Der XX-Faktor im Ultrarunning - Teil 1: Mythen



von Sabine

Je länger der Lauf, umso besser schneiden Frauen ab. Ist doch so. Oder nicht? Diese Artikelserie widmet sich dem Thema "Frauen und Ultra(trail)running". Es geht darum, Mythen zu entschlüsseln, die immer wieder hochkochen. Aber es geht vor allem um die Fakten: Wie unterscheidet sich das Leistungsvermögen zwischen Männern und Frauen an der Spitze, der Mitte und dem unteren Ende des Leistungsspektrums? Welche Faktoren führen dazu, dass im Ultra(trail)running Frauen weniger wahrgenommen werden als Männer? Und was kann man tun, dass dies in Zukunft nicht mehr der Fall ist?

Beim Badwater Ultramaraton 2002 gab es eine Sensation: Nach 135 Meilen durch den Glutofen von Death Valley und nach dem gnadenlosen Endanstieg zum Mt. Whitney Portal war es Pam Reed, die damals 41-jährige Ultraläuferin aus Tucson, Arizona, die als erste das Ziel erreichte. Erst ganze 4 ½ Stunden später kam der schnellste Mann ins Ziel. Ein Jahr später kam es dann zu einem von den US-Medien hochstilisierten Kampf Mann gegen Frau – in diesem Fall „Ultramarathon-Man“ Dean Karnazes gegen Pam Reed. Und wieder hatte Pam Reed die Nase vorn. Diesmal betrug der Abstand zwar „nur“ 25 Minuten. Aber spätestens zu diesem Zeitpunkt war für viele klar: der „Gender Gap“, die Leistungsdifferenz zwischen Frauen und Männern, die man sonst von allen Laufdistanzen kennt, existiert beim Ultrarunning nicht. Je länger der Lauf, umso schneller werden Frauen relativ zu ihren männlichen Kollegen. Die Hypothese: Wenn der Lauf nur lang genug ist, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau siegt. Gerne wird das auch durch die Leistung von Ann Trason beim Western States 1995 belegt. In diesem legendären „Fire and Ice Year“, als im High Country tiefer Schnee lag und in den Canyons die Temperaturen gleichzeitig brutal hoch waren, konnte sich der Sieger Tim Twietmeyer nur knapp gegen die starke Ann Trason erwehren. Zwar siegte Twietmeyer, aber Ann Trason lief gerade mal 6 Minuten nach ihm über die Ziellinie an der Placer High School in Auburn.

Seit dem hervorragenden Abschneiden von Ann Trason und Pam Reed passiert es jährlich mehrfach, dass eine Frau bei einem Ultralauf die Gesamtwertung gewinnt. Wenn ihr das dann noch mit großem Vorsprung gelingt und sie einen gewissen nationalen oder internationalen Bekanntheitsgrad hat, dann erzeugt das immer wieder Aufsehen, vor allem natürlich in der Läufercommunity. So zum Beispiel im letzten Jahr beim Sieg (und Weltrekord) von Camille Herron beim Tunnel Hill 100. Oder beim Sieg von Courtney Dauwalter beim Moab 240: 2017 kam sie 10 Stunden vor Sean Nakamura, dem besten Läufer, ins Ziel. Und zuletzt sahen wir es bei Nele Alder-Baerens, die beim Taubertal 100 (Meilen) mit 13:35:31 eine inoffizielle Weltjahresbestzeit aufstellte, während der schnellste Mann bei diesem Rennen eine Zeit von 17:55:26 lief.

Wann auch immer eine Frau den Gesamtsieg einfährt, wird kurz darauf mindestens in einem Podcast, Blog oder einer Laufzeitschrift wieder die Geschichte von den „schnelleren Ultramarathon Läuferinnen“ erzählt. Häufig gleich mit Hypothesen, warum Frauen angeblich so leistungsfähig auf langen Strecken sein sollen. "Wer zwei gesunde Kinder durch den Geburtskanal presst, ist auch zäh genug für lange Distanzen" sagt beispielsweise Anna Hughes

Eine solche Pauschalaussage ist natürlich meilenweit entfernt von seriöser Wissenschaft. Aber auch wissenschaftliche Studien haben sich damit beschäftigt, worauf ein Wettbewerbsvorteil von Frauen beim Ultramarathon zurückzuführen sein könnte. Hier wird beispielsweise angeführt, dass Frauen im Durchschnitt größere Fettspeicher haben und Fett zur Energiebereitstellung schneller oxidieren können als Männer.



Die nackten Zahlen

STOP! Bevor man sich in Hypothesen austobt, sollte doch erst mal eine grundsätzliche Frage gestellt werden: Ist es denn wirklich belegt, dass der Gender Gap kleiner wird, wenn es auf Strecken jenseits der 42,2 km geht?

Richtig ist: Dass eine Frau die Gesamtwertung gewinnt, ist tatsächlich gar nicht so selten. Es passiert sogar so häufig, dass auf der Statistikseite der Deutschen Ultramarathonvereinigung hierfür extra eine Sparte eingeführt wurde. Für das  Jahr 2017 werden darin 327 Rennen verzeichnet, in denen eine Frau schneller war als alle Männer. Das sind 5,7% aller von der DUV im Jahr 2017 gelisteten Ultra-Rennen. Eine beachtliche Quote!

Aber man sollte sich auch mal die Bestleistungen/Weltrekorde der jeweiligen Strecken anschauen. Für alle Distanzen von 100m bis zum Marathon ist der Gender Gap erstaunlich konstant und beträgt im Mittel 11,1%. Das heißt: Die Spitzenleistungen bei den Frauen sind um 11,1% geringer als bei den Männern. Dabei liegt die Streuung zwischen 9,3 und 12,4%.


Weltrekorde und Gender Gap (rechte Spalte) für Strecken bis zum Marathon


Wenn man sich die entsprechenden Zahlen für die Ultradistanzen ausrechnet, dann fällt zum einen auf, dass hier die Werte sehr viel mehr streuen. Im Mittel liegt der Gender Gap bei 17,4% mit Werten zwischen 6,5 und 24,3%. Bei den sogenannten „Timed Events“, d.h. Wettbewerben mit fixer Zeit von 6 Stunden bis 6 Tagen, fällt die Streuung etwas geringer aus; hier beträgt der Gender Gap im Mittel 13,2% mit Werten zwischen 8,9 und 16,1%. 


Weltrekorde und Gender Gap (rechte Spalte) für Ultramarathonstrecken


Weltrekorde und Gender Gap (rechte Spalte) für Timed Events


Das bedeutet: Der Leistungsabstand zwischen Männern und Frauen ist auf der Ultradistanz nicht kleiner als auf den Distanzen bis hin zum Marathon - ganz im Gegenteil. Vor allem aber: Es gibt keinerlei Tendenz, dass der Gender Gap abnimmt, je länger die gelaufene Strecke ist.



It’s the statistics, stupid!

Aber warum gewinnen dann trotzdem immer wieder Frauen bei Ultrarennen? Und das sogar – wie oben beschrieben – in einem beträchtlichen Anteil aller Rennen. Gibt es also doch einen Effekt? Oder was ist das Besondere bei den Rennen, in denen eine Pam Reed, eine Courtney Dauwalter oder eine Nele Alder-Baerens gewonnen haben?

Zum einen: Es sind Rennen mit relativ wenigen Teilnehmern. Wenn man die Zahlen von 2017 analysiert, dann handelte es sich bei 58% der Rennen um Veranstaltungen mit weniger als 20 Teilnehmern, bei 34% um Rennen mit 20 bis 100 Teilnehmern – und nur bei knapp 8% der Rennen standen mehr als 100 Läufer bzw. Läuferinnen am Start.

Zum zweiten: Wenn eine Frau ein Rennen mit mehr als 100 Teilnehmern gewinnt, wiederholt sich immer die gleiche Konstellation: Es tritt eine nationale oder internationale Eliteläuferin an – der auf Seiten der Männer maximal Läufer aus dem erweiterten nationalen Elitekreis entgegenstehen. So gehörten zu denen, die 2017 den Gesamtsieg bei größeren Rennen davontrugen, beispielsweise Stephanie Howe-Violett, Sophia Sundberg, Courtney Dauwalter, Nele Alder-Baerens, Rory Bosio, Anna-Marie Watson, Caroline Boller, Antje Krause oder Camille Herron.

So weit, so gut. Aber warum ist die Teilnehmerzahl ein so entscheidendes Kriterium?

Hierzu muss man sich Leistungsverteilung bei Frauen und Männern mal näher anschauen und die Statistik bemühen. Um die Leistungsverteilung zu analysieren, habe ich mir ein Rennen rausgesucht: Die 100 km von Biel. Warum genau dieses Rennen? Zum einen hat dieses Rennen eine lange Geschichte und eine beachtliche Zahl von Finishern (seit Bestehen rund 100.000), so dass die Statistik gut ist. Zum zweiten gibt es bei diesem Rennen weder Qualifikationsrennen, -zeiten oder -punkte und einen sehr großzügig bemessenen Cutoff. Das heißt: die Verteilung hat über das ganze Leistungsspektrum Aussagekraft. Und schließlich gibt es bei diesem Rennen anders als beim Comrades, Western States oder Leadville keine speziellen Auszeichnungen für das Unterbieten bestimmter Zeitgrenzen. Solche „Incentives“ verzerren die Kurve beträchtlich, wie ich einmal in einem anderen Blogbeitrag gezeigt habe.

Zusammengefasst: Da Faktoren wie Cutoff, Qualifikation oder leistungsbezogene Medaillen bei den 100 km von Biel keine Rolle spielen, kann man die Verteilung der Laufzeiten in erster Näherung als repräsentativ für die Leistungsverteilung bei Frauen bzw. Männern interpretieren. Hierbei fällt auf, dass die Kurve bei den Frauen gegenüber der Kurve der Männer nach rechts verschoben ist, also hin zu langsameren Zeiten. Macht man eine noch genauere Analyse, beträgt der „Versatz“ der beiden Kurven über größte Teile des Spektrums rund eine Stunde.

Verteilung der Laufzeiten beim 100 km Lauf von Biel (alle Daten seit Bestehen der Veranstaltung, Quelle: DUV)

Und nun kann man ein Gedankenexperiment machen: Angenommen, die schnellste Frau meldet sich zu einem Wettkampf an – und man wählt per Losverfahren unter allen Ultraläufern Männer zum Wettkampf aus. Nun zeigt eine genauere Analyse der Laufdaten von Biel, dass rund 0.37% der Läufer schneller sind als die schnellste Frau. Mit anderen Worten: Bei dem Gedankenexperiment ist die Wahrscheinlichkeit, dass der ausgeloste Mann langsamer ist als die Frau, rund 99,63%. In diesem Fall wäre es hochwahrscheinlich, dass die Frau gewinnt. Wählt man nun einen weiteren Läufer per Losverfahren aus, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass beide langsamer sind als die Frau 0.9963*0.9963=99.26%. Das kann man so weiterspinnen. Wählt man 20 Männer per Losverfahren aus, kann die Frau immer noch mit einer 73,2%igen Wahrscheinlichkeit mit einem Sieg rechnen, bei 100 Männern sind es immer noch 31,6%.

Wenn man für das Gedankenexperiment jetzt nicht die schnellste Frau hernimmt, sondern eine Frau aus der „erweiterten Elite“, dann sieht die Rechnung schon ganz anders aus. Sagen wir, 2% der Läuferinnen sollen schneller sein als die Frau, die sich zu dem hypothetischen Wettkampf anmeldet. Hier sind laut der Daten von Biel 5,3% der Läufer schneller als diese Frau. Wählt man 20 Läufer per Losverfahren aus, kann die Frau mit einer Wahrscheinlichkeit von 33,3% das Rennen gewinnen, bei 100 Läufern sind es gerade noch 0,31%.

Natürlich weiß ich, dass in der Realität noch ganz andere Faktoren die Zusammensetzung des Teilnehmerfelds bei einem Rennen bestimmen. Natürlich kann die Verteilung der Laufzeiten von Biel nicht auf jeden beliebigen Wettkampf übertragen werden. Und dennoch zeigt dieses Gedankenexperiment klar, dass es zwei Faktoren sind, die die Overall-Gewinnchancen von Frauen bestimmen: Die Größe des Teilnehmerfelds und die Exzellenz der Läuferin.

Wenn allerdings durch den Auswahl- oder Qualifikationsmodus dafür gesorgt ist, dass sowohl bei Frauen als auch bei Männern die Top-Läufer „gesetzt“ sind – wie z.B. beim UTMB durch die „elite entry“ für die Läufer mit den höchsten ITRA-Punkten – dann kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass eine Frau niemals Gesamtsiegerin werden wird. So wird es auch beim Western States mit der zunehmenden Popularität dieses Rennens immer seltener, dass eine Frau in die TOP 10 läuft.



Ist das nicht demotivierend für Frauen?

Ich denke nicht. Viel demotivierender ist es für Frauen, wenn man so tut, als gäbe es den Gender Gap im Ultrarunning nicht. Damit wertet man nämlich die Leistung der Läuferinnen ab, die den Gesamtsieg nicht schaffen – und das ist mit etwa 95% aller Rennen nun mal der Normalfall. Wenn man den Gender Gap leugnet, kann man auch die Fälle nicht richtig einordnen und bewerten, in denen eine Frau tatsächlich den Gesamtsieg erringt. Und wer hanebüchene Hypothesen für den im Ultralauf angeblich reduzierten Gender Gap anführt, der verkennt die tatsächlich vorhandenen Unterschiede. All das hilft den Läuferinnen nicht. Im Gegenteil. Denn es gibt durchaus Konsequenzen des Gender Gap, die in vielen Wettkämpfen nicht berücksichtigt werden und die für die Beteiligung und für die Sichtbarkeit von Frauen an Ultra(trail) Wettbewerben negative Konsequenzen haben. 

Um diesen Punkt soll es im nächsten Artikel gehen.

Bis dahin – See you on the trail!







Zu Teil 2: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Dabei sein ist alles
Zu Teil 3: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Zwischen den Ohren
Zu Teil 4: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mit zweierlei Maß 
Zu Teil 5: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Eine Sache der Werte  
 

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