Eiger Ultra Trail E51: Es geht um's Ganze


 

 

von Sabine


Um welches Ziel lohnt es sich im Sport zu kämpfen? 

Der Fokus, bei Zuschauern und Berichterstattung, liegt meist auf dem Sieg, auf dem Podium, auf den Top 10. 

Und was ist mit den vielen, die es niemals in die Top 10, geschweige denn aufs Siegertreppchen schaffen werden? 

Diese Freizeitläufer setzen sich oft Zeitziele, deren starken Einfluss auf die Leistung man sogar an den Finisherzeiten ablesen kann: Die 4-Stunden Grenze beim Marathon oder die 24 Stunden beim 100 Meilen-Rennen. Knapp unter diesen Grenzwerten knubbeln sich die Finisher. Wer die 4 Stunden im Marathon oder die 24 Stunden beim 100 Meiler auch nur in Reichweite hat, wird alles versuchen, dieses Ziel zu knacken. 

Dann gibt es noch die LäuferInnen am anderen Ende des Felds, die der Engländer „back of the pack“ nennt. Ihr Ziel: dem DNF, „did not finish“, davonzulaufen. 

Lange habe ich, die vor allem im gebirgigen Ultratrail eher zu diesem Typ Läuferinnen gehört, mit dem Kampf gegen den DNF gehadert. Mir waren diejenigen Veranstaltungen am liebsten, die möglichst laxe Zielschlusszeiten haben. Dann bin ich 2018 beim Eiger E51 erstmals an einem Cutoff gescheitert. Und es war ein Stachel im Fleisch. 

Seitdem habe ich viel darüber nachgedacht – und meine Einstellung zum DNF geändert: Eigentlich ist der Kampf darum, überhaupt finishen zu können, etwas so Grundlegendes, dass er seinen eigenen Reiz hat. Es geht nicht um Platz 233 versus Platz 234, es geht nicht um 10:37 vs. 10:38, es geht um alles. Go big or go busted. 

 

 

Aus meinem Rennbericht vom Eiger Ultra Trail 2018 - das wollte ich nicht nochmal erleben ...

 

Ein Plan entsteht 

In der Zeit nach meinem DNF beim E51 hatte ich mir zunächst mal ein Jahr mit kürzeren Wettkämpfen „verordnet“. Aus einem Jahr wurden drei. Für 2020 war ich zum E51 angemeldet, doch dann kam Corona. Und wir wurden vor die Alternative gestellt, den gebuchten Wettkampf auf 2021 oder 2022 zu verschieben. Ich wählte die spätere Option, 2022. Denn mittlerweile machte auch die Gesundheit meiner Eltern immer größere Sorgen. Mein Vater wurde zum Pflegefall und ist dieses Frühjahr verstorben. Und um die Krankenhausaufenthalte meiner Mutter zu zählen, braucht man mittlerweile zwei Hände. In den letzten zwei Jahren bin ich zwar viel gelaufen, um Stress abzubauen, aber es war nicht die Zeit für strukturierte Trainingspläne. 

2022: Jetzt endlich wollte ich einen neuen Versuch wagen. Allerdings hatten sich mittlerweile die „Spielregeln“ geändert. Ich bin nun 4 Jahre älter, etwa 6 Kilo schwerer – und der Eiger Ultra Trail hat nochmal die Daumenschrauben angezogen und die Cutoff-Zeit für den E51 von 14 auf 13 Stunden herabgesetzt – mit entsprechender Anpassung der Zwischen-Cutoffs. Habe ich unter diesen Voraussetzungen überhaupt eine Chance? 

Klar war: Es waren an allen drei Fronten höchste Anstrengungen nötig: Beim Gewicht, beim Training und bei der mentalen Einstellung. Die Fortschritte beim Gewicht hielten sich leider in Grenzen, dafür gelang es mir, seit Ende März strukturiert und mit hohem Volumen zu trainieren. Dabei ging es mir vor allem um Höhenmeter, denn der E51 weist kaum flache Bereiche auf. Da mir vor allem der Cutoff auf dem Faulhorn Sorgen machte, suchte ich mir die steilste Mountainbike-Downhill-Strecke der Region, auf der ich (gerne früh morgens, da dann kaum Mountainbiker unterwegs sind) eine Wiederholung nach der anderen machte. Um die langen Anstiege zu trainieren (Grindelwald-Große Scheidegg, 980 Höhenmeter und Bussalp Oberläger-Faulhorn 660 Höhenmeter) fuhr ich zweimal in den Schwarzwald, um mehrfach hintereinander (2 bzw. 3 mal) den Schauinsland zu erklimmen (800 Höhenmeter auf 8km). Und mit Andrea machte ich meine alpine „Teststrecke“: Eine Speed-Besteigung des Pilatus von Alpnachstad aus: 1600 Höhenmeter auf 8 Kilometer. Insgesamt habe ich im Mai und Juni so viele Höhenmeter wie noch nie „gesammelt“. 

Alles steht bereit!

 

Mindestens genauso wichtig wie die körperliche Vorbereitung war allerdings die mentale Vorbereitung. Die Rückschau sagte mir, dass ich von der Physis her auch 2018 den E51 „draufgehabt“ hätte. Mir fehlte nur der Punch beim Aufstieg zum Faulhorn. Jemand von meiner läuferischen Preisklasse hat bis zum Faulhorn mehr als 6 Stunden auf dem Buckel und ist meist schon ziemlich „durch“. Die Beine sind vom steilen, langen Aufstieg totaler Pudding und man fragt sich, wie man den langen Downhill auf diesen Beinen schaffen soll. Dann kommt einem eine Helferin entgegen und sagt, dass man noch 10 Minuten hat, um rechtzeitig vor dem Cutoff am Gipfel zu sein. Vor 4 Jahren warf ich einen kurzen Blick auf die verbleibende Strecke und sagte mir: Wenn ich das in 10 Minuten schaffen will, dann kotze ich dort oben. Und dann war da ein kleines Teufelchen auf der Schulter, das sagte: „Lauf Dein Tempo weiter, dann ist es Schicksal, wenn Du das nicht geschafft hast. Und die Quälerei ist vorbei.“ Problem ist aber, dass das Teufelchen nicht erwähnt, dass man für den kurzen Moment, in dem man sich über das Ende der Qualen freut, teuer bezahlen muss. Denn in der Rückschau ist da immer die Frage: „Hätte ich es nicht doch schaffen können?“ 

Vielen LäuferInnen geht es irgendwann in ihrem Lauf so, dass die Chance, ihr eigentliches Ziel zu erreichen, schwindet. Dann ist die Gefahr groß, in den Sack zu hauen. Um genau diese Problematik abzufedern, definiert man bei Läufen meist ein A- und ein B-Ziel … und manchmal auch noch ein C-Ziel. Wenn man merkt, dass einem das A-Ziel aus den Händen gleitet, ist da immer noch das B-Ziel und man hat einen Grund, weiterzumachen. Und ganz ehrlich: Wir wissen von Ultraläufen, wie schnell sich die Stimmung drehen kann und man plötzlich wieder Kräfte spürt, die vorher längst geschwunden zu sein schienen. 

Wie aber definiert man ein B- und ein C-Ziel, wenn das A-Ziel das bloße Finish ist – also die Cutoffs (insbesondere die am Faulhorn) zu schaffen? Ich habe dazu etwas gemacht, was zunächst unlogisch klingt: Vergiss das Rennen und konzentrier Dich auf die Strecke! Wenn ich den Cutoff am Faulhorn, also das A-Ziel, nicht schaffen würde, wollte ich zumindest die Strecke des E51 auf eigene Faust fertiglaufen. Das „private Finish“ war mein C-Ziel; B-Ziel war es, im Abstieg Zeit gutzumachen und Grindelwald innerhalb der offiziellen Zielschlusszeit (um 20:30) zu erreichen. Diese Strategie sollte verhindern, dass ich am Faulhorn dem Teufelchen auf meiner Schulter nachgeben und die kurzfristig bequemere „Quitter’s Road“ wählen würde. 

 

TrailrunningHD: Back to Grindelwald 

In diesem Jahr wollten drei von uns antreten: Erik wie immer auf der Langstrecke, dem E101, Wolfgang, der zweimal den E16 und im vergangenen Jahr den E35 gefinisht hatte, wollte sich in diesem Jahr am E51 versuchen – und ich suchte die Revanche auf dem E51. 

LäuferInnen und Trailhund - TrailrunningHD @ Eiger Ultra Trail!

Dann, drei Wochen vor dem Eiger Ultra Trail, meldete Erik einen positiven Corona Test. Shit! Er war zwar schnell wieder symptomfrei, beriet sich dann aber mit SpitzenathletInnen, denen das in diesem Wettkampfjahr ebenfalls so ergangen war. Die einhellige Meinung: Nicht zu früh wieder in den Wettkampfmodus einsteigen. So meldete er sich schließlich – schweren Herzens – auf die 51 km um, mit dem Vorsatz, nur bis zum Faulhorn zu laufen und das Rennen nicht zu schnell anzugehen. 

Weniger Läufer beim Eiger bedeutete gleichzeitg: mehr Betreuer. Das war vor allem für mich von Vorteil, weil es mir half, die lange Strecke mental aufzuteilen und mich immer wieder darauf zu freuen, dass ich Andrea, Katrin oder Petra sehen würde. Und es machte die Verpflegung einfacher. Doch dazu später mehr. Da es für Erik um nichts ging, wollte er sogar unterhalb des Faulhorns auf mich warten und mit mir gemeinsam die letzten Höhenmeter zu meiner Nemesis gehen. 

Der richtige Rahmen: Kleine Läuferin vor großartiger Landschaft!

 

 

Are you ready to run the race? 

Um 6:50 versammeln sich Wolfgang, Erik und ich vor unserem Hotel. Elli, die Trailhündin, ist ganz aufgeregt, schaut vom Balkon zu uns hinunter und wedelt mit dem Schwanz. Wahrscheinlich würde sie am liebsten mitrennen … 

Wir gehen Richtung Start, kommen am „Zielkanal“ vorbei. Wolfgang und ich fragen uns, wie es uns wohl heute Abend an dieser Stelle gehen wird. Auf jeden Fall werden wir viel erlebt haben. 

Jetzt noch schnell ein paar Selfies. Die Nervosität nimmt zu. Erik verabschiedet sich, weil er sich weiter vorn positionieren will. Meine Pulsuhr sucht das Satellitensignal. So, gefunden. Dann beginnt auch schon der Countdown. Dann: Ein Schuss – und es geht los! 

Selfie am Start

 

 

Zur Großen Scheidegg – nicht ganz bei mir 

Zuerst geht es durch die Hauptstraße von Grindelwald. Leute stehen vor den Hotels und fotografieren. Shit – wir hatten mit Katrin und Andrea nicht vereinbart, auf welcher Seite sie stehen. Und prompt laufen wir auf der falschen Seite. Fängt ja schon gut an! 

Schnell geht’s durch Wiesen und Wald Richtung Hotel Wetterstein. An der Engstelle wartet auf mich natürlich wieder ein Stau. Da hätte ich mir auch mehr Zeit lassen können! Nach einigem Warten geht es langsam hinunter in Richtung Bach, dann wieder steil hoch. 

Halllloooooo! DA bin ich!

 

Doch richtig steil wird es erst nach dem Hotel Wetterstein. Man sieht die Läuferinnen und Läufer aufgereiht wie auf einer Perlenkette bis hoch zu den Punkt, wo der Pfad nach links abbiegt. Hier müssen auf knapp 1,5 Kilometern 350 Höhenmeter „gemacht werden“. Genau dafür habe ich trainiert. Das sollte jetzt klappen. Ich stürze mich ins Steilstück. 

Allerdings mache ich einen absoluten Anfängerfehler. Ich passe mich dem Tempo der MitläuferInnen vor mir und hinter mir an, anstatt MEIN Tempo zu gehen, das ein paar Takte langsamer wäre. Grund ist: Der Pfad ist so schmal und steil, dass man kaum überholen kann. Nur wenn man an einem der wenigen „Standplätze“ auf die Seite tritt, kann man schnellere Läufer vorbeilassen. Das muss ich auch einige male tun. Ich überpace, komme aber aus der Nummer nicht wirklich raus. Meine Beine fühlen sich jetzt schon wie Pudding an. Verdammt! 

Als ich einmal auf die Seite trete, um durchzuschnaufen und andere vorbeizulassen, sagt jemand von hinten: „Sabine aus Heidelberg?“. Ich bejahe. Er stellt sich als Sebastian vor – und mir dämmert es sofort, dass wir uns von facebook kennen. Jetzt also mal „in echt“. Allerdings war es ein kurzes Vergnügen, ich muss ihn ziehen lassen. 

Endlich erreichen wir das Ende dieses steilen Aufstiegs. Jetzt geht es zuerst mal ein Stück nach unten auf die kurvige, schmale Straße, die von Grindelwald auf die Große Scheidegg führt und auf der neben dem Postauto nur Fahrräder fahren dürfen. Auch wenn man das Postauto bei diesem Aufstieg nicht sieht – man hört es immer wieder und erkennt es an dem charakteristischen Dreiklanghorn, das mich als Werbungsverseuchte an den Jingle aus der Werbung des Multivitaminsaft-Herstellers „Sanostol“ erinnert. In Wirklichkeit ist die Signalabfolge aber der Ouverture zu „Wilhelm Tell“ von Gioachino Rossini entlehnt. 

Auf der Straße stehen einige Leute und feuern uns an. Schon nach einer Serpentine muss die Straße allerdings wieder verlassen werden, denn es geht noch steiler, und beim E51 wird im Zweifel immer der steilste Weg gewählt. Es geht jetzt auf einen Pfad, der ohne große Kurven in direkter Falllinie auf die Große Scheidegg führt und der die Straße mehrfach kreuzt. 

Nur noch ein paar Meter bis zur Großen Scheidegg

 

Bis zur Großen Scheidegg sind jetzt noch rund 400 Höhenmeter innerhalb von 2 Kilometern zu überwinden. Mit einer durchschnittlichen Steigung von 20% also nicht mehr ganz so steil, aber es reicht mir. Denn meine Beine sind immer noch nicht wieder so, wie ich sie kenne. Und auch hier fällt es mir noch schwer, in der Umgebung der vielen Läuferinnen und Läufer MEIN Tempo anzuschlagen. 

Ein enttäuschender Beginn eines Rennens, auf das ich so viel Hoffnung gesetzt habe.

Verpflegungsstation Große Scheidegg: Ich trinke ordentlich Wasser, versuche auch mal das „Carbo Basic Plus“, das hier überall angeboten wird. Es schmeckt genau so künstlich wie es aussieht. Lasse es nochmal mit Wasser verdünnen und drücke es in mich rein. An „festem Essen“ sehe ich nur trockene Brotscheiben, die mich aber ganz und gar nicht anmachen. Sollte es hier nicht auch Obst und Riegel geben? Ja, sollte es. Aber entweder habe ich es übersehen, oder es war schon vergriffen. Wie gut, dass ich meinen selbst gemachten Nudelauflauf dabei habe, in mundgerechte Stücke geschnitten. Davon gibt’s jetzt erst mal 2 Stück, dann geht’s weiter. Und während es auf einem gut laufbaren Weg dahingeht, mache ich eine enttäuschte Meldung an Andrea: Dass meine Beine wie Pudding sind und dass ich nicht weiß, was ich heute reißen kann. Dass die Durchgangszeit an der großen Scheidegg nicht schneller ist als beim letzten mal, sondern fast exakt gleich. Andrea muntert mich auf: Ein Rennen ist lang, ich soll jetzt erst mal rüber zum First kommen. Und an Erik denken, der beim Eiger Ultra Trail so manche Wiederauferstehung erlebt hat. 

 

Zum First – jetzt erst mal Ruhe reinbringen 

Zunächst geht’s auf breiten Wegen, später auf gut laufbaren Pfaden Richtung First. Wenn ich nicht in einem Rennen wäre, würde ich mich hier erst mal ins Gras setzen und diese großartige Landschaft in mich aufnehmen. Links von mir sehe ich hinüber zum First, vor mir ist das Schwarzhorn, nach rechts geht’s ins Haslital und hinter mir reihen sich Wetterhorn, Schreckhorn und Eiger auf. Einfach gigantisch. 

Ich schnaufe mal durch. Wenn es flach ist, laufe ich in relaxtem Tempo, alle Steigungen gehe ich. Meine Beine müssen sich erholen – sonst macht das alles keinen Sinn. 

Der Weg zum First ist ein Aussichtsbalkon ...

 

Irgendwann höre ich Kreischen und andere seltsame Geräusche. Die stammen nicht von Läufern oder Zuschauern, sondern von Kunden des „First Flieger“, einer Flying-Fox Strecke vom First hinunter nach Schreckfeld. Hier scheinen gerade ein paar Endorphine Purzelbaum zu schlagen. 

"Wir warten auf Sabine!" - Andrea studiert die Splittabelle


Mittlerweile ist der First schon in greifbarer Nähe. Wir müssen eine Schleife um den Berg laufen, über den „First Cliff Walk“. Kurz davor gibt es eine Gruppe junger Männer und Frauen, die jede Läuferin und jeden Läufer anfeuert. Man wird animiert, schneller zu rennen. Wird dann bejubelt, als hätte man gerade ein Rennen gewonnen. Verrückt – aber es macht Spaß und tut gut! 

First Cliff Walk


Toll ist natürlich auch der First Cliff Walk. Ich laufe am Felsen entlang und freue mich schon tierisch auf meine Betreuerinnen – Katrin mit Elli, Petra und natürlich Andrea! Petra und Katrin entdecke ich auf einer Loop des First Cliff Walk, die über unsere Strecke hinwegführt und die sich prima als Ausguck eignet. Sie jubeln mir zu und fotografieren. Mir kullern ein paar Tränchen. Irgendwie bin ich gerade sehr emotional. Dann höre ich die Zwischenzeitnahme piepsen. Da ist sie, die Verpflegungsstation. Andrea nimmt mich in Empfang. Fragt, wie es mir geht. Muntert mich auf. Gleichzeitig tauscht sie die Trinkblasen. Baut vor mir mein „Buffet“ auf. Geistesgegenwärtig bemerke ich, dass das die Verpflegung für’s Faulhorn ist. Egal. Ich esse ein paar Kartoffeln, ein paar saure Gurken. Das kommt gerade prima! Außerdem drücke ich mir ein Apfelmussäckchen rein. Auch das schmeckt. Vom offiziellen Verpflegungstisch nehme ich mir einen Orangenschnitz. Hier gibt es jetzt Obst, obwohl das nicht angekündigt war. Eigentlich wäre mir eher nach Banane, aber ein Stück Orange tut es auch. Ich muss mich gut verpflegen, darf nicht in einen Hungerast geraten. Bis ich Andrea das nächste Mal sehe – nämlich am Faulhorn – wird es ca. 3 Stunden dauern. Ich packe mir noch was ein und los geht’s. 

Nur noch ein paar Meter bis zur Verpflegung!

 

Katrin ist mit Elli nochmal auf die Strecke gekommen, damit mich Elli aufmuntern kann. Elli springt mir entgegen – wir nießen uns an und fletschen die Zähne (das ist unser Begrüßungsritual). Katrin sagt: „Glaub an Dich! Du schaffst das!“. Ich habe im Gewirr der Wege die Orientierung verloren und frage Katrin nach dem Weg. Aha, ja, ich erinnere mich. Und weg bin ich. 

Gerade 4 ½ Minuten hat mein Verpflegungsstopp gedauert – aber er hat mich aufgebaut, nicht nur körperlich! 

 

Zum Feld – testen, was noch geht 

Der Weg zum Bachalpsee ist eine Touristenautobahn. Es ist ein breiter Schotterweg, der zuerst mal mit drei steilen Rampen beginnt und danach relativ flach zum See führt. Die Beine fühlen sich wieder besser an. 

Der eigentliche Test für die Beine kommt aber erst nach dem Bachalpsee: der kurze, aber giftige Aufstieg zur Fernandeshitta. Zwar gibt es noch einige Läufer in meiner Umgebung, aber das Feld ist mittlerweile ausgedünnt. Und so kann ich mein Tempo machen und komme ganz ordentlich hoch. Oben wartet die Bergwacht, die hier jedes Jahr ordentlich was zu tun hat, denn der Abstieg unter der Südflanke des Reeti ist verblockt. Immer wieder sehe ich das Schild „Danger“. 

Also bin ich voll konzentriert. Hier kann ich kein Tempo machen. Nach etwa 700 Metern, an einer nächsten Bergschulter, wird das Terrain einfacher – ein leicht abfallender Pfad zieht sich durch die Wiese. Ich laufe auf 3 Damen auf. An der Spitze eine Läuferin, die offenbar selbst mit diesem einfacheren Terrain überfordert ist. Mir ist unklar, warum sie nicht mal auf die Seite tritt und uns vorbeilässt. Die beiden Läuferinnen vor mir nutzen eine der seltenen Gelegenheiten zum Überholen. Als ich an der Reihe bin, versuche ich, verbal auf mich aufmerksam zu machen. „Entschuldigung, darf ich überholen?“. Keine Reaktion. „Excuse me!“. Keine Reaktion. Endlich, an einer steileren Stelle, teilt sich der Pfad in zwei Alternativen. Ich kann endlich vorbei. Mich ärgert, dass ich hier sicher 2-3 Minuten habe liegen lassen, die ich später noch brauchen könnte. Egal, weiter jetzt! 

Direkt hinter der nächsten Bergschulter erwartet uns der Abstieg nach Feld, unserem nächsten Verpflegungspunkt. Es geht steil die Wiese runter. Das Buffet hier ist leider schon ziemlich abgeräumt. Von den versprochenen Kartoffelchips sind nicht einmal mehr Krümel übrig. Nach Käse oder Trockenfleisch steht mir nicht der Sinn. Auch nicht nach Tee. Ein Schild sagt mir, dass es auch Cola gegeben hätte. Hätte, hätte, Fahrradkette. Denn die Cola ist: AUS. Mir bleibt nichts übrig, als 3 Stück Banane und das rote Isogesöff zu nehmen – schnell noch ein bisschen Eigenverpflegung, die ich auch im Rucksack habe … und schon geht’s weiter. 

 

Zum Faulhorn – the final climb 

Ich klettere so schnell wie möglich die Wiese zum Weg wieder hoch. Dabei sehe ich, dass sich noch einige Läuferinnen und Läufer hinter mir befinden. 

Kurz eine Sprachnachricht an Andrea, dass sie auf jeden Fall noch eine Flasche Cola aus dem Berghotel Faulhorn besorgen soll. Sie hat zwar eine dabei, aber ich merke, wie sehr ich die koffeinhaltige Zuckerbrause jetzt brauche, und ich will am Faulhorn sowohl was trinken als auch was mitnehmen. Denn mittlerweile bin ich skeptisch, ob ich am Faulhorn überhaupt was bekomme. 

Die Querung zum Oberläger zieht sich länger als gedacht. Dann kommen ein paar Bauernhäuser in Sicht. 

Der Weg zum Faulhorn

 

Nun ist Ende mit dem lockeren Dahinrollen, jetzt geht’s zur Sache. Aufstieg zum Faulhorn: 660 Höhenmeter in nur 3 Kilometern. Nochmal RICHTIG steil, nochmal RICHTIG hart. Ich schaue auf die Uhr, fange an zu rechnen. Ich habe noch gut eine Stunde und zwanzig Minuten Zeit. Eigentlich kann ich pro 10 Minuten etwa 100 Höhenmeter „machen“. Andererseits habe ich 2018 1 ½ Stunden für den Aufstieg gebraucht. Der Cutoff ist realistisch, aber nicht garantiert. Jetzt muss ich richtig ranklotzen. 

Nach ein paar Metern Asphalt fängt auch schon der Pfad an. Vor mir erstreckt sich eine unendliche Kette hintereinander gereihter Läufer und Läuferinnen. Gleich am Beginn des Pfads sitzen rechts und links zwei Läufer, die nicht mehr weiterkönnen. Ich versuche, sie zum Aufstehen zu motivieren. Sie winken ab. Das wird sehr schwer werden für die beiden. „Beware of the chair“ heißt eine Ultrarunning-Weisheit. Und auch für mich gilt: Stehen: erlaubt – Sitzen: verboten. Zuerst aber geht es darum, in den richtigen Rhythmus zu kommen. Jetzt nicht wieder überpacen wie im Aufstieg zur Großen Scheidegg – das wäre tödlich! 

Vor mir geht ein Läufer in die Spur, der gerade ein Foto gemacht hat. Er schlägt genau das richtige Tempo an. Ich folge ihm. So gehen wir – ohne Unterbrechung – 10 Minuten lang. Dann tritt er zur Seite, mein Pacer ist leider weg. Auch ich muss wenig später anhalten: Zum Trinken. Bei der Steigung kann ich nicht mehr trinken beim Gehen – innerhalb weniger Sekunden wären meine Beine „blau“, weil ich nun mal nicht gleichzeitig trinken und atmen kann. Ich versuche es mit dem Plan: Alle 50 Höhenmeter was trinken und kurz durchschnaufen. So geht es weiter … Mittlerweile sieht man das Faulhorn – und davor die bunte Kette von LäuferInnen, die das gleiche Ziel haben wie ich. 

Dann – mittlerweile sind etwa 250 Höhenmeter des Aufstiegs bewältigt – sehe ich Erik am Weg stehen. Er wartet auf mich, um mich das letzte Stück zum Faulhorn zu begleiten. Kurze Verständigung: Soll er vor mir oder hinter mir laufen? Ich möchte, dass er hinter mir läuft, damit ich MEIN Tempo mache und nicht wieder Gefahr laufe, den Puls zu übersteuern. Erik passt aber auch von hinten wie ein Wachhund auf mein Tempo auf. Als ich beispielsweise auf eine Läuferin aufschließe, die etwas langsamer ist als ich, macht er mich darauf aufmerksam und sagt, ich sollte bei nächster Gelegenheit an ihr vorbeigehen. Alleine wäre ich wahrscheinlich noch länger hinter ihr hergestiefelt, aber nach der Ansage von Erik schere ich aus und überhole sie. 

Train to Faulhorn!

 

Die Sonne brennt, aber es weht ein kühles Lüftchen. Sehr angenehm! Und trotzdem schaffe ich mittlerweile nicht mehr ganz die 50 Höhenmeter, bevor ich wieder zum Trinkschlauch greife. Der Weg zieht jetzt steil nach rechts. Erik versucht, mir den weiteren Wegverlauf nochmal in Erinnerung zu rufen. Er spricht von einem etwas flacheren Wegstück, das bald kommt. Auch wenn ich die Strecke schon mal gelaufen bin und mir unzählige male das Streckenprofil angeschaut habe – jetzt ist mein Kopf leer und ich kann mich an nichts mehr erinnern. Nur an die letzten Serpentinen. Stimmt das, dass demnächst ein etwas flacherer Abschnitt kommt? Erik ist dafür bekannt, ganze Streckenabschnitte zu übersehen, wenn er mal wieder im Tunnel läuft. Aber es stimmt: Als wir auf den Hauptweg kommen, der vom Bachalpsee auf’s Faulhorn geht, wird es tatsächlich flacher. 

Erik sagt: „Noch 16 Minuten bis zum Cutoff“. 

Ich kontere: „Meine Uhr sagt: Noch 19 Minuten“. 

Erik checkt nochmal sein Handy – für solche „Späßchen“ habe ich weder die Luft noch die Zeit. Er bestätigt: Wir haben noch 19 Minuten. Für rund 120 Höhenmeter. Den kompletten Weg bis zum Gipfel kann man von hier aus sehen. 

Der Weg zum Faulhorn - noch müssen wir einige Serpentinen hochkrabbeln!

 

Ich sehe auch den blauen Bogen, der über der Zeitnahme auf dem Faulhorn gespannt ist – als Zeichen für die dortige Bergwertung. Vor vier Jahren, als ich 5 Minuten nach dem Cutoff auf dem Faulhorn ankam, ließ man gerade die Luft aus diesem Bogen. Man kann sich eigentlich kaum eine größere Demotivation vorstellen als das: Da wird einem vor der Nase die Luft aus dem Zielbogen gelassen – und er fällt in sich zusammen. 

Nein, das will ich dieses Mal nicht erleben! Ich denke jetzt nur noch an diesen blauen Bogen, ziehe mich mental an ihm hoch. 

Erik sagt: „Da oben ist Andrea“. Er winkt ihr zu. Ich kann kaum den Kopf heben, um nach ihr zu sehen. Sonst bin ich bei Wettkämpfen bekannterweise der „Grüßaugust“, der jeden grüßt, sich bedankt, den Leuten zuwinkt. 

Nein, jetzt geht das nicht mehr. Die Höflichkeiten muss Erik übernehmen, auch wenn ich mich SEHR freue, Andrea wiederzusehen. 

Zick-zack-zick-zack: Erik und ich auf den Serpentinen zum Faulhorn.

 

In einer steilen Rampe geht es auf die finalen Serpentinen. Ein Helfer kommt uns entgegen: „Noch 10 Minuten bis zum Cutoff“. Oh no, not you again! Diese Szene hatte ich auch 2018 erlebt, aber da war ich noch deutlich weiter unten. Erik ist sich mittlerweile sicher: „Das schaffst Du!“ 

Er sagt mir jetzt immer wieder die verbleibende Zeit an – manchmal höre ich auch den Helfer, der weiter unten die verbleibende Zeit den Läufern und Läuferinnen hinter mir zuruft. 

Ich hole jetzt alles raus, was ich noch in mir habe. Dann denke ich: Verdammt, ich muss ja die Verpflegungsstation bis zum Cutoff verlassen haben. 

Mit der verbleibenden Luft raune ich meine Bedenken Erik zu. Der wiederum mehr Luft hat als ich und per Zuruf Andrea beauftragt, dass sie sich erkundigen soll. Kurz darauf schallt es von oben: „Die Zeitnahme ist im Zielbogen“. 

Der letzte Anstieg ...

 

Gut. Also nur noch dort hinauf. 

„Noch sechs Minuten“. 

Es sind nur noch 2 kleine Serpentinen, dann die finale Rampe hoch zum Zielbogen. Ich höre meinen Puls in den Ohren. Die Beine sind im Eimer. 

Endlich - der GIPFEL!!!

Ich hab’s geschafft! Ich lasse vor Erleichterung und Freude einen lauten Schrei raus. 

Ja, diesmal habe ICH das Faulhorn besiegt. Die Uhr steht auf 13:55:56. Cutoff ist um 14 Uhr. 

Jetzt aber schnell zu Andrea: Sie muss innerhalb kürzester Zeit von „Fotografin“ auf „Betreuerin“ umstellen. Sie tauscht meine Trinkblase aus, die fast leer ist. Ich mache mich mit meiner Flask – die mir heute regelkonform als Trinkgefäß an den Verpflegungsstellen dient – auf den Weg zum offiziellen Verpflegungstisch. COLA! Ich halte dem Helfer meine Flask hin und bitte um Cola. Er schüttelt den Kopf: Das ist nur zum Trinken vor Ort. Aber ich will das HIER trinken! Das ist mein „Becher“. Er weist die Dame mit dem Cola-Krug an, mir die Flask halbvoll zu machen. Innerhalb von 2 Sekunden habe ich die Cola weggepumpt, und ich halte der Dame wieder die leere Flask hin. „Bitte nochmal“. Sie blickt einigermaßen hilflos von mir zu dem anderen Helfer, der aber mittlerweile mit einem weiteren Läufer beschäftigt ist. Schließlich kann ich sie dazu überreden, mir wenigstens die Flask nochmal zu ca. ¼ zu füllen. Auch das trinke ich gleich, spüle dann noch mit Wasser nach und gehe wieder zu Andrea. 

Vor ihr sehe ich ZWEI Colaflaschen. Eine kommt in den Rucksack. Aber eine ist ganz alleine für mich. Ohne Diskussionen. Ich esse ein paar Pellkartoffeln, saure Gurken, ein Stück Nudelauflauf und packe noch ein bisschen was davon in den Rucksack. Die Strecke, bis ich Andrea wieder sehe, ist lang – erst in Burglauenen, also in 20 Kilometern, wird sie wieder auf mich warten. Und nach den Erfahrungen im Feld und am Faulhorn bin ich mittlerweile nicht davon überzeugt, dass ich an den restlichen Verpflegungspunkten überhaupt noch was zu essen oder zu trinken kriege. 

Erik erinnert mich daran, dass der Abstieg von der Gipfelpyramide des Faulhorns sehr technisch ist. Ich solle gut aufpassen - gerade jetzt mit meinen müden Beinen. Ein guter Hinweis! 

Ich bedanke mich nochmal bei beiden, verabschiede mich und mache mich an den Abstieg. 

 

Zur Schynigen Platte – laufen (fast) wie auf Wolken 

Erik hat Recht: Der Pfad auf der Westseite des Faulhorns ist wirklich steinig und steil. Ich gehe zügig, aber vorsichtig. Mit mir sind noch einige andere Läufer unterwegs, auch sie sind sehr vorsichtig auf dieser Strecke. 

Doch schon bald ist man auf dem breiten Bergrücken angekommen, der das Faulhorn mit dem Bira verbindet. Ich laufe wie auf Wolken. Kann immer noch nicht fassen, dass ich den Cutoff am Faulhorn geschafft habe. Ich gönne mir etwas Zeit, schaue mich um. Vor 2 Jahren sind wir mit Katrin hier gewandert, doch da waren wir in den Wolken. Alles, was wir damals sahen, war eine Geröllwüste. Jetzt ist es aber perfekt: Links die Berggiganten des Berner Oberlands, rechts der türkisgrüne Brienzer See, über uns ein paar Wölkchen, die immer wieder die Sonnenstrahlen abmildern – und überdies bläst ein kühler Wind. Die Bedingungen könnten nicht besser sein! 

Das Faulhorn liegt hinter mir - jetzt nur noch runter vom Berg!

 

Jetzt beginnt also der Abstieg. Eigentlich bin ich keine gute Downhillerin – aber jetzt freue ich mich darauf, dass sich meine Beine mal erholen können. 

Lange ist den Beinen aber keine Erholung gegönnt, denn nach gut 2 km beginnt die Umrundung der Sägissa – und deren Bergflanken warten mit einem sehr ruppigen Gelände auf. Keine Felsplatte steht in der gleichen Richtung wie die andere, häufig gibt es ausgewaschene Stellen und diverse Fußangeln. 

Aua. Es ist erst kurz hinter dem Berghaus Männdlenen, und schon haue ich mir zum dritten Mal meinen linken „Zeigezeh“ an einem hervorstehenden Fels an. Verdammt! Das kann noch heiter werden. Vor allem: jetzt bloß nicht stürzen! Ich hoffe, dass das ruppige Gelände bald Geschichte ist, sobald wir ins Sägistal kommen. Und richtig: Kaum ändern wir die Richtung von Nordost nach Südwest, schon ändert sich die Wegbeschaffenheit – das Gelände wird wieder „laufbar“. 

Was für eine Aussicht: Die Bergwelt des Berner Oberlandes

 

Doch vor mir baut sich ein anderes Hindernis auf. Ein offensichtlich aus Korea stammende Wandergruppe mit ca. 40-50 Leuten bevölkert den engen Pfad, ich laufe auf sie auf. Schon befürchte ich, dass mich das Überholmanöver Nerven kosten könnte. „Excuse me!“ rufe ich den ersten zu, einem Paar, die beide eine Gesichtsmaske tragen. Sie drehen sich um, sehen mich, gehen aus der Spur. Ich rufe „Thank you!“. Die beiden: „Thank YOU!“ … mit leichter Verbeugung zu mir. Danach rufen sie auf koreanisch etwas nach vorn, was wohl die nächsten warnen soll. Und so wiederholt sich das „Thank you“ – „Thank YOU“ Spielchen, bis ich an allen vorbei bin. Ich grinse in mich hinein. Das war mal ein netter und überraschend unkomplizierter Überholvorgang! 

Am oberen Ende des Sägistals befindet sich der Verpflegungspunkt „Egg“. Hier gibt es „nur“ Wasser – dafür ist man dort aber nicht knauserig. Ich fülle zweimal nach, der Helfer will aber nochmal genau wissen, ob ich auch genügend zu trinken habe – die nächste Verpflegungsstation sei noch weit. Ja, danke, das habe ich! Was für ein positiver Kontrast zur Station am Faulhorn! 

Was für eine Aussicht: Sägistalsee und Brienzer See

 

Bei Egg queren wir auf die Westseite das Hochtals, das sich zwischen Schynige Platte, Loucherhorn und Schilt aufspannt. Unterhalb des Loucherhorns erreichen wir die westliche Abbruchkante des Bergstocks, und dort wird es die nächsten Kilometer entlang gehen. Das bedeutet für uns Läufer: Immer wieder Gegenanstiege (auch mal eine Leiter), permanentes Auf- und Ab – aber auch phantastische Ausblicke auf Thuner- und Brienzer See. So geht das jetzt 3 Kilometer lang. Mühsam überhole ich eine 3er-Gruppe von Läufern, die nicht ganz so willig sind, mich passieren zu lassen wie vormals die Koreaner. Und endlich sehe ich die Stelle, wo ein Pfad von unserem Höhenweg abzweigt und nach unten führt. 

Was für eine Aussicht: Thuner See und Brienzer See

 
Der lange Weg auf die Schynige Platte

Jetzt beginnt also der eigentliche Abstieg. Gut 1000 Höhenmeter werden wir in den nächsten Kilometern bis nach Burglauenen „vernichten“. 

Nach dem ersten kleinen Downhill sehe ich eine Helferin. Sie zeigt den Weg nach Schwand. In Schwand soll es Cola geben! Und die könnte ich jetzt gut brauchen. Es geht einen unangenehm steilen Schotterweg nach unten. Dann zweigt ein Pfad in eine Wiese ab. Doch was von oben nach einem angenehmen Wiesenweg aussah, ist schwer zu laufen. Denn unter dem Gras verstecken sich unebene Felsplatten. Mein „Zeigezeh“, den ich vorher so oft angeschlagen hatte, steht jetzt auf der Zehenkappe auf und schmerzt. Ich hätte wohl vor dem Rennen den Zehennagel doch kürzer schneiden sollen? Auf jeden Fall werde ich mir in Schwand eine kurze Pause und ein Taping der lädierten Füße gönnen. Und ich funke Andrea an, dass die mir ein paar Ersatzschuhe nach Burglauenen bringt. Das wäre eine Wohltat für die geschundenen Füße! 

Endlich erreiche ich Schwand. Es geht um ein Bauernhaus herum, auf der Rückseite und im Schuppen ist die Verpflegungsstation. Und: Es gibt tatsächlich Cola. Und zwar so viel wie ich will! Auch wenn jetzt nur noch wenige LäuferInnen eintröpfeln, ist man hier noch gut bestückt – und auch sehr freundlich. Ich esse und trinke gut, dann packe ich meinen „Sanitätssack“ aus und kümmere mich um meine lädierten Zehen. 

Während ich die Zehen verarzte, kommt eine weitere Läuferin in die Station. Eine Helferin fragt nach ihrem Alter. „Siebzig“ sagt sie. Die ganze Verpflegungsstation fängt an zu applaudieren – auch ich unterbreche meine Selbstverarztung und applaudiere auch. Wahnsinn! Bis ich meine Füße wieder in den dreckigen Socken und Schuhen habe, ist Rosmarie Aemmer – so heißt die Siebzigjährige – schon wieder aus der Verpflegungsstation draußen. Ich werde sie erst im Ziel wiedersehen … 

 

Nach Burglauenen – down, up, down, down! 

Jetzt „nur“ noch nach Burglauenen, von dort sollte es easy sein. Nur noch ... Hahaha. 

Vor allem der Anfang des Teilstücks Richtung Burglauenen ist alles andere als einfach. Fängt zwar harmlos an – ein schöner, nicht zu steiler Pfad führt über eine Wiese. So dürfte es gerne weitergehen, wenn es nach mir ginge. Die Zehen schmerzen nicht mehr so sehr, nachdem ich sie gut abgetaped habe. Ich hab was getrunken und gegessen. Also alles gut! 

Nein. Nicht alles gut. Denn wir müssen, bevor wir mit dem eigentlichen Abstieg beginnen können, erst mal unter der Felsnase des Schilt entlang. Also geht’s im Wald zuerst mal steil nach unten. Das Problem dabei: Das ist ein Wurzelpfad, obendrein durchsetzt mit Steinplatten. Die wiederum in jede Richtung stehen. Hier ist wieder höchste Vorsicht angesagt, wenn man unverletzt ankommen will. Und ich hatte gedacht, das hier könnte ich einfach so abspulen. Immer wieder stehen Schilder: „Danger“. 

Ich laufe auf einen Läufer und eine Läuferin auf, scheinbar in der „Couples“-Wertung. Sie beugt sich immer wieder vornüber – hat wohl Rückenprobleme. Er hat einen Sonnenbrand im Nacken, der ihn heute Nacht sicher nicht ruhig schlafen lassen will. Sie gehen zur Seite. „Ist alles in Ordnung?“. – „Yes“. Ich bin mir zwar nicht so sicher, ob das stimmt, aber ich muss mit der Selbstauskunft zufrieden sein. Außerdem wüsste ich ehrlicherweise nicht, wie ich den beiden helfen könnte. Ich hoffe nur, dass hier heute Abend die Bergwacht nochmal durchgeht. 

Mittlerweile geht es eng an der Felsnase vom Schilt vorbei, rechts geht es einen bewaldeten, steilen Hang hinunter. Und genau an dieser Grenze verläuft der ruppige Pfad. Hier und da mit Seilsicherungen, es gilt die eine oder andere Brücke bzw. Metallplatte zu überqueren. 

Und so steil, wie es gerade noch hinuntergegangen ist, geht es jetzt wieder rauf. Auf diesen Gegenanstieg (von 150 Höhenmetern) war ich zwar mental vorbereitet – dennoch ist er sehr hart. 

Endlich ist der Gegenanstieg geschafft. Für die 1,5 Kilometer um die Felsnase herum habe ich geschlagene 37 Minuten gebraucht! Klappt das noch mit dem Cutoff in Burglauenen? 

Bislang habe ich mir seit dem Faulhorn keinen großen Kopf mehr um den Cutoff gemacht. Nicht, weil ich mir dessen sicher war, sondern weil ich wusste, dass ich die Runde jetzt so oder so zu Ende bringen würde. Jetzt aber fange ich an zu rechnen. Ich habe jetzt weniger als eine Stunde für die restlichen 3,5 Kilometer mit 550 Höhenmetern, die noch vernichtet werden müssen. Eigentlich könnte das reichen, aber nur dann, wenn das Terrain jetzt einfacher wird. 

Und das Terrain wird tatsächlich einfacher. Es ist zwar immer noch: steil – steil – steil. Es gibt immer noch Wurzeln und kurze, ruppige Stücke. Aber es gibt auch laufbare Abschnitte. 

In einem Steilstück im Wald bleibe ich zum zigsten Mal mit meinem Schuh an einer Wurzel hängen. Ouch – mein Zeh! Ich bin so wütend, dass ich mich rumdrehe und mit meinem Stock auf die Wurzel eindresche. Im gleichen Moment rufe ich mich zur Ordnung: „Sabine! Was bringt es, jetzt gefühlsinkontinent zu werden und am Ende noch den Stock zu zertrümmern, den Du jetzt unbedingt brauchst?“ 

O.k., ich beruhige mich, weiter geht’s. 

Die eigentlichen Dramen spielen sich zur gleichen Zeit in Burglauenen ab: Andrea und Katrin warten auf mich und stehen an der Wiese, wo jeder Läufer und jede Läuferin nochmal einen steilen Pfad runterrennen muss. Wenn man das geschafft hat, ist man praktisch schon in der Verpflegungsstation. 

Burglauenen - endlich Schuhwechsel!

 

Andrea und Katrin glauben, dass in Burglauenen um 18:45 Schluss ist – meine Angaben dazu waren widersprüchlich. Sie rechnen sich aus, bis wann ich spätestens oben an der Wiese erscheinen muss, damit ich noch eine realistische Chance habe. Stoppen die Zeit, die andere Läufer vom Abzweig in die Wiese bis zur Verpflegungsstation brauchen. „Ist das Sabine?“. „Nein, ist sie nicht.“ „Aber die läuft doch wie Sabine.“ „Sabine hat ein blaues Shirt“. Minute um Minute verstreichen. 18:40 – 18:41 – 18:42 – 18:43. Da sehen sie mich endlich. Andrea feuert mich kurz an und läuft dann schon vor in die Verpflegungsstation – Katrin filmt meinen mittlerweile sehr unrunden Lauf und schreit mich regelrecht in Richtung Burglauenen. Ich denke, das ist wegen des Films, laufe so schnell es geht. Dann piepst es. Zeitnahme: Um 18 Uhr 45 und 47 Sekunden durchlaufe ich die Zeitmessung. Und kann meine beiden Betreuerinnen aufklären: Cutoff ist hier erst um 19 Uhr! 

Jetzt aber erst mal Schuhwechsel – denn mittlerweile haben sich an beiden Füßen an den Fußsohlen hinter den Zehen Monsterblasen gebildet. Diese Probleme hatte ich bislang nie. Von den Dynafit Ultra 100 geht’s jetzt in die ausgelatschten HOKA Speedgoat. 

Andrea hat mir etwas mitgebracht, was ich gar nicht „bestellt“ hatte: Eine Dose meines alkoholfreien Lieblings-IPAs - sogar noch halbwegs kühl! Das kommt jetzt genau richtig. Außerdem gibt’s wieder Kartoffeln und Gurken und Cola. Damit sollte ich bis Grindelwald kommen. 

Katrin bindet mir die Ersatzschuhe zu – jetzt bin ich „rennfertig“. Und schon geht’s wieder raus aus der Verpflegungsstation – natürlich nicht ohne einen kurzen Umweg unter die „Dusche“ zu nehmen, die das Verpflegungsteam hier aufgestellt hat. 

Burglauenen: Schuhwechsel, 1 Bier, 1 Cola und 3 Kartoffeln in knapp 4 Minuten - reif für die Formel 1!

 

 

Nach Grindelwald – 7 Kilometer Zielgerade 

Die ganze Verpflegung und der Schuhwechsel in Burglauenen haben nicht einmal 4 Minuten gedauert – und ich bin zurück auf den Beinen und auf der 7 Kilometer langen Zielgeraden nach Grindelwald. Ich weiß, dass ich das Rennen „im Sack“ habe. Da müsste es jetzt mit dem Teufel zugehen und ich Krämpfe bekommen oder sonst was. 

Gleich am Anfang dieses letzten Teilstücks mache ich einen Fehler: Ich überquere die Schienen – parallel zur Straße. Dabei gibt es extra eine Helferin, die einen separaten Übergang bewacht, der für die LäuferInnen eingerichtet ist. Die Helferin ist darüber nicht amüsiert, schreit „Hallo!!!“ – aber ich habe die Schienen fast schon überquert. Jetzt laufe ich nicht mehr zurück. Ich bedeute ihr, dass ich sie – wirklich! – nicht gesehen habe. 

Ich war halt im Tunnel. Ich will jetzt auch im Tunnel sein, die restlichen Kilometer nach Grindelwald genießen. Zwar tun mir die Blasen weh, aber das ist kein schlimmer Schmerz. Das ist ein Schmerz, der einen an das erinnert, was man geleistet hat. 

Es geht jetzt an der Schwarzen Lütschine entlang, die sehr viel Wasser führt und unglaublich laut ist. Immer wieder checke ich den Zeitschnitt und die verbleibenden Kilometer. Ich will nicht nur den Cuttoff um 20:30 schaffen, ich will mindestens 15 Minuten schneller sein. 

Jetzt muss ich mich nicht mehr auf den Weg konzentrieren, die Gedanken fangen an zu wandern. Ich denke noch mal an’s Faulhorn. Wie ich den blauen Bogen erreicht habe, gut 4 Minuten vor dem Cutoff. Ich denke an Gunhild Swanson, die 2015 im Alter von 70 Jahren beim Western States gerade mal 6 Sekunden vor dem Cutoff im Ziel war. Und ich muss an meinen verstorbenen Vater denken, der – wäre er noch bei guter Gesundheit – heute gerne dabei gewesen wäre. 

Dann sehe ich Grindelwald vor mir. So nah das Ziel jetzt scheint, es sind immer noch fast 4 Kilometer zu laufen. Ich überhole noch einen letzten Läufer. Dann geht es über die Schwarze Lütschine – und ein bisschen später queren wir auch die Gleise der Wengernalpbahn. Hoffentlich kommt jetzt kein Zug! Nein, alles frei. Gottseidank muss ich nicht anhalten. 

Nach einem kleinen Anstieg führt der Weg durch eine große Wiese. Das hier kenne ich: Noch 500 Meter, dann geht nach links weg, zum letzten, steilen Aufstieg hoch nach Grindelwald. 

Drei Asiaten sitzen auf einer Bank und jubeln mir zu. Ich bedanke mich. Das mit dem Grüßaugust funktioniert wieder … 

Am letzten steilen Berg kommt mir Erik entgegen. Er ist total beeindruckt, erzählt mir, dass er nach der engen Kiste auf dem Faulhorn nicht geglaubt hat, dass ich die Zielschlusszeit schaffe. Ich gehe so schnell wie ich kann, die Beine brennen, ich schnaufe immer mehr. Erik sagt mir wieder die Entfernungen an. „Da vorn noch kurz links, dann rechts, dann bist Du oben“. Ich sehe unser Hotel, unseren Balkon, der genau gegenüber von der Stelle liegt, an dem die Läufer des E101, E51 und E35 auf die Hauptstraße kommen. 

Schließlich habe ich auch diesen letzten Anstieg geschafft. Vor 13 Stunden, denke ich mir, stand ich mit Wolfgang und Erik an genau diesem Punkt. Habe mich gefragt, was der Tag wohl bringen wird. Es war ein langer Tag, aber auch ein Tag voller Erlebnisse. Ein Tag, den ich so schnell nicht vergessen werde. 

Erik und ich marschieren die Hauptstraße entlang. Ich zeige auf einen Gullydeckel: Dort werde ich wieder anfangen zu rennen. Ich will den Einlauf ins Ziel genießen. 

Im Zielkanal - und im Tunnel ...

 

Schnell sind wir am Zielkanal. Erik schert nach links aus, ich laufe hinein. Petra und Katrin stehen da und jubeln mir zu. Ich übersehe Elli – das ist mir noch nie passiert! – und sie schaut mir verständnislos nach. 

Jetzt nur noch über die Brücke und unfallfrei nach unten auf den roten Teppich ins Ziel. Jeder Schritt tut weh und gleichzeitig genieße ich jeden einzelnen Schritt. Das, was mir – vor allem aufgrund eigener Fehler – vor 4 Jahren versagt geblieben ist, habe ich jetzt geschafft. 

Finish in 12:53:08!!! 

Die Uhr zeigt jetzt 20 Uhr und 8 Minuten – ich habe den Cutoff um 22 Minuten unterboten. 

Die letzten Meter - auf dem roten Teppich!

 
Im Ziel!

Dann stehe ich hinter der Ziellinie, ein bisschen wie bestellt und nicht abgeholt. Ein Helfer kommt auf mich zu, gratuliert mir und hängt mir die „Medaille“ um den Hals: Den Eiger Stone. Der ist riesig! 

Ich schaue mich um. Mit Ausnahme der kurzen Treffen an den Verpflegungsstunden war ich die ganzen letzten 13 Stunden allein. Jetzt kommen alle in den Zielraum: Natürlich Andrea, die mich als erste beglückwünscht. Katrin, Erik und Elli (letztere beißt als erstes in die Medaille), Petra und Wolfgang. 

Endlich höre ich auch von Wolfgang, wie es bei ihm gelaufen ist. Er war schon mehr als 3 Stunden vor mir von seiner großen Schleife zurück: 9 Stunden, 36 Minuten und 12 Sekunden hat er für seinen E51 gebraucht! Saustark! 

Auf dem Weg von Burglauenen nach Grindelwald habe ich mir vorgestellt, wie ich durch den Zielbogen laufe; ich habe mich gefragt, wie das wohl sein würde: Würde ich total ausflippen? Würde ich emotional werden und heulen? 

Jetzt, im Ziel ist es ganz anders, als ich mir vorgestellt habe. Ich bin ruhig, zufrieden und glücklich. Am besten könnte ich das mit dem vielleicht etwas angestaubten Begriff „selig“ beschreiben. Alles ist gut. 

Wir stehen noch ein bisschen herum. Wolfgang, Erik und ich fachsimpeln über das Rennen, Andrea und Petra machen Fotos, Katrin muss Elli bändigen, weil die am liebsten das „Buffet“ im Ziel abräumen würde – ist doch alles für sie, oder nicht? Ich treffe auch Rosmarie, die Siebzigjährige, wieder. Sie hat auch gefinisht – sogar mehr als 20 Minuten vor mir. Super! So möchte ich auch alt werden … 

Dann gehen wir ins Hotel – ich bin schmutzig und müde. Und glücklich. Dieses Jahr habe ich endlich den Stein vom Eiger bekommen! 

Der Eiger Stone!

 

 

Elli macht den Beißtest: "Ist die Medaille echt?"

Noch ein bisschen fachsimpeln ...

... einfach nur selig!



Mein Fazit zu meinem Rennen

Was gut lief: 

  • Das spezifische Training: Ich wusste, dass das Faulhorn DER Knackpunkt werden würde, und genau darauf habe ich mich vorbereitet. Bin immer wieder die steilsten Anstiege der Region hochgekrabbelt, war mit Andrea am Pilatus. Vor allem aber den Wiederholungseinheiten am Schauinsland schreibe ich zu, dass ich in diesem Jahr am Faulhorn so viel schneller war als 2018: Für den Schlussanstieg vom Oberläger bis zum Faulhorn brauchte ich in diesem Jahr (1:18:22) über neun Minuten weniger als 2018 (1:27:59). 
  • Die mentale Vorbereitung: Mir war in diesem Jahr klar, dass es sehr hart werden würde, dass es wehtut. Vor allem aber hatte ich ein Konzept, das mir die Hintertür für ein Ausscheiden verschlossen hat: Ich wollte die Runde finishen, come hell or high water. Zwar hätte ich nicht gedacht, dass ich auf dieses Ausweichkonzept so früh würde zurückgreifen müssen, schon an der Großen Scheidegg. Aber als ich das Konzept brauchte, war es da. Und auch in den schwierigen Abstiegspassagen Richtung Burglauenen ließ es mich nie verzweifeln. 

Der Kampf gegen den Cutoff in Zahlen.

 

  • Das Essen: Ich hatte in der Vergangenheit – ohne es zu merken – schon häufig Probleme, wenn ich zu wenig gegessen habe, beispielsweise beim ZUT Basetrail XL oder beim Transruinaulta. Besonders hoch ist die Gefahr, wenn es an den Verpflegungsstationen nicht das gibt, wonach mir der Sinn steht. Und auch bei der Eigenverpflegung bin ich wählerisch: Mit Gels kann ich überhaupt nichts anfangen, und auch Riegel werden mir schnell zuwider. Ich brauche gut verdauliches, eher salziges „Real Food“. Gerade für einen solchen Lauf wie der Eiger, bei dem das Angebot an herzhaftem Real Food nicht berauschend ist, habe ich unterschiedlichste Nahrungsmittel im Training und bei kürzeren Rennen ausprobiert. Sehr gut funktioniert haben die gekochten Kartoffeln und saure Gurken sowie das Apfelmus in Tüten. Mein im Training und Rennen schon getesteter Nudelauflauf hat zwar auch funktioniert, auf den hatte ich aber weniger Appetit – dazu war ich wahrscheinlich zu hochtourig unterwegs oder es war zu warm. 
  • Der Fokus: Vor vier Jahren war ich überall und nirgends. Habe gefilmt, den anderen die Marschtabellen erklärt, war selbst während meines Rennens im Kopf beim Rennen der anderen. Das konnte nicht gut gehen. In diesem Jahr habe ich mich voll auf mich fokussiert. Schon im Training, in den Tagen vor dem Rennen, aber auch beim Rennen selbst. Das war wichtig und exakt richtig. Ein solches Rennen kann man nicht vernünftig laufen, wenn man nicht mit ganzem Herzen und ganzem Hirn dabei ist! Natürlich muss ich zugeben, dass ich hier oder da auch wieder die Kamera gezückt habe, wenn mich die Natur überwältigt hat. Aber das hat meinen Rennablauf nicht gestört!
  • Die Crew: So viel Betreuung! Das war fast schon ungewohnt für mich. Und hat mich in der Woche vor dem Rennen geradezu nervös gemacht. Ich hatte Angst, meine Freunde zu enttäuschen! Aber am Renntag haben mir alle unglaublich geholfen. Es war für mich sehr wichtig, dass ich in den langen 13 Stunden drei "Stützpunkte" hatte - First, Faulhorn und Burglauenen - wo ich wußte, dass jemand auf mich warten würde. Auch wenn jeder sein Rennen selbst laufen muss: Meine Crew hat mich enorm gepusht. Daher: Danke an Erik für den "Almauftrieb" am Faulhorn, und Danke an Andrea, Katrin, Petra, Wolfgang und Elli für's Anfeuern, für die Verpflegung, für die Hilfe an den Verpflegungsstationen. Ohne Euch wäre es nicht dieses unvergessliche Erlebnis geworden!

Was nicht gut lief: 

  • Das Overpacing am Anfang. Ich konnte mich nicht auf mein Tempo fokussieren. Das ist mir bei einem vergleichbaren Rennen noch nie passiert und führte dazu, dass ich schon schnell (und für ganz schön lange Zeit) Pudding in den Beinen hatte. Ein Punkt, den ich bei weiteren Rennen auf jeden Fall berücksichtigen sollte! 
  • Die Gewichtsabnahme in der Vorbereitung: 6 Kilo sollten runter, 2 habe ich geschafft. Bei einem Rennen mit so viel Höhenmetern wäre natürlich noch mehr drin gewesen, wenn ich ohne Leistungseinbußen mein Gewicht noch stärker hätte reduzieren können. 

 

Heute war mein Tag!

 

 

Mein Fazit zur Veranstaltung 

Der Eiger Ultra Trail ist eine sehr professionell organisierte Veranstaltung. Nicht umsonst sind wir schon seit 2017 jedes Jahr in wechselnder Besetzung dabei. Das Highlight sind natürlich die tollen Strecken durch die einmalige Landschaft. Und in diesem Jahr war auch noch das beste Wetter, das man sich vorstellen kann: Sonne, am Nachmittag ein paar Wolken, keinerlei Gewittergefahr, in der Höhe ein kühles Lüftchen. 

Es gibt aber einen Punkt, der den Eiger Ultra Trail von vielen anderen Veranstaltern abhebt: Das Sicherheitskonzept. Mir war schon in den Vorjahren aufgefallen, wie viele Leute von der Bergwacht auf der Strecke unterwegs waren. Auch wenn es sicher schon Jahre gab, bei denen diese Helfer mehr zu tun hatten als in diesem Jahr – zum Beispiel bei Gewittern – so war auch in diesem Jahr auf der zweiten Streckenhälfte spätestens alle 2-3 Kilometer ein Mitglied der Bergwacht positioniert. Die fragten auch mal nach, ob alles o.k. ist oder machten auf Gefahrenstellen aufmerksam. Mehr kann man in Sachen Sicherheit kaum machen! 

Es gibt aber Punkte, bezüglich derer ich mit dieser Veranstaltung hadere. Zuvorderst ist das das Thema „Verpflegung“. Was der Eiger Ultra Trail hier zu bieten hat, ist m.E. im Vergleich mit anderen Veranstaltungen eher Mittelmaß. Besonders ärgerlich ist, dass bei einigen Verpflegungsstationen (Große Scheidegg, Feld) für den hinteren Teil des Starterfelds die Auswahl sehr gering ist. Alles Salzige (z.B. Chips) war bei dem VP Feld 20 Minuten vor Cutoff schon abgeräumt. Und das war kein Einzelfall: Auch 2018 machte ich die gleiche Erfahrung, damals ebenfalls knapp vor dem Cutoff. Noch kritischer sehe ich die Handhabung der Getränkeausgabe auf dem Faulhorn. Laut Verpflegungsplan des Veranstalters ist lediglich der Refill des Carbo Basic Plus am Faulhorn ausgeschlossen. Man muss dann schon tiefer ins Wettkampfreglement reingehen, welches besagt, dass beim Faulhorn ein Refill von maximal 50 dl Wasser gewährt wird. Diese beiden Informationen sind schon widersprüchlich. Was aber an keiner Stelle zu finden ist: Dass die Getränke zur Verpflegung vor Ort auch nur in homöopathischen Dosen ausgegeben werden. 

Mir ist durchaus bewusst, dass es am Faulhorn (wie auch beim VP Egg) sehr aufwändig ist, das Material für die Verpflegungsstation anzutransportieren. Und ich kann auch low budget Veranstaltungen verstehen, die bei solchen Fragen sagen: No Whining! Dies hier ist aber keine low budget Veranstaltung. Da finde ich Diskussionen in Verpflegungspunkten, wer sich wie viel nehmen darf oder wer wie viel bekommt, schlichtweg daneben. Und gleichzeitig macht eine Veranstaltung keine gute Figur, bei der die langsamen Läufer weniger Verpflegung vorfinden als die schnellen. Ist das der Qualitätsstandard, dem sich die „by UTMB“-Rennen verpflichtet fühlen? Just saying … 

Und noch ein Hinweis vom Ende des Läuferfelds: LäuferInnen, die mit den Zielschlusszeiten kämpfen, lesen die diesbezüglichen Regularien meist sehr genau. Und da steht in den Wettkampfreglungen: „Die Läufer müssen vor der Zeitlimite den Posten verlassen, unabhängig der Ankunftszeit beim jeweiligen Posten“ (Abschnitt 6.1.). Solche Regeln gibt es bei vielen internationalen Rennen. Das funktioniert aber nur, wenn man eine „in-Time“ und eine „out-Time“ in allen Verpflegungszonen nimmt. Beim E51 (und möglicherweise auch auf den anderen Strecken) gibt es aber lediglich eine „in-Time“, denn die Zeitmesspunkte befinden sich immer am Anfang, teilweise sogar vor einer Verpflegungsstation. Diese Diskrepanz zwischen Wettkampfreglement und Praxis hat mich schon 2018 verunsichert, in diesem Jahr wieder. Wenn die Veranstalter keinen Wert auf das Verlassen der Verpflegungszone legen, dann sollten sie den entsprechenden Satz auch aus ihrem Wettkampfreglement streichen! 

 

Und noch ein P.S. 

Es gab für mich noch ein kleines, unerwartetes „Nachspiel“ zum Eiger Ultra Trail. Am Sonntag wollten wir noch eine „kleine“ Regenerationswanderung mit Katrin, Erik und Elli machen. Nun ist es nicht verwunderlich, dass ich nach dem Kampf am Vortag müde Beine hatte; darüber hinaus schmerzten die Monsterblasen, die ich an beiden Fußsohlen hatte, bei jedem Schritt. So dauerte die Wanderung (7 Kilometer, 750 Höhenmeter) fast 4 Stunden! 

Mir fiel aber auf, dass ich ziemlich lustlos war. Das ist ungewöhnlich! Und als wir mittags in Alpiglen einkehrten, hatte ich kaum Appetit. Ich führte das – wie auch die Appetitlosigkeit am Vorabend – auf die große Anstrengung zurück. 

Auf der Heimfahrt begann dann mein Hals seltsam zu kribbeln und ich musste immer wieder husten. Am nächsten morgen fühlte ich mich irgendwie komisch und ich machte das, was man heute in solchen Situationen so macht: Einen Corona-Test. 

Ich traute meinen Augen nicht, als ich dort einen zweiten Strich entdeckte. Ich hatte tatsächlich Corona! 

In Anbetracht der Inkubationszeit muss ich wohl – ohne es zu wissen – den E51 mit Virus gelaufen sein. 

Ich hoffe, dass ich bald wieder auf den Beinen bin – und dann: See you on the trails! 

 

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