Der XX-Faktor im Ultrarunning - Teil 2: Dabei sein ist alles




von Sabine


In den Zeiten vor Kathrine Switzer, Arlene Pieper oder Bobbi Gibb war der Marathonlauf reine Männersache. Das hat sich inzwischen drastisch geändert. Allein im Jahr 2017 haben in Deutschland mehr als 13.000 Frauen die Ziellinie eines Marathonlaufs überquert, in den USA sogar mehr als 200.000. So weit ist man im Ultrarunning noch lange nicht. Zwar glaubt heute keiner mehr ernsthaft, dass eine Frau durch den Langstreckenlauf vermännlicht, Haare auf ihrer Brust wachsen oder die Gebärmutter Schaden nimmt. Und dennoch: Es gibt eine Vielzahl von inneren und äußeren Faktoren, die Frauen davon abhält, sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit an die Startlinie eines Ultramarathons zu stellen wie ihre männlichen Kollegen. In Teil 2 dieser Artikelserie wühlen wir uns durch Teilnehmerstatistiken und Trends – hinter all diesen Zahlen gibt es interessante Zusammenhänge zu entdecken.


Kaum zu glauben: Es ist gerade mal 50 Jahre her, da war Langstreckenlauf ein reiner Männersport.  Da wurde mit haarsträubenden Argumenten erklärt, warum der Langstreckenlauf für eine Frau gefährlich ist – sofern sie weiterhin eine echte Frau bleiben will. Heute kann man darüber nur noch den Kopf schütteln. Oder lachen.

Und tatsächlich: Frauen haben die Langstreckenwelt erobert. Weltweit sollen bei Marathons Frauen schon 38,2% aller TeilnehmerInnen stellen, beim Halbmarathon sind es sogar 46,4%. Hier ist man der „Gender Equity“ schon sehr nah. In den USA hat sich der Frauenanteil beim Marathon in den letzten Jahrzehnten von 0 auf 44% (2015) stetig erhöht.

Aber wie sieht es beim Ultrarunning aus?



Meilenweit entfernt voneinander

Starten wir mit einem kleinen Quiz. Die zwölf „größten Ultrarunning-Nationen“ (nach Zahl der Aktiven) sind die USA, Frankreich, Südafrika, Japan, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien, Schweiz, China, Australien und Kanada. Welches dieser Länder hatte 2017 im Ultrarunning den höchsten Frauenanteil, welches den niedrigsten?

Vor der Auflösung des Rätsels zunächst mal die historische Entwicklung: Von 2000 bis 2017 nahm die Zahl der Aktiven im Ultrarunning um 734% zu! Noch höher war die Steigerung der Leistungen, d.h. der erfolgreich gefinishten Rennen: Hier betrug die Steigerung 952%.

In diesem Zeitraum veränderte sich aber auch die Zusammensetzung des Teilnehmerfelds: Waren im Jahr 2000 nur 16,1% aller Aktiven Frauen, so betrug der Frauenanteil im Jahr 2017 21,6%. Prinzipiell eine positive Entwicklung, wenn auch recht langsam. Die Unterschiede von Land zu Land sind aber riesig.

Und damit kommen wir zur Auflösung: Wer vermutet hatte, dass der höchste Frauenanteil in den USA, Kanada oder Australien zu finden ist, der liegt genau richtig. Im letzten Jahr war
Kanada mit 35,4% Spitzenreiter, dicht gefolgt von den USA und Australien mit jeweils 35,0%. Großbritannien liegt mit 28,8% zwar schon deutlich hinter diesen drei Ländern, aber noch vor Südafrika (23,2%), Deutschland (21,5%), China (21,0%), der Schweiz (20,1%). Danach kommen Japan (17,4%) und Italien (14,2%). Und am Ende des Feldes befinden sich zwei große Trail- und Ultrarunning-Nationen mit blamablen Frauenanteilen: Frankreich mit 11,8% und Spanien mit sogar nur 8,6%.

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Länder, die mit einer Caroline Chaverot, Emilie Lecomte und Nathalie Mauclair bzw. einer Nuria Picas, Maite Maiora und Uxue Fraile im internationalen Ultra-Trailrunning ganz vorn mitspielen, schaffen es nicht, mehr Frauen für Ultrarunning zu begeistern. Hier geht es nicht um marginale Unterschiede: Zwischen Spanien und USA/Kanada/Australien liegt ein Faktor VIER!



Traditionen, Gesetze, Schulsport

Es sind vor allem die Länder der sogenannten „Anglosphäre“, die hinsichtlich der Gender Equity im Ultrarunning vorn liegen. Bisher gibt es – spezifisch für Ultrarunning - keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die die Ursache hierfür näher beleuchten. Wohl aber existieren Analysen zu anderen Sportarten. Hier lautet die Schlussfolgerung: Dass in den USA, Kanada und Australien der Frauenanteil im Sport – sowohl im Leistungs- als auch im Freizeitsport – so hoch ist, liegt zum einen am hohen Stellenwert von (Leistungs-)Sport in High Schools und Colleges.

In unserem Fall ist vor allem der Crosslauf interessant. Hierzulande fristet dieser Sport ein eher bedeutungsloses Dasein. In den Ländern der Anglosphäre wird diese „Cross Country Running“ in den High Schools und Colleges gepflegt. Wer einen Eindruck davon bekommen will, sollte sich mal den Film „The Long Green Line“ anschauen. Viele Athleten aus den englischsprachigen Nationen, die heute im Ultrarunning zur Elite gehören, sind in ihrer Jugend mit Crosslauf in Verbindung gekommen: Ein Zach Miller, Hayden Hawks und Jim Walmsley haben ebenso Crosslauf-Karrieren hinter sich wie eine Ellie Greenwood, Ann Trason oder Courtney Dauwalter.

Schulsport-Programme haben einen großen Vorteil: Sowohl Jungs als auch Mädchen sind ihnen ausgesetzt. Während es später soziale und gesellschaftliche Hürden geben kann, die Frauen von bestimmten Sportarten abhalten, so ist das in der Schule viel weniger ein Thema. Vor allem, wenn es gezielte Programme gibt, die verhindern, dass Mädchen von bestimmten Sportarten ferngehalten werden oder sich drücken.

Anteil des Frauenanteils im Ultrarunning im Jahr 2017 (x-Achse) und Zunahme des Frauenanteils zwischen 2000 und 2017 (y-Achse), jeweils in %. In den Ländern der Anglosphäre (USA, Kanada, Australien, Großbritannien) ist der Frauenanteil am höchsten, gleichzeitig haben diese Länder die höchsten Zuwachsraten. Schlusslicht sind Frankreich und Spanien. Quelle der Daten: Ultramarathon-Statistik, Deutsche Ultramarathon Vereinigung.

Beispiel USA: Hier gibt es den Title IX des „Omnibus Education Act“, ein Gesetz, das 1972 vom Kongress beschlossen wurde. Ziel dieses Title IX war es zu verhindern, dass Schüler oder College Studenten wegen ihres Geschlechts von einem Erziehungsprogramm ausgeschlossen werden. Auch wenn der Title IX dabei gar nicht speziell auf den Sport abhob, so ist inzwischen allseits anerkannt, dass dieses Gesetz die wesentlichste Einzelmaßnahme war, die zum Aufschwung des Frauensports in den USA beigetragen hat.

Ganz anders in Spanien: Hier haben die Frauen bis heute mit einem im spanischen Nationalkatholizismus begründeten und durch die Franko-Ära noch verstärkten Frauenideal als Hausfrau und Mutter zu kämpfen – eine eigenständige Betätigung im Sport steht diesem Frauenbild diametral gegenüber. Zwar hat man im Leistungssport Fortschritte gemacht. Hier wird die Olympiade in Barcelona 1992 als Wendepunkt angesehen – vier Jahre zuvor in Seoul war der Frauenanteil im spanischen Nationalteam gerade mal 13%, 1992 betrug er dann schon 30%, und bei der Olympiade 2016 in Rio hatte man beachtliche 47% erreicht. Doch die Maßnahmen zur Frauenförderung im Leistungssport werden gleichzeitig konterkariert durch Gesetze, die Frauen im Sport benachteiligen. So dürfen in Spanien Vereine ihren Profi-Sportlerinnen fristlos kündigen, wenn sie schwanger werden – und das ohne finanzielle Kompensation.

Wie viele andere Sportarten besteht auch Ultrarunning nur in der Spitze aus Athleten und Athletinnen, die einerseits von der Sportförderung, andererseits aber auch von diskriminierenden Gesetzen betroffen sind. Doch gerade im Freizeitsport haben Frauen in Spanien noch am traditionellen Rollendenken zu knabbern – und dies ist der Hauptgrund, weshalb der Frauenanteil im spanischen Ultrarunning – trotz erfolgreicher Spitzenläuferinnen – so enorm gering ist.

Das Schlimme: Geschlechter-Stereotypen zu ändern dauert sehr, sehr lang. Familien und Schulen helfen, sie weiter zu perpetuieren. Und so ist es traurige Tatsache, dass Spanien und Frankreich im Ultrarunning nicht nur Schlusslicht beim Frauenanteil ist, sondern dass sich daran in den letzten 15 Jahren nichts verändert hat. Während in anderen Ländern ein stetiges Wachstum des Frauenanteils verzeichnet wird, verharrt er in Spanien auf dem gleichen niedrigen Niveau.

Und Deutschland? Deutschland ist Durchschnitt. Wir befinden uns im Mittelfeld: wie unsere Nachbarländer Schweiz und – mit etwas Abstand – Österreich. Mit viel Luft nach oben. Der Vergleich mit den USA zeigt: Wir hinken, was die Beteiligung von Frauen angeht, um mehr als 10 Jahren hinterher.

Frauenanteil im Ultrarunning nach Alters-/Wettkampfklasse. Die für Deutschland ermittelten Werte von 2017 liegt in etwa auf dem Niveau, das in den USA bereits 2005 erreicht wurde. Quelle der Daten: Ultramarathon-Statistik, Deutsche Ultramarathon Vereinigung.

Ultrarunning – das ist seit etwa 10 Jahren vor allem: Ultra-Trailrunning. Landschaftsläufe, Trailrunning und Skyrunning boomen. Dieses Segment hat den größten Anteil am Wachstum beim Ultrarunning. Und im Rahmen dieses Wachstums hat sich natürlich auch die Zahl der Frauen vervielfacht, die Ultra-Trailrunning betreiben.

Schaut man sich aber den Frauenanteil an, so liegt er in fast allen Ländern 1-2% unterhalb der oben genannten Mittelwerte, die ja sowohl die Trail-Disziplinen als auch die „klassischen“ Ultraläufe (Straßenläufe, Timed Events) beinhalten. In Deutschland kommt man derzeit auf 19,1%, in der Schweiz auf 19,7%, in den USA auf 33,1%.

Eigentlich ist das verwunderlich – und bedenklich. Anhand der positiven Tendenzen beim Ultrarunning hätte man erwarten können, dass gerade bei einer solchen Trendsportart der Frauenanteil höher ist – aber hier dominieren die Männer noch mehr als bei den „klassischen“ Ultrastrecken.



Rahmenprogramm oder Damenprogramm?

Aber auch hier lohnt es sich genauer hinzuschauen. Denn es gibt nicht nur Ultra-Trailrunning, sondern Trailrunning ist ein Sport mit einem großen Spektrum von Unterdistanzen über Marathon bis hin zum Ultra. Und in Mitteleuropa gibt es darüber hinaus im Trailrunning eine Besonderheit: Kaum eine Veranstaltung bietet nur eine Strecke an. Mittlerweile haben sich viele Veranstaltungen zu Trailrunning-Festivals entwickelt mit einem Spektrum von vier bis fünf Rennen unterschiedlichster Streckenlängen.

Wenn man sich bei solchen Events den Frauenanteil nach Streckenlängen gestaffelt anschaut, so ergibt sich ein klarer Trend: Je länger die Strecke, umso niedriger der Frauenanteil. Während der bei den ganz langen Kanten einstellig ist, erreicht er bei den kürzeren Distanzen auch schon mal 50%.

Frauenanteil bei Veranstaltungen, die Wettkämpfe unterschiedlicher Streckenlänge anbieten: Zugspitz Ultratrail, Eiger Ultratrail, Pitz Alpine Glacier Trail, Innsbruck Alpine Trailrun Festival, UTMB. Mittelwert der Jahre 2016-2018.

Woran liegt das? Können Frauen nicht so lange laufen wie Männer? Oder wollen sie nicht? Ist der Aufwand für Training und ggf. Qualifikationen zu hoch? Oder werden sie durch strenge Zulassungsbedingungen benachteiligt?

Zumindest letzteres kann man als Erklärung für diese spezielle Beobachtung ausschließen, denn bei den in der obigen Graphik dargestellten Teilnehmerzahlen sind nur die Veranstaltungen aus der UTMB-Familie mit einem strengen Qualifikationsprozess (ITRA-Punkte) und einer Lotterie versehen. Bei den anderen Veranstaltungen – ZUT, IATF, EUT – muss man sich einfach nur rechtzeitig anmelden. Daraus lässt sich nun wirklich keine Benachteiligung ableiten.

Die kurzen Distanzen wurden von den Veranstaltern oft nachträglich ins Programm genommen. Sie sollen Neulinge für den Trailrunning-Sport begeistern und die Hemmschwelle senken, sich für einen Wettkampf anzumelden. Gerade die mitreisenden Unterstützer von Ultraläufern sollen angesprochen werden. Bei manchen Veranstaltungen (z.B. UTMB/OCC) haben sich die „kleinen Schwestern“ der Ultrarennen zu hochkompetitiven Wettkämpfen entwickelt. Bei anderen sind sie eher Beiwerk, „Rahmenprogramm“. Und angesichts der Zahlen sind sie alle auch in gewissem Maß das „Damenprogramm“. Aber warum ist das so?



Zwischen den Ohren

Einen Hinweis darauf, warum Frauen im Zweifel eher zu den kürzeren Strecken greifen, gibt eine Umfrage der britischen Trail- und Ultraläuferin Lizzie Rosewell. Sie hat auf ihre (nicht repräsentative) Umfrage hin Antworten von 1272 Läuferinnen und 541 Läufern erhalten. Auf die Frage, was sie davon abhält, einen Ultramarathon zu laufen, war bei Frauen und Männern die am meisten genannte Antwort: „Weil mir die Zeit zum Training fehlt“. So weit, so konsistent. Aber dann dividierten sich Männer und Frauen auseinander: 38% der Frauen sagten, dass sie für einen Ultra nicht gut genug sind; 23% der Frauen fühlten sich von Ultrawettkämpfen eingeschüchtert. Und bei den Frauen, die „sonstige Gründe“ angaben (27%), fürchtete die Mehrzahl, dass sie die strengen Cutoff-Zeiten nicht schaffen. Bei Männern war das ganz anders:  Nur 14% von ihnen fühlten sich nicht gut genug, lediglich 3% gaben an, vom Ultramarathon eingeschüchtert zu sein, und bei den „sonstigen Gründen“ wurden nur von den wenigsten das Problem der Cutoff-Zeiten erwähnt. Stattdessen wurden von Männern häufiger finanzielle Gründe bzw. ein generelles Desinteresse am Ultramarathon aufgeführt.

Wie gesagt: Diese Umfrage ist nicht repräsentativ. Aber sie kann einen Hinweis geben. Es liegt nicht nur an tradierten Geschlechter-Stereotypen oder an fehlenden gesetzlichen Maßnahmen, dass immer noch sehr wenige Frauen an der Startlinie von Ultramarathons stehen. Das Problem liegt auch zwischen den Ohren.

Aber das ist das Thema von Teil 3





Zu Teil 1: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mythen
Zu Teil 3: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Zwischen den Ohren
Zu Teil 4: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mit zweierlei Maß  


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