THIS IS AWESOME – Warum in den USA mehr Frauen an Läufen teilnehmen als in Deutschland





von Sabine

Im Januar 2013 meldete der Disney World Marathon in Orlando, Florida, ein historisches Ereignis: Erstmals waren bei einem großen Marathon mehr Frauen als Männer ins Ziel gekommen. Das war ein Paukenschlag! Denn es war zu diesem Zeitpunkt nicht einmal 50 Jahre her, dass Frauen überhaupt beim Marathon starten durften. Aus einer Handvoll unbeugsamer Läuferinnen war eine Massenbewegung geworden. So schnell kann das gehen!  Leider geht es nicht überall so schnell. Hier in Deutschland sind wir noch meilenweit von der Parität von Männern und Frauen im Laufsport entfernt. Warum ist das so?

Fast jede Marathon-Läuferin kennt Kathrine Switzer, jene Läuferin, die sich unter dem Namen „K. Switzer“ im Jahr 1967 in den Boston Marathon „gemogelt“ hat. Nachdem der Renndirektor vergeblich versucht hatte, sie aus dem Rennen zu entfernen, finishte sie den Boston Marathon als erste Frau mit einer offiziellen Startnummer.




So bekannt wie Kathrine Switzer in den USA ist, so unbekannt ist hierzulande, dass eigentlich auch in Deutschland die Wiege des Frauenmarathons stand. Die entscheidende Person hier: Dr. Ernst van Aaken. Der sportbegeisterte Arzt war davon überzeugt, dass Frauen sehr wohl bei geeignetem Training einen Marathon ohne gesundheitliche Schädigungen überstehen können. Andere meinten zu dieser Zeit noch, Frauen vor dem „Wahnsinn“ des Langstreckenlaufs schützen zu müssen, weil sie nach einem Marathonlauf nicht mehr schwanger würden oder ihnen beim Laufen gar die Gebärmutter aus dem Körper fallen könnte. Doch van Aaken spekulierte, dass Frauen aufgrund ihrer höheren Fettreserven sogar besser für den Marathon geeignet seien als Männer. Und so ließ er schon 1967 die ersten Frauen bei dem von ihm veranstalteten Waldnieler Marathon mitlaufen. Inoffiziell – denn in Deutschland war es für Frauen nicht zulässig, einen Marathon zu laufen. Nachdem der offizielle Bann 1971 aufgehoben wurde, veranstaltete der „Laufdoktor“ ab 1973 in Waldniel jährlich einen Frauenmarathon, zu dem er die besten Läuferinnen der Welt einlud.




Auch wenn beide, Kathrine Switzer und Dr. Ernst van Aaken, sehr viel für den Frauensport getan haben – im kollektiven Gedächtnis haften geblieben sind die dramatischen Bilder vom Boston Marathon. Das liegt nicht nur daran, dass sich die Story von Kathrine Switzer besser medial transportieren ließ. Diese Geschichte wurde vor allem wegen des „bottom-up“ Ansatzes zur Legende des Frauenlaufsports, weil sich hier eine Frau selbst das Recht erkämpft hatte, einen Marathon laufen zu dürfen und aus der Illegalität in die völlige Normalität heraustrat.


Entwicklung der Frauenquote bei den Finishern des New York- und des Berlin Marathons. Diese beiden Marathons sind jeweils die teilnehmerstärksten Veranstaltungen in den USA bzw. in Deutschland.


Und wie ging es danach weiter? Auf beiden Seiten des großen Teichs entwickelte sich der Frauenmarathon, jedoch in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Das sieht man an der Entwicklung der Finisherzahlen beim New York Marathon und Berlin Marathon. Während die beiden Marathons in Sachen Frauenquote in den 70er Jahren noch eng beisammen lagen, ging danach die Schere auf und der New York Marathon legte Jahr für Jahr höhere Steigerungsraten hin als der Berlin Marathon.


Die nackten Zahlen

Der Marathonlauf ist aber nur eine von vielen verschiedenen Strecken bzw. Laufformaten. Da stellt sich die Frage: Wie sieht es auf den längeren bzw. kürzeren Strecken aus?

Bei 10km und beim Halbmarathon sind Frauen deutlich häufiger vertreten als beim Marathon – aber auch da hinken wir gegenüber den USA weit hinterher: Die Quoten in Deutschland sind ca. 20% niedriger als in den USA. Dort zählt man auf den kürzeren Strecken sogar schon mehr Frauen als Männer! Auch beim Ultramarathon gibt es deutliche Unterschiede zwischen Deutschland und den USA, doch die fallen nicht ganz so dramatisch aus wie bei den anderen Strecken. Und gerade auf den ganz langen Distanzen (100 Meilen) sowie bei den „Timed Events“ (6- und 24 Stundenläufe) klaffen die geringsten Lücken im Vergleich beider Länder. Grundsätzlich gilt für die USA wie für Deutschland: Je länger die Strecke, desto weniger Frauen nehmen am Rennen teil.


Anteil der Frauen an den Finishern auf verschiedenen Distanzen. Die Zahlen der Ultramarathon-Distanzen entstammen der Statistik der Deutschen Ultramarathon Vereinigung. Die Werte für 10 km, Halbmarathon und Marathon wurden aus den jeweils 10 größten Veranstaltungen des jeweiligen Landes ermittelt (hierbei wurden reine Frauenläufe nicht berücksichtigt). Unter UM sonstige verbergen sich alle Ultramarathons, die nicht auf den „Standardstrecken“ 50 km, 50 Meilen, 100 km oder 100 Meilen gelaufen werden.


 Eine weitere Tendenz zeigt sich, wenn man die Zahlen beim Marathon nach Einzelveranstaltungen aufschlüsselt: Anders als in den USA, wo auch kleinere Marathon-Veranstaltungen auf einen Frauenanteil von über 40% kommen, tummeln sich in Deutschland die meisten Frauen bei den großen Marathons. Allen voran beim Berlin Marathon, der mit 30,2% (2018) in Sachen Frauenquote einsame Spitze ist. Mittelgroße Marathons wie Frankfurt, Hamburg oder Düsseldorf schaffen es immerhin noch auf 20-24%, kleinere Marathons liegen weit darunter. Gerade bei den kleinen Marathons kann man nicht mal klare Steigerungsraten erkennen – sie dümpeln bei sehr niedrigen Quoten dahin ...


Anteil der Frauen an den Finishern für Marathons unterschiedlicher Größe (N=Teilnehmerzahl 2018). Bei den Marathons von Frankfurt, Hamburg und Düsseldorf sind die Steigerungsraten geringer als die des Berlin-Marathon. Für die noch kleineren Marathons ist die Tendenz uneinheitlich bei sehr niedrigen Frauenquoten.


Alle Augen also auf den Berlin Marathon als Vorreiter bei der Frauenbeteiligung? Schön wär’s! Denn bei der Interpretation der Zahlen ist Vorsicht geboten: Der Berlin-Marathon ist – mehr als jede andere Veranstaltung in Deutschland – ein Rennen mit hoher internationaler Beteiligung. Gerade mal ein Drittel der Finisher sind Deutsche. Und bei diesen deutschen Finishern beträgt die Frauenquote lediglich 24,6% - ein Wert, der nur marginal besser ist als der vom Marathon in Hamburg. Ganz anders das Bild bei den in Berlin startenden US-Amerikanern: Dort beträgt der Anteil der Frauen 50,4%! Die deutlich bessere Frauenquote beim Berlin-Marathon ist also quasi „importiert“.

Trotzdem gibt es einen Hoffnungsschimmer. Vergleicht man bei den deutschen Teilnehmern die Frauenquoten für die unterschiedlichen Altersklassen, so fällt ein Wert ins Auge: In der Hauptklasse, also für Läuferinnen und Läufer unter 30 Jahren, waren 2018 fast 38% aller Finisher Frauen – ein Spitzenwert im Vergleich zu den anderen Altersklassen und eine Tendenz, die sich vor 10 Jahren noch nicht gezeigt hat. Wenn es gelingt, diese enthusiastischen jungen Frauen weiterhin fürs Laufen zu begeistern, dann könnte Deutschland in Sachen Frauenquote weiter an die US-amerikanischen Benchmarks heranzurücken.


Anteil der Frauen an den Finishern beim Berlin-Marathon 2009 und 2018 – aufgeschlüsselt nach Altersklassen.



Was ist anders in den USA?

Aber warum schauen wir so krampfhaft über den großen Teich?  Nur um uns selbst zu frustrieren, weil die Amerikaner scheinbar so viel weiter sind? Ich glaube nicht. Wenn wir in Deutschland den Frauensport ernsthaft fördern wollen, dann können wir aus den Zahlen einiges lernen.

In Diskussionen wurde mir häufig das Argument vorgehalten, man müsse Frauen doch nicht auf Biegen und Brechen in den Ausdauersport „zwingen“, wenn sie doch schlichtweg nicht wollen. Dahinter steht die Vermutung, dass der Laufsport zu den Sportarten gehört, in dem es klare geschlechterspezifische Präferenzen gibt. Doch gerade die Daten aus den USA zeigen, dass dem nicht so ist. Es ist durchaus möglich, bei Männern und Frauen die gleiche Begeisterung für den Laufsport zu wecken.

Die interessante Frage ist: Wie kommt es dann zu den großen Unterschieden in der Teilnehmerquote zwischen den USA und Deutschland? Hier gibt es nicht nur einen Faktor, sondern ganz unterschiedliche…


College-Sport und der Title IX

Die Rolle, die der Sport an weiterführenden Schulen und Colleges in den USA spielt, ist mit der des Schulsports in Deutschland in keiner Weise zu vergleichen. Laut offiziellen Angaben betreiben in den USA mehr als die Hälfte der Schüler an weiterführenden Schulen regelmäßig eine Sportart. Im High-School- und College-Sport steckt jede Menge Geld, und häufig wird sogar kritisiert, dass man mehr Geld in den Sport pumpt als in die übrigen Unterrichtsfächer. Zwar gibt ein beträchtlicher Teil der jungen Amerikaner den Sport im Laufe des Studiums oder am Berufsanfang wieder auf. Aber gerade im Marathon- und Ultrasport begegnet man häufig Leuten, die ihre sportliche Betätigung nach einer „Ruhephase“ wieder aktiviert haben.

Die größere Bedeutung des Sports in Schulen und Colleges an sich hat noch nichts mit dem Frauensport zu tun. Wäre da nicht Title IX der Omnibus Education Bill.  Nach diesem 1972 in den USA verabschiedeten Gesetz darf keine Person aufgrund ihres Geschlechts von Erziehungs- und Bildungsprogrammen ausgeschlossen werden, wenn diese Programme ganz oder teilweise vom Staat finanziert werden. Title IX ist zwar nicht speziell auf den Sport gemünzt. Dennoch ist dieses Gesetz unstrittig die wichtigste Einzelmaßnahme zur Förderung der Chancengleichheit im (Wettkampf)sport. Die Zahlen sind eindeutig: 1971 stellten Schülerinnen 7,5%, Schüler jedoch 92,5% aller Sporttreibenden an den High-Schools.  Mitte der 90er Jahre war der Anteil der Schülerinnen auf 39% gestiegen, mittlerweile beträgt er fast 50%.




Die Konsequenzen von Title IX sind vielfältig. So dürfen bei den in den USA höchst bedeutsamen Sport-Stipendien Frauen nicht benachteiligt werden. Das führt dazu, dass der Frauensport im College nicht als zweitrangig oder gar „minderwertig“ angesehen wird – und dies wiederum hat Ausstrahlung auf den Frauensport als Ganzes. Anders wäre die Vehemenz nicht zu verstehen, mit der beispielsweise das Frauenfußball-Nationalteam der USA für gleiche Prämien kämpft.

Aber auch auf persönlicher Ebene hat der frühe Kontakt vieler Mädchen mit dem Wettkampfsport positive Auswirkungen: Sie sind früh gezwungen, sich zu organisieren, regelmäßig zu trainieren und sich beim Wettkampf etwas zu trauen. Dies wirkt sich später auf die Persönlichkeit aus: Ein höheres Selbstvertrauen und mehr Selbstachtung sowie ein positiveres Körperbild sind nur einige der Vorteile, die junge Frauen laut der Women’s Sports Foundation aus dem Schulsport ziehen. Wenn diese Frauen später einmal an der Startlinie eines Halbmarathons, Marathons oder Ultramarathons stehen, hat der damit verbundene Schritt ins Ungewisse auf sie eine weniger einschüchternde Wirkung.


Charities: Laufend Gutes tun

Eine weitere Spezialität in den USA sind die Charity Runs bzw. Charity Bibs. Zugegeben, auch hierzulande gibt es Spendenläufe. Auch hierzulande gibt es Läuferinnen und Läufer, die bei ihrem Halbmarathon, Marathon oder Ultramarathon Geld für einen guten Zweck sammeln. Aber der Stellenwert der Charities im Sport ist in den USA und generell in der Anglosphäre sehr viel höher als in Deutschland. So hat der New York Marathon seit dem offiziellen Start seines „Charity Partner Programs“ 270 Millionen Dollar für wohltätige Zwecke eingenommen!

Gerade bei den Charity-Programmen sind in den USA, Kanada und in Großbritannien die Frauen sehr aktiv. In Großbritannien werden nahezu zwei Drittel der Charity-Bibs von Frauen getragen. Ähnlich sind die Zahlen bei den großen US-Marathons.

Es mag Frauen motivieren, das zeitaufwändige und manchmal als egoistisch empfundene Training mit einem altruistischen Zweck zu verknüpfen. Es mag auch eine soziale Komponente dahinterstecken, denn wer in den USA für Charities läuft, läuft für ein Team. Und diese Charity-Teams bieten meist auch Trainingsgruppen an, in denen man sich gemeinsam auf den Start beim Lauf vorbereiten kann.

Welcher dieser Gründe auch immer entscheidend sein mag: Die Charity-Slots öffnen Frauen eine zusätzliche Tür zum Ausdauersport. Sie können soziale und sportliche Aspekte verknüpfen und laufend Gutes tun. Und dabei nebenbei ihre erste Wettkampferfahrung machen. Für viele ist damit die erste Hürde genommen und sie bleiben beim Wettkampfsport.


Awesome!

Schließlich gibt es einen weiteren Unterschied zwischen den USA und Deutschland, der nur schwer mit Zahlen und Statistiken zu belegen ist: Die Wertschätzung.

Wann immer ich US Amerikanern erzählt habe, dass ich Langstreckenlauf betreibe, haben sie mich mit Fragen gelöchert. Wie weit? Welche Rennen? Was habe ich erlebt? Kann ich irgendwelche „war stories“ erzählen? Wenn das Gegenüber nicht so viel mit Ausdauersport am Hut hatte, kam auch mal das obligatorische „I wouldn’t even drive that far“ – jedoch immer mit viel Bewunderung im Unterton. Und immer und immer wieder: „Awesome“! Großartig! Und genauso fühlte ich mich, wenn ich ein solches Feedback bekommen habe: ganz schön großartig ...

Leider ist meiner Erfahrung nach die Reaktion hierzulande oft eine andere. Hier werde ich bei der Erwähnung, dass ich Marathon laufe, spätestens im übernächsten Satz nach meiner Bestzeit gefragt. Und wenn der Gesprächspartner diese Leistung nicht einordnen kann, kommt auch mal: „Ist das eine gute Zeit?“. Was soll ich darauf antworten? Dass ich sicher keine Weltklassezeit laufe, aber mit meiner Leistung zufrieden bin? Und schon bin ich beim Relativieren der eigenen Leistung, die eigentlich von außen betrachtet, vor allem von einem Nichtläufer, nur ein Prädikat verdient hätte: Awesome!

Der Ultrarunner Rob Krar wurde nach seinem Sieg beim Western States 2015 gefragt, wie er die Leistungen derjenigen beurteilt, die in den letzten Minuten vor dem Cutoff ins Ziel gekommen sind.  Er äußerte sich voller Hochachtung: Sie seien ja schließlich doppelt so lang auf der Strecke unterwegs gewesen, hätten viel längere Zeit auf den Beinen und auf dem Kurs verbracht und seien auch noch eine ganze Nacht durchgelaufen. Das könne er sich kaum vorstellen – so lange zu laufen! Da gab es keine Relativierung. Auch die „Back of the Pack“-Läuferinnen und -Läufer sind awesome! Oder um es mit Pierre de Coubertin zu sagen: “Das Wichtige im Leben ist nicht gesiegt, sondern tapfer gekämpft zu haben“.

Aus psychologischen Studien ist bekannt, dass Frauen nicht deswegen häufiger vor großen Herausforderungen zurückschrecken, weil sie grundsätzlich risikoscheuer sind als Männer. Sie befürchten viel eher, sich auf der offenen Bühne des sozialen Umfelds zu blamieren. Deshalb stellen sie sich oft erst dann einer Herausforderung, wenn sie sich absolut sicher sind, dass sie diese bewältigen können: Aus diesem Grund sind ihnen zum Beispiel Rennen mit komfortablem Cutoff lieber als solche, bei denen der Cutoff sehr knapp bemessen ist. Aber auch ein positiv verstärkendes Umfeld ist für sie wichtig. Eine solche positive Verstärkung ist: „Awesome!“

Man kann eine positive Verstärkung auch erreichen, indem man den Gemeinschaftsaspekt betont: Eine Besonderheit des Laufsports ist es, dass Spitzenathleten mit Freizeitläufern an einer Startlinie stehen. Nur in sehr wenigen Sportarten ist es für Freizeitsportler überhaupt möglich, mit Weltmeistern oder Streckenrekordinhabern im gleichen Rennen zu starten. Laufen hat daher – auch als Individualsport – etwas Verbindendes.

Dieses Verbindende wird gerade bei Ultramarathons in den USA gern hervorgehoben. Sehr häufig wird von der Ultrarunning Community gesprochen. Dass dies keine hohle Phrase ist, sieht man sehr schön bei der Siegerehrung. Ob beim Western States, beim Badwater oder beim Hardrock: Bei der Siegerehrung haben nicht nur die Sieger ihren großen Auftritt. Jeder Finisher wird nach vorn gerufen und bekommt eine Auszeichnung – in den USA häufig einen „Belt Buckle“, eine Gürtelschnalle. Es versteht sich daher von selbst, dass die Siegerehrung erst begonnen wird, wenn der offizielle Cutoff vorbei ist und alle Finisher im Ziel sind. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass die Letzten immer noch ein großes Publikum haben und angefeuert werden.

Hierzulande ist das leider nicht immer der Fall. Da wird die Siegerehrung schon mal abgehalten, wenn die Mehrzahl der Läuferinnen und Läufer noch auf der Strecke ist. Besonders peinlich und unsensibel ist es, wenn zum Zeitpunkt der Siegerehrung nicht einmal die besten Frauen aller Wettkampfklassen das Ziel erreicht haben. Von Veranstalterseite wird gerne argumentiert, dass man die Sieger nicht zu lange warten lassen will - sie wollen ja vielleicht schon nach Hause fahren. Aber was sollten da die Sieger von Western States, Badwater oder Hardrock sagen?  Sie müssen häufig einen ganzen Tag auf die Siegerehrung warten. Und dennoch gehört bei diesen Rennen die Siegerehrung ganz selbstverständlich zur Veranstaltung – für alle.

Die Wertschätzung ohne direkten Leistungsbezug, die Einbeziehung von Läufern und Läuferinnen mit unterschiedlichster Leistungsfähigkeit – gerade das zieht Frauen an. Aber nicht nur Frauen.  Es gibt ebenso leistungsorientierte Frauen wie es Männer gibt, die Laufwettbewerbe vorwiegend als Gemeinschaftserlebnis sehen. Es gibt genügend Männer, denen es schwerfällt, sich der Herausforderung eines Langstreckenlaufs zu stellen.  Auch wenn sich Männer und Frauen im Durchschnitt unterscheiden – die Streuung ist groß und die Kurven überlappen sich.


Sind Frauenläufe die Lösung?

„Dann bleibt doch bei Euren Frauenläufen“ – das bekam ich schon in Diskussionen um den Frauensport zu hören. Tatsächlich spielten Frauenläufe in der Entwicklung des Frauensports eine große Rolle. Sie haben vielen Frauen nicht nur einen legalen, sondern auch einen emotionalen und sozialen Rahmen gegeben. Hier haben die Frauenläufe Großes für Frauen geleistet und leisten es immer noch.

Meiner Meinung nach können Frauenläufe aber nicht die alleinige Antwort auf den Wunsch nach einer leistungsunabhängigen Wertschätzung sein. Dieses Konzept greift zu kurz, weil es die Männer ausschließt, die ebenfalls von mehr Wertschätzung profitieren würden. Der Blick in die USA zeigt, dass es durch mehr Sensibilität durchaus gelingen kann, ein breites Spektrum an Läuferinnen und Läufern anzusprechen und einzubinden – unabhängig von Geschlecht, Alter, Körpergewicht. So haben zum Beispiel in den USA ältere Athleten und Athletinnen wie Gunhild Swanson, Gordy Ainsleigh und Jack "Dipsea Demon" Kirk einen sehr hohen Bekanntheitsgrad – und ihnen wird höchster Respekt gezollt. Ken Michal alias „Running Stupid“, Back-of-the-pack Läufer mit viel Enthusiasmus und fortwährenden Gewichtsproblemen, wurde 2015 vom Ultra Race of Champions (UROC) zum „Ambassador“ ernannt. Zugegeben, das sind zunächst „nur“ Symbolfiguren– sie haben aber eine sehr positive Wirkung auf die Inklusion von Läufern und Läuferinnen jeglichen Leistungsvermögens.

Aber auch hierzulande gibt es über die gesamte Bandbreite von 5km bis zum Ultramarathon vielversprechende Ansätze. So zum Beispiel die Parkruns, wöchentlich stattfindende 5km-Läufe, die es seit Anfang 2018 auch in Deutschland gibt.  Hier ist jede und jeder willkommen – von Spitzenläufern und -läuferinnen (Rekordzeiten: 13:48 bei den Männen und 15:50 bei den Frauen) bis zu Walkern und Walkerinnen. Am anderen Ende des Distanzspektrums stehen Vereine wie die LG Ultralauf, bei der explizit sowohl auf Gemeinschaftserlebnis als auch auf Leistung Wert gelegt wird und die es geschafft hat, Männer wie Frauen in den unterschiedlichsten Altersklassen einzubinden. Aber auch schon „kleine Maßnahmen“ haben einen positiven Effekt: Wenn zum Beispiel Veranstalter auf Cutoffs verzichten, sofern sie aus logistischen Gründen (Straßensperrungen, Bereitschaft von Sanitätern) nicht dringend notwendig sind. So beim Halbmarathon des von Dennis Wischniewski veranstalteten Lichtenstein Trails. Solche Maßnahmen signalisieren: Hier darf jeder und jede laufen – von superschnell bis langsam.

Laufen als Leistungssport und Laufen als Freizeitsport schließen sich nicht aus. Im Gegenteil, für einige der heutigen Spitzenläufer und -läuferinnen war das Laufen zunächst Befreiung, Therapie bei Sucht- oder psychischen Problemen und Empowerment. Die Grenzen zwischen Leistungs- und Freizeitsportler sind im Laufsport durchlässig. Und der Laufsport ist groß genug für beide Seiten – Leistungs- und Freizeitsport – wenn sich beide Seiten akzeptieren.

Ich habe einen Traum: Dass ich in Marathon-Foren zukünftig nicht mehr lesen muss: „Alles über 4 Stunden ist kein Marathon“. Und dass leistungsorientierte Läufer von Freizeitläufern nicht mehr als „krankhaft ehrgeizig“ bezeichnet werden. Dann könnten wir zusammen das erleben, was den Laufsport doch so besonders macht: Dass alle mit gegenseitigem Respekt an einer Startlinie stehen. Schnelle und Langsame, Junge und Alte, Männer und Frauen. Und dass alle die gleiche Strecke laufen, nur eben unterschiedlich schnell. Das wäre – AWESOME!


Dieser Artikel ist Teil der Serie #frauenimsport. Mehr dazu findet Ihr auf der Seite Frauen im Sport bei den Ausdauer-Coaches.

Ich möchte Euch auch auf die Artikel der Serie "Der XX-Faktor im Ultrarunning" hinweisen, die sich mit verschiedenen Aspekten von Frauen im Trail- und Ultrarunning beschäftigen:
Teil 1: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mythen
Teil 2: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Dabei sein ist alles 
Teil 3: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Zwischen den Ohren
Teil 4: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Mit zweierlei Maß 
Teil 5: Der XX-Faktor im Ultrarunning: Eine Sache der Werte 





Kommentare