Nur ein Stück Blech

von Sabine

Bei fast jedem längeren Lauf gibt es sie im Ziel: Die Finisher-Medaille. Ich habe selbst jede Menge davon. Schöne und hässliche. Mit manchen verbinde ich Erinnerungen an richtig tolle Läufe. Oder an Bestzeiten. Oder an Quälereien. 

Zum Leidwesen meiner Frau verstauben die Medaillen meist eine Zeit lang in unserer Wohnung, bis ich sie dann in eine Kiste wegpacke. Nur die Exemplare mit besonders hohem Erinnerungswert oder Rekordzeiten dürfen draußen bleiben … und inzwischen sind auch von ihr ein paar Medaillen dazugekommen. 



Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind nur ein Stück Blech. 

Umso verwunderlicher herauszufinden, wie viel Macht und Power dieses „Blech“ hat. 

Ich habe mich einmal intensiv mit den vier großen und „historischen“ 100-Milern in den USA auseinandergesetzt: der Western States Endurance Run 100 , Vermont 100 Endurance Race , Leadville Trail 100 Run und Wasatch Front 100 . Sie bilden zusammen den Grand Slam of UltrarunningTM . Da einige der älteren Ultraläufe in den USA von „Equestrian Endurance Rides“ herstammen, hat man deren Tradition übernommen und verleiht dem Finisher keine Medaille, sondern einen Belt Buckle, eine Gürtelschnalle. 



Auch wenn sie etwas protziger wirken als die meisten hiesigen Medaillen, sind sie doch auch nur ein Stück Blech … und schon so mancher hat sich darüber lustig gemacht, dass Läufer und Läuferinnen hunderte Dollar Anmeldegebühr bezahlen, monatelang trainieren und dann mehr als einen Tag rennen, um am Ende ein solches Stück Blech zu verdienen. Zum Beispiel hier.

Wenn man sich aber mal anschaut, wie die Statistik der Finisherzeiten bei diesen Läufen aussieht, so erkennt man schnell die magische Macht des Belt Bluckles. Erwarten würde man das, was man von den meisten kürzeren Läufen kennt: Die Spitze des Läuferfelds ist relativ dünn, dann nimmt die Dichte der Finisher immer mehr zu bis zur Mitte – zum „Bauch“ des Felds, um dann hin zu den langsamen Läufern „auszutröpfeln“. Eine typische Gaußsche Glockenkurve also. Oder zumindest etwas ähnliches, denn wahrscheinlich wäre sie nicht symmetrisch und auch etwas verrauscht. So sieht es zumindest bei einem Lauf wie dem Bieler 100er aus. 



Bei den Grand Slam Rennen ist das anders. Mit einer Glocke haben die Kurven wenig gemein, eher mit den groben Zähnen einer Holzsäge. Zum einen sind die Zielschlusszeiten bei den US-Ultras so aggressiv gewählt (beim Wasatch Front 100 sind es 36 Stunden, sonst 30 Stunden), dass sie den „Bauch“ der Häufigkeitsverteilung in der Mitte durchschneiden – oft gibt es fast ebenso viele DNFs (DNF=did not finish) wie Läufer, die das Ziel erreichen. Und zweitens gibt es bei den meisten Rennen zwei oder mehr unterschiedliche Belt Buckles, je nachdem, wie schnell man gelaufen ist. Beim Western States, Vermont 100 und Wasatch Front 100 bekommen alle Läufer, die die Strecke in weniger als 24 Stunden absolvieren, einen besonderen sub-24-Stunden Buckle – bei Leadville liegt diese Grenze bei 25 Stunden. Außerdem unterscheidet der Wasatch 100 auch noch zwischen Läufern, die schneller und langsamer als 30 Stunden sind. 


Wenn man das weiß, dann kann man diese Sägezähne interpretieren: Kurz vor dem jeweiligen Buckle cut-off steigt die Zahl der Finisher dramatisch an, um danach steil abzufallen. Alleine die Aussicht auf einen besonderen Belt Buckle ermöglicht es den Läufern, deren normale Laufzeit ohne diesen „Anreiz“ eine Stunde und mehr langsamer als der Cutoff wäre, schneller zu laufen und sich den Belt Buckle zu sichern. Eine Glockenkurve würde die unterschiedlichen physischen Voraussetzungen wiederspiegeln, aber die Sägezähne um die Buckle Cut-offs herum kann man nur damit erklären, dass die Buckles eine riesige Motivation darstellen und einen schneller laufen lassen. Man nennt diesen Effekt, der lange nicht bekannt war, das psychobiologische Modell der Ausdauerleistung. Ein interessantes, leicht zu lesendes Buch über diesen Effekt ist das Buch von Matt Fitzgerald „How bad do you want it?“ – und wer es etwas wissenschaftlicher mag, kann sich durch die vielfältigen Publikationen von Samuele Marcora wühlen. 

Läufer, die schon einmal einen Halbmarathon, Marathon oder Ultramarathon gelaufen sind, kennen meist einen Effekt dieses psychobiologischen Modells: In der zweiten Hälfte des Laufs kommt man irgendwann an seine Grenzen – bedingt durch muskuläre Ermüdung oder die Tatsache, dass alles Glykogen aufgebraucht ist. Man muss mehr kämpfen oder man wird langsamer. Oder beides. Und dann – ganz unverhofft – „riecht man den Stall“. Etwa 2km vor der Ziellinie fängt man plötzlich wieder an zu beschleunigen, oft ohne es zu bemerken. Bei meinem Frankfurt Marathon im Jahr 2007 lief ich zwischen km 40 und 42,2 den nahezu schnellsten Split – nachdem sich die Kilometer zuvor über die Mainzer Landstraße wie Kaugummi gezogen hatten.

Was mich aber total erstaunt: Die Stärke dieses Effekts. Ein bloßes Stück Blech bringt Läufer bei den Grand-Slam Ultramarathons in den USA dazu, durchschnittlich EINE Stunde schneller zu laufen.

Beim Eiger Ultra gibt es keine Medaille, auch keinen Belt Buckle. Es gibt ein Stück Fels vom Fuß des Eigers. Wenn schon ein Stück Blech eine solche Motivation darstellt, wie dann erst ein Stück von der Wand, an denen Bergsteigern wie Anderl Heckmair, Toni Kinshofer und Ueli Steck Geschichte geschrieben haben und die Mehringer & Sedelmayr, Kurz,Hinterstoißer, Angerer & Rainer, Longhi und Harlin zum Verhängnis wurde?


Das Fazit: Mentales Training ist wichtig - ULTRAwichtig. Aber ganz ohne körperliches Training geht es auch nicht. Daher: Weitertrainieren! See you on the trails!


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