformaten im Langstreckenlauf, vor allem aber im Ultralauf, weltweit sehr viel weniger Frauen zu finden sind als Männer?

Mit Sicherheit nicht. Eine solche Stereotypisierung steht in deutlichem Widerspruch dazu, dass in unterschiedlichen Ländern die Teilnahmequoten von Frauen enorm divergiert. So sind in den USA die Teilnehmerquoten von Frauen um ein Vielfaches höher als beispielsweise in Spanien. Wenn dies primär auf den Testosteronspiegel zurückzuführen wäre, würde dies bedeuten, daß die US-Amerikanerinnen einen höheren Spiegel aufweisen als die Spanierinnen. Eine verwegene Annahme …

Und es ist vielleicht sowieso nicht zielführend, hier ausschließlich zwischen Männern und Frauen zu unterscheiden, die „scharfe“ Grenze also nur zwischen den Geschlechtern zu ziehen.

Zu diesem Ergebnis kamen auch die beiden Psychologen Benjamin Ogles und Kevin Masters. Sie haben über 1500 Läufer im Rahmen der Anmeldung zu verschiedenen Marathons im mittleren Westen der USA mit einem standardisierten Fragenkatalog untersucht und sie zur Motivation für Training und Wettkampfteilnahme befragt. Zusätzlich haben sie demographische Größen (Geschlecht, Alter) sowie Lauferfahrung und Trainingsgewohnheiten erfasst. Die Angaben zur Motivation wurden dann mit einer multivariaten Clusteranalyse verarbeitet, um herauszufinden, ob es bei Marathonläufern bestimmte „Motivationstypen“ gibt. Und tatsächlich kristallisierten sich im breiten Universum der unterschiedlichsten Motivationen fünf Läufertypen heraus:
  1. Running Enthusiasts: Sie laufen gerne, weil sie praktisch jeden Aspekt des Laufens mögen. Daher trainieren sie auch viel, am liebsten mit anderen. Aus dem gleichen Grund nehmen sie auch gerne an Wettkämpfen teil.
  2. Lifestyle Manager: Ihnen geht es vor allem um ihre physische und psychische Gesundheit ... und um ihr Gewicht. Ziel: Krankheiten und Fettleibigkeit davonzurennen. Sie trainieren eher maßvoll – und das vor allem alleine. Die sozialen Aspekte des Laufens und auch Wettkämpfe interessieren sie weniger. Im Durchschnitt sind sie langsamer als die anderen.
  3. Personal Goal Achievers: Ihr Motto könnte heißen: „Sei die beste Version deiner selbst“. Sie wollen sich ständig verbessern. Dabei sind nur sie selbst ihr Maßstab, der Vergleich mit anderen interessiert sie weniger, weshalb Wettkämpfe eher nicht im Mittelpunkt stehen. Sie trainieren sehr viel.
  4. Personal Accomplishers: Sie sind die Selbstoptimierer: Sie wollen persönliche Ziele erreichen und gleichzeitig etwas für ihre Gesundheit und ihr Selbstbewusstsein tun. Eng verwandt mit den Lifestyle Managern, aber sie stellen weniger die negativen Dinge (Gewicht, psychische Probleme) in den Mittelpunkt, sondern eher die positiven Ziele.  
  5. Goal Achievers: Ihr Motto: Besser sein als die anderen! Daher sind sie sehr fokussiert auf Wettkämpfe. Für diese trainieren sie sehr viel, gerne auch zweimal täglich. Sie erreichen die besten Marathonzeiten aller Gruppen.  


Das heißt: Langstreckenläufer sind hinsichtlich ihrer Motivation sehr heterogen – auch wenn sich bestimmte „Typen“ herauskristallisieren. Aber gibt es bei diesen Typen demographische Unterschiede? In der Studie von Ogles und Masters unterschied sich das Durchschnittsalter der fünf  Läufertypen: Das Durchschnittsalter von Typ 1 (Running Enthusiasts) war am höchsten, das von Typ 5 (Goal Achievers) am niedrigsten. Frauen waren bei Typ 1 und 2 überdurchschnittlich stark repräsentiert, bei Typ 3-5 waren überdurchschnittlich viele Männer zu finden.

Diese Studie zeigt deutlich: Wenn sich auch das Durchschnittsalter und Geschlechtsverteilung bei den unterschiedlichen Läufertypen unterscheiden, ist die Motivation, weshalb ein Läufer / eine Läuferin seinen bzw. ihren Laufsport betreibt, nicht von Geschlecht oder Alter determiniert. Es gibt genauso extrem wettkampforientierte ältere Frauen wie es junge Männer gibt, denen ein Community Run oder ein einsamer Lauf durch den Wald lieber sind als der spannendste Wettkampf. Es gibt also sehr wohl Läufertypen, wir müssen uns aber von den Stereotypen verabschieden.



Eine große Bandbreite

Wenn also die Bandbreite von Läufertypen und deren jeweiliger Motivation so groß ist, was bedeutet das dann für die Organisatoren von Wettkämpfen bzw. Laufveranstaltungen?

Mit Sicherheit wird es kein „one size fits all“ geben. Viele traditionelle Wettkämpfe sind aber immer noch nach dem stets gleichen Schema gestrickt: Startschuss, alle stürmen los, und wer als erster im Ziel ist, der gewinnt. Doch so eindimensional ist die Wettkampflandschaft glücklicherweise nicht mehr. Gerade im Trailrunning hat man in den letzten Jahren erkannt, dass es sowohl für die Teilnehmerzahl als auch für die Zufriedenheit der Teilnehmer positiv ist, wenn man unterschiedliche Strecken mit verschiedenen Längen bzw. unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden anbietet. Aber auch das ist längst nicht alles. Im Trail- und Ultrarunning übertrifft man sich derzeit mit Kreativität, was neue Wettkampfformate angeht. Da gibt es Staffel- und Teamwettbewerbe. Veranstaltungen, die gleichermaßen für Läufer und für Wanderer offen sind wie Karwendelmarsch oder Mountainman. Es gibt Wettbewerbe, die nicht den Fokus auf der Schnelligkeit haben, sondern z.B. auf dem Durchhaltevermögen (z.B. die Last Runner Standing Events bzw. Backyard Ultras). Es gibt mehr und mehr Community Runs – oder wie die Amerikaner sagen: Fatass Races. Und es gibt Läufe, bei denen das Gemeinschaftserlebnis mit kurzen Rennabschnitten kombiniert wird wie z.B. der Trail Raid.

Je größer die Bandbreite der Wettkampfformate, desto mehr Läufertypen kann man ansprechen. Hierbei geht es mehr um Integration als um Definition. Und es geht um sehr viel mehr als um Frauen und Männer.


Zu Teil 1: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mythen
Zu Teil 2: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Dabei sein ist alles
Zu Teil 3: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Zwischen den Ohren
Zu Teil 4: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mit zweierlei Maß 
Zu Teil 5: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Eine Sache der Werte    
Zu Teil 6: Der XX-Faktor im Ultrarunning: The Why
 

Außerdem gibt es folgende weiterführende Artikel zum Thema: 




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