TRANSRUINAULTA: Von Schluchten, Trails und leeren Beinen


von Sabine




RĂŒckblende: Andrea und ich sitzen im Auto, sind auf dem Heimweg vom ZUT. Wir sind beide den Basetrail gelaufen; zeitgleich waren Katrin auf dem Basetrail XL und Erik auf dem Supertrail unterwegs. Vor dem ZUT hat Andrea immer wieder gesagt, dass sie sich darauf freut, das Training nach dem ZUT wieder herunterzufahren - weil dann endlich keine WettkĂ€mpfe mehr anstehen. Jetzt fragt sie mich unvermittelt: „Gibt es eigentlich im Herbst auch einen schönen Trail-Wettkampf, an dem wir teilnehmen könnten?“. Kurz steht mir der Mund offen, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber das Erfolgserlebnis beim ZUT, vor allem der tolle Zieleinlauf hat Andrea gepackt, etwas in ihr verĂ€ndert 
 sie ist „hooked“, wie der Amerikaner so schön sagt.

Eine solche Situation muss genutzt werden – wenn man Andrea schon mal am Angelhaken hĂ€ngen hat. Sofort bete ich ihr sĂ€mtliche in Frage kommende Veranstaltungen herunter. Und bei einem Wort hakt sie ein: „Transviamala“. Via mala – der schlechte Weg – das hört sich interessant an. Gab es da nicht auch mal einen Roman und einen Heimatfilm? Ich erzĂ€hle ihr, dass am Wochenende des Transviamala auch der Transruinaulta durchgefĂŒhrt wird – der erstere fĂŒhrt durch die Schlucht des Hinterrheins, der andere durch die des Vorderrheins – und dass man die WettkĂ€mpfe auch in Kombination machen kann.

Zwei Frauen, ein Entschluss: Wir melden uns zur Kombinationswertung „Schluchtenprinzessin“ an, in der man samstags den Transruinaulta curta (24 km, 850 Höhenmeter) und sonntags den Transviamala curta (11,5 km, 740 Höhenmeter) lĂ€uft.



Start mit Schwierigkeiten

Vier Monate sind seit dem ZUT vergangen. Wir haben weiter trainiert. Waren im Urlaub – und haben  in den PyrenĂ€en einige Wanderungen gemacht. Der Zero Hunger Run nach dem Urlaub hat gezeigt: Wir sind fit.

Dann ein kurzer Schock: Bei der Autovermietung stellt sich heraus, dass ich das Auto fĂŒr das verkehrte Wochenende gemietet habe. Kurzzeitig stehen viele Fragezeichen ĂŒber dem Unternehmen „Schluchtenprinzessin“.


Da geht's lang: Wir beide am Tag vor dem Rennen.


GlĂŒcklicherweise kann man uns kurzfristig helfen, und so kommen wir am Freitag pĂŒnktlich in unserem Standort Bonaduz an. Ein richtiges Wettkampf-Feeling will noch nicht aufkommen – was vor allem daran liegt, dass es beim Transruinaulta die Startnummer erst unmittelbar vor dem Start gibt. Ich bin nicht der Fan von großen Marathonmessen oder Pre-Race Parties. Aber so ganz ohne das Kribbeln am Vortrag? Das fĂŒhlt sich wirklich seltsam an 


Wir haben uns ein nettes Hotel ausgesucht. Riesiges Zimmer, gemĂŒtliches Bett, behindertengerechte Dusche (nach dem Wettkampf sehr wichtig!). Als wir dort beim Abendessen die Speisekarte studieren, bemerken wir, dass die Auswahl nicht wirklich fĂŒr‘s Carboloading geeignet ist. Die Folge: Ich liege abends im Bett und kann nicht einschlafen – nicht vor Aufregung, sondern vor Hunger 😟.

Den Wettkampfmorgen können wir ruhig angehen lassen, denn der Transruinaulta curta wird erst ab 11:30 gestartet. Da der Transruinaulta schon kurz nach dem Start auf schmalen Pfaden verlĂ€uft, gehen hier die LĂ€uferinnen und LĂ€ufer im Einzelstartmodus – oder wie der Veranstalter es nennt: im „Tröpfelstart“ – auf die Strecke. Unsere Startzeit wurde uns ein paar Tage vorher mitgeteilt: 12 Uhr, high noon.

Also genug Zeit zum Ausschlafen, Vorbereiten, FrĂŒhstĂŒcken und zur Anreise nach Ilanz. Die erfolgt mit der RhĂ€tischen Bahn und erfordert einen Umstieg. Lange rĂ€tseln wir herum, welchen Zug wir nehmen sollten – schließlich sind wir von der Deutschen Bahn traumatisiert mit ihren stĂ€ndigen VerspĂ€tungen und ZugausfĂ€llen. Ganz anders bei den Schweizern: Trotz erhöhtem Fahrgastaufkommen (wegen des Wettkampfs) sind die ZĂŒge auf die Minute pĂŒnktlich und die 6 Minuten reichen satt zum Umsteigen.

Die Zugfahrt fĂŒhrt durch die Ruinaulta-Schlucht. Man sieht die „Mondlandschaft“ der erodierten weißen Felsen, drumherum den schon herbstlich verfĂ€rbten Wald. Die Ruinaultaschlucht ist in ihrer jetzigen Form vor etwa 10000 Jahren durch den Flimser Bergsturz entstanden, bei dem 10 Milliarden Kubikmeter Fels in die Vorderrheinschlucht befördert wurden. Diese riesige Schutthalde hat vorĂŒbergehend den Rhein zu einem See aufgestaut. Der Rhein hat sich allerdings lĂ€ngst wieder seinen Weg gesucht, von dem See ist nichts mehr ĂŒbrig. Die einzige Möglichkeit, die Schlucht am Talboden komplett zu durchqueren, besteht mit der Bahn; an einem durchgehenden Wanderweg wird gerade gearbeitet. Wir werden beim Transruinaulta von Ilanz kommend zunĂ€chst dem Rhein fĂŒr fast 13 km folgen, bevor es steil nach oben zu den Orten Versam und von dort nach RhĂ€zĂŒns geht.

Wir sind sofort begeistert von dieser Landschaft und kleben am Zugfenster. Dann sehen wir die ersten LĂ€ufer – es sind die Teilnehmer des Transruinaulta Marathon, die schon zwei Stunden vor uns gestartet sind. WĂ€hrend wir uns beim Transruinaulta curta auf den landschaftlich spektakulĂ€rsten Teil der Strecke beschrĂ€nken, geht es beim Marathon weiter nach Thusis. Immer mehr LĂ€ufer kommen uns auf dem schmalen Pfad neben der Bahnstrecke entgegen. Ja, hier ist Überholen wirklich schwierig – der Einzelstart ist berechtigt.


Vor dem Rennen: Andrea im "Tunnel"


In Ilanz empfĂ€ngt uns Nieselregen. Kein Problem 
 zum einen soll es am Nachmittag besser werden, zum anderen hĂ€tte es viel schlimmer kommen können. Westlich und östlich von uns liegen riesige Niederschlagsgebiete, aber ĂŒber der Ostschweiz hat sich schwacher Föhn durchgesetzt und hĂ€lt das Schlimmste von uns ab. Wir gehen in die Turnhalle, in der die Startnummern verteilt werden. Da fast alle LĂ€uferinnen und LĂ€ufer des Transruinaulta curta mit dem gleichen Zug gekommen sind, bilden sich kurz ein paar Schlangen, aber die Organisation ist perfekt, und wir haben die Startnummernausgabe inclusive Check des PflichtgepĂ€cks schnell hinter uns. Wir warten noch ein bisschen in der Halle, bevor wir zum StartgelĂ€nde aufbrechen.

Großer Vorteil beim Transruinaulta: Es ist eine Veranstaltung der kurzen Wege. Es dauert gerade mal fĂŒnf Minuten von der Startnummernausgabe zum Start. Und der Wagen, an dem wir unsere Kleidertaschen abgeben können, ist nur 100 Meter vom Start geparkt. Keine Schlange, kein Warten.


Vorm Start in Ilanz




Trail vom ersten Meter an

Beim StartgelĂ€nde hat man sich wirklich MĂŒhe gegeben: Unter einem riesigen Steinbock – dem Wappentier von GraubĂŒnden – sind ein paar Felsblöcke aufgeschichtet. Auf dem Gipfel dieses kĂŒnstlichen „Bergs“ erfolgt der Start. ZunĂ€chst geht es ĂŒber hohe Stufen nach unten, danach ĂŒber einen kurzen „Trail“ aus HolzspĂ€nen. Ich hatte davon schon gelesen 
 aber dass dieser „Startturm“ so steil ist, hĂ€tte ich nicht gedacht.

Wir sammeln uns in Startblöcken – eingeteilt nach der angekĂŒndigten Startzeit. Sobald ein solcher Startblocks in Einzelstarts „abgearbeitet“ ist, wird der nĂ€chste Block zum Startturm gefĂŒhrt. Ziemlich schnell sind wir dran – und ich bin beeindruckt, wie reibungslos das hier alles funktioniert. Andrea startet direkt vor mir, krabbelt auf die hohen Steinquader. Und schon ist sie auf der anderen Seite wieder verschwunden. Der Starter gibt mir High Five, auch ich lege los 
 hĂŒpfe die Felsblöcke hinunter und bringe den kĂŒnstlichen Trail besser hinter mich als gedacht.


11:59:59: Andrea ist gestartet.


Die Strecke biegt nach rechts ab und folgt fĂŒr etwa 500 Meter einer schnurgeraden Straße. Obwohl Andrea nur zwei Sekunden vor mir gestartet ist, hat sie schon einen ordentlichen Vorsprung. Hey, das ist hier kein 5km Parkrun!

Dass der Transruinaulta ein echter Trailwettkampf ist, sieht man schon nach den ersten 500 Metern auf Asphalt: Die Organisatoren haben einen Parkplatz genutzt, um dort eine „Schikane“ einzubauen. Statt geradeaus weiterzulaufen, schicken sie uns einen kleinen Grashang hoch. Der ist durch den Regen, aber auch wegen der 800 Starter vor uns recht rutschig und aufgeweicht. Man bekommt den Eindruck, dass beim Transruinaulta auf dem ersten Kilometer getestet werden soll, ob man ĂŒberhaupt einem Trail gewachsen ist.

Dann geht’s hinunter zum Rhein. Eine Gruppe von Eselchen schaut der bunten LĂ€uferschaar neugierig zu – trabt immer wieder in Formation gemeinsam zum Zaun, um dann wieder Reißaus zu nehmen. Sehen wir so schrecklich aus? Oder stinken wir etwa schon?

Dass der Pfad am Rhein entlang sehr schmal ist, hatte ich gelesen. Aber dass er auch ziemlich technisch ist, war meinen vielfÀltigen Recherchen verborgen geblieben. Er ist von Wurzeln und Felsplatten durchzogen, geht stÀndig auf und ab. Nur selten geht es auf ebenem Schotter oder Waldboden dahin.

Ich habe Andrea mittlerweile wieder eingefangen. Wir vereinbaren, dass ich jetzt das Tempo mache. Aber auch ich laufe schneller als geplant – und das trotz des technischen Untergrunds. Wenn das mal gutgeht!

Solche Fragen stelle ich mir aber zunĂ€chst nicht, denn die Landschaft ist sehr abwechslungsreich und lĂ€sst die erste Stunde des Rennens schnell vorĂŒbergehen. Bei Kilometer 5 kommen wir an den ersten weißen Klippen vorbei. Kurz danach wartet der erste von zwei Verpflegungspunkten auf uns. Ich habe schon Hunger. Also schĂŒtte ich Iso in mich rein, esse zwei BananenstĂŒcke, kippe nochmal ein bisschen Wasser nach. Und weiter geht’s. Ich wundere mich, wie groß mein Bedarf nach Kohlenhydraten schon nach sechs Kilometern ist.

Kurz nach dem Verpflegungsstand geht es vom Rhein weg und nach oben in den Wald. Das ist aber  noch nicht der lĂ€ngere, steile Aufstieg nach Versam; es geht nur ca. 100 Höhenmeter aufwĂ€rts, alles in mĂ€ĂŸiger Steigung. DafĂŒr werden wir oben mit einem tollen Panorama belohnt. Andrea und ich halten kurz an und zĂŒcken das Handy. Auch wenn es etwas Zeit kostet: Das muss festgehalten werden.




Danach können wir es bergab rollen lassen. Ich bin gut drauf, freue mich ĂŒber die schöne Strecke und darĂŒber, dass wir so gut vorwĂ€rtskommen. Es geht auf einen Pfad, der ein paar hundert Meter lang ĂŒber den Kamm einer Geröllhalde fĂŒhrt. Plötzlich schlĂ€gt meine Stimmung um. Ich Ă€rgere mich, dass Andrea so weit vorauslĂ€uft und schon wieder ein viel zu schnelles Tempo anschlĂ€gt. Eigentlich wollte ich beim Bahnhof Versam-Safien noch etwas Verpflegung nachlegen, damit ich fĂŒr den anschließenden Anstieg genĂŒgend Kraft in den Beinen habe. Stattdessen hechte ich Andrea hinterher. Die wiederum liefert sich mit einigen LĂ€uferinnen und LĂ€ufern ein Wettrennen, als wĂ€re sie bereits kurz vorm Ziel. Es geht nochmal ein StĂŒck am Rhein entlang, nochmal gibt es einen Fotopoint. Ja, das hier ist wohl der schönste Teil der Strecke. Von hier aus sieht man ĂŒberall die weißen Felsen. Aber ich habe nicht so recht ein Auge dafĂŒr. Ich bin einfach nur mies drauf.





Dann endet der Weg im Tal. Von weitem sieht man schon, wie unser Weg neben einem Tunneleingang steil nach oben fĂŒhrt. Endlich kann ich Andrea „zurĂŒckpfeifen“. Verpflegungspause!

Einige LĂ€uferinnen und LĂ€ufer packen jetzt ihre Stöcke aus. Wir haben auf Stöcke verzichtet, weil von ihnen abgeraten wurde. Da die ersten 13 Kilometer gut laufbar sind, hĂ€tten wir sie auf diesem StĂŒck nur mitschleppen mĂŒssen. Und 800 Höhenmeter – das sollte doch auch so machbar sein.







Schwach wie eine Flasche leer

Wir beginnen den Aufstieg. Und sofort bereue ich, dass ich keine Stöcke dabeihabe. Denn meine Beine fĂŒhlen sich komplett leer an. Normalerweise ist bei TraillĂ€ufen die „Rollenverteilung“ zwischen Andrea und mir klar: Sie ist auf kĂŒrzeren Strecken und bergab deutlich stĂ€rker als ich, ich dafĂŒr auf den langen Strecken und bergauf. Egal wie steil, ich kann mich eigentlich immer motivieren und durchbeißen. Aber heute versagt das Beißwerkzeug. Oder besser gesagt: Meine Beine.

Schritt 
 Schritt 
 Schritt 
 Stop!

Was zum Teufel ist los? Ja, dieser Abschnitt ist steil: 200 Höhenmeter auf einem halben Kilometer Strecke. Macht eine Steigung von 40%. Das ist steil, sehr steil. Aber das bin ich eigentlich gewohnt. Die heimische „Himmelsleiter“, unser Trainingsrevier am Königstuhl, hat Ă€hnliche Steigungen zu bieten.

Was mich auch wundert: Es passt so gar nicht zur Trainingsleistung. Vor fĂŒnf Tagen waren wir noch im Training den Heiligenberg hochgestĂŒrmt und haben dabei fast eine neue eigene Bestzeit aufgestellt.

Wahrscheinlich sehe ich fĂŒr Unbeteiligte aus wie eine Bergsteigerin, der einen Achttausender hochkrabbelt. Kennt man ja von Filmen: Da kann man auch nur wenige Schritte gehen, bevor man zusammengekrĂŒmmt nach Luft schnappt. Aber die Luft ist eigentlich nicht mein Problem. Es sind die Beine. Ich will da hoch, aber meine Beine reagieren nicht. Es hat mir komplett den Stecker gezogen.

Selbst wenn ich in diesem steilen GelĂ€nde einfach nur stehen bleiben will, bekomme ich Probleme. Die Beine versagen mir den Dienst, zweimal haut es mich aus dem Stand fast hin. Andrea ist besorgt. Ich will sie vorausschicken, sie soll sich nicht die Zeit versauen. Aber sie will mich nicht alleinlassen. Denn diese SchwĂ€cheperiode ist untypisch fĂŒr mich. Sie befĂŒrchtet, dass ich mir was eingefangen habe, dass ich am Ende gar kollabieren könnte.

Langsam dĂ€mmert mir, woran es liegt:  Mein Körper hat – vielleicht wegen des unzureichenden Carboloading am Vorabend – schon frĂŒh nach „Nachschub“ verlangt. Ich habe die Signale meines Körpers ĂŒberhört. Habe mich viel zu spĂ€t um die Verpflegung gekĂŒmmert. Und als ich endlich dem Körper Nachschub liefere, kann der die Kohlenhydrate gar nicht schnell genug in die Beine transportieren, weil die jetzt Höchstleistung bringen mĂŒssen.

Wir steigen langsam weiter, werden immer wieder ĂŒberholt. Ein absoluter Tiefpunkt.


Blick von oben in die Vorderrheinschlucht


Endlich haben wir die ersten 200 Höhenmeter geschafft. Normalerweise ist das kein Ding. Aber jetzt bin ich froh, dass es auf dem nĂ€chsten Kilometer leicht abwĂ€rts geht. Ich kann mich etwas erholen, meinem Körper die Möglichkeit geben, die aufgenommene Verpflegung zu verstoffwechseln. Wir gehen ein StĂŒck und fangen dann leicht an zu traben. Das geht ganz gut. Dann folgt die zweite HĂ€lfte des steilen Aufstiegs. Immer noch fĂŒhlen sich die Beine energieleer an, aber nicht mehr ganz so schlimm wie im ersten Teil. Dennoch: Wir kommen nicht schnell vorwĂ€rts, ich fange an zu frösteln. Unterzuckerung? Jedenfalls freue ich mich wahnsinnig auf den Verpflegungsstand, den es in Versam gibt. In der Streckenbeschreibung habe ich etwas von Cola gelesen. COLA! Genau danach wĂ€re mir jetzt. Mit diesen Gedanken schaffe ich die Steigung, der Wald wird lichter und ĂŒber eine Wiese sehen wir das kleine Dörfchen Versam.

Noch zwei Kurven, und wir stehen an der Verpflegungsstation. Leider ist die schon ziemlich „abgefrĂŒhstĂŒckt“. Ich bekomme den letzten Becher Iso, Cola gibt es nicht, stattdessen gesĂŒĂŸten Tee. Davon trinke ich drei Becher. Nach fester Nahrung ist mir gar nicht, obwohl ich eigentlich dringend was brĂ€uchte. Ich packe mir zwei Biberli (=kleine, gefĂŒllte Lebkuchen) ein – und schon geht es weiter.



Über den Berg

ZunĂ€chst geht’s nun steil abwĂ€rts. Erst ĂŒber Stufen, dann fĂŒhrt der Weg ĂŒber steile Serpentinen in den Wald, Richtung Versamertobel. Die viele FlĂŒssigkeit, die ich gerade am Verpflegungsstand in mich reingekippt habe, macht „WaschmaschinengerĂ€usche“ in meinem Magen. Und trotzdem merke ich, dass mir die sĂŒĂŸen GetrĂ€nke guttun, dass ich mich langsam erhole.




Wenig spĂ€ter erkennen wir vor uns die beiden BrĂŒcken, die den Versamertobel ĂŒberspannen. Wir steuern auf die neue BrĂŒcke zu, die seit 2012 in Betrieb ist und die alte BrĂŒcke ersetzt hat. FĂŒr diesen Streckenpunkt habe ich eine Durchgangszeit ausgerechnet. Ich checke meine Tabelle: Wir sind jetzt ca. 10 Minuten langsamer als geplant, wĂ€hrend wir vor dem Aufstieg etwa 10 Minuten Vorsprung auf die berechnete Zwischenzeit hatten. Wir haben also beim Aufstieg nach Versam ganze 20 Minuten verloren!

Kurz nach der BrĂŒcke geht der Weg nach rechts in den Wald. Ein paar Streckenposten stehen da und feuern uns an. Toll – so viel Begeisterung und Engagement, obwohl diese Helfer schon seit vielen Stunden im Einsatz sind!

Es geht nun wieder in Serpentinen bergauf. Aber zum einen ist es nicht mehr so steil wie beim Aufstieg nach Versam, und zum anderen fĂŒhle ich mich jetzt deutlich besser. Das Tief ist ĂŒberwunden. Ich esse ein Biberli. Kurve um Kurve gewinnen wir an Höhe. Irgendwann lichtet sich der Wald, es geht an einem Bauernhof vorbei, dann wieder in den Wald und weiter nach oben. Jetzt ist es Andrea, die langsam die Schnauze voll hat. Ich versuche sie aufzumuntern und zĂ€hle die noch fehlenden Höhenmeter herunter.



Das Wellblech

An einer Abzweigung treffen wir auf Streckenposten. Es geht jetzt steil abwĂ€rts. Aber der Helfer warnt uns: Der Weg nach oben ist noch nicht vollstĂ€ndig geschafft, es kommt noch ein weiterer Aufstieg. Richtig. Und dieser Aufstieg zieht sich! Andrea zweifelt schon, dass wir noch auf dem richtigen Weg sind. Sind wir! Immer wieder sehen wir Markierungen – der Weg ist super gekennzeichnet. Dann sehen wir vor uns drei weitere Streckenposten. Hier ist also wohl der Aufstieg zu Ende. Die Helfer applaudieren, weisen uns auf einen Pfad, der links vom Weg nach unten fĂŒhrt. Ich frage: „Ab hier geht’s nur abwĂ€rts?“. Ein Ă€lterer Mann macht eine wellenförmige Handbewegung: „Eher ein Wellblech“.

Aha. Wellblech. Was meint er jetzt damit? Geht es hier runter und auch wieder hoch? Oder geht es hier mal mehr oder weniger steil runter? ZunĂ€chst geht es zumindest ziemlich steil abwĂ€rts. Wir holen eine LĂ€uferin ein. Einen LĂ€ufer hatten wir bergauf schon „geschnappt“, jetzt ist sie dran. FĂŒr Andrea ist das der „Kick“. Sie behauptet zwar immer, kein Adrenalin zu haben – aber das Gegenteil ist der Fall. Man muss nur mal erlebt haben, wie sie selbst in erschöpftem Zustand das Tempo anzieht, sobald ein langsamerer LĂ€ufer in Sichtweite kommt. Das passiert jetzt wieder. Sie zieht gnadenlos an der LĂ€uferin vorbei, ich habe gar keine Chance, an ihr dranzubleiben. Außerdem ist Andrea beim Downhill richtig stark. Auch ich ĂŒberhole die LĂ€uferin, die augenscheinlich ziemlich am Ende ist. „Komm, es ist nicht mehr weit“. Dann zweigt plötzlich der Pfad nach rechts ab – es geht wieder nach oben. Arrrgh – so war das also gemeint mit dem „Wellblech“. Es folgen noch einige kurze Aufstiege, immer wieder unterbrochen durch teilweise recht technische und steile Downhills.

Dann endlich erreiche ich einen breiten Weg. Hier kann ich es richtig laufen lassen. Von Andrea ist nichts mehr zu sehen – aber ich kann den Zielsprecher schon hören, wie er unten in RhĂ€zĂŒns die LĂ€ufer ankĂŒndigt. Es kann wirklich nicht mehr weit sein. Und doch zieht es sich noch! Irgendwann sagt der Sprecher was von „Andrea“. Ist sie wirklich schon im Ziel? Dann sehe ich die ersten HĂ€user. Ein paar Zuschauer stehen an der Strecke, feuern mich nochmal an. Von weitem kann ich Andrea erkennen – sie ist schon „durch“ und wartet auf mich kurz vorm Ziel. Eine scharfe Rechtskurve – der Sprecher kĂŒndigt mich an, schreit: „Sabine, Du bist die GrĂ¶ĂŸte“. Die umstehenden Leute klatschen.

Finish! Wir hatten uns 4 Stunden vorgenommen, herausgekommen sind bei mir 4:09:13, bei Andrea 4:05:44. Ohne meinen Einbruch beim Anstieg nach Versam hÀtte das mit den 4 Stunden locker geklappt.


Done!




Kein Transviamala

Wir gehen mĂŒde, aber zufrieden zurĂŒck zu unserem Hotel nach Bonaduz. Auf das Abendessen in unserem Hotel verzichten wir heute – stattdessen geht’s in die nĂ€chste Pizzeria, die glĂŒcklicherweise nur wenige Meter vom Hotel entfernt liegt. Jetzt braucht es mal ordentlich Kohlenhydrate!

Dass wir anders als geplant am nĂ€chsten Tag beim Transviamala nicht starten, hat verschiedene, vor allem logistische GrĂŒnde – wir tun uns mit der Entscheidung nicht ganz leicht und entschließen uns erst kurzfristig gegen den Start. Aus der Schluchtenprinzessin wird nichts. Stattdessen machen wir das Touristenprogramm. Das aber lohnt sich auf jeden Fall. Wir feuern die LĂ€ufer an und nutzen das Freiticket, das wir mit der Startnummer bekommen haben, um in die dunkle und enge Schlucht des Hinterrheins hinabzusteigen. Beeindruckend!


Heute sind wir nur Zaungast: LĂ€ufer beim Transviamala auf der Punt da Surasuns


Als wir die Stufen aus der Schlucht wieder hochklettern, merke ich, dass selbst der Transviamala curta fĂŒr mich heute sehr schwer geworden wĂ€re. Die Beine, die mich gestern trotz totaler Leere den Berg nach Versam hochtragen mussten, sind jetzt völlig platt.


In der Hinterrheinschlucht


Auf dem RĂŒckweg ziehen wir das Fazit:
  • Immer – auch vor „kĂŒrzeren“ Rennen – auf gutes Carboloading achten! Im Zweifel ist die Pizzeria um die Ecke der geeignetere Ort fĂŒr das Abendessen als ein Hotel mit "vornehmer" Speisekarte.
  • Schlechte Laune beim Laufen bedeutet nicht schlechte Laune. Meistens ist es schlichtweg ein Warnsignal, dass DRINGEND Kohlenhydrate nachgefĂŒllt werden mĂŒssen! Dann ist es zwar fast schon zu spĂ€t, aber spĂ€testens dann muss gehandelt werden.
  • Immer Nahrungsmittel mit schnell verfĂŒgbaren Kohlenhydraten dabeihaben. Da ich Gels nicht runterbringe, wĂŒrde das auf Clif Bloks hinauslaufen und Traubenzucker fĂŒr „Notfallmaßnahmen“.
  • Bei der Planung der Verpflegung immer darauf achten, wie hoch die IntensitĂ€t ist. Zwei Stunden Trailwalken hat nicht die gleiche IntensitĂ€t wie zwei Stunden Trailrunning. Und technische Trails ziehen mehr Energie aus den Beinen als ebene Waldwege.
  • Gerade bei „EtappenlĂ€ufen“ ist es wichtig, dass man am ersten Tag keine Verpflegungsfehler macht. Versorgungsdefizits reißen ein solches Loch, das am zweiten Tag nur schlecht wettzumachen ist.
  • Bei allen Lauf-Events, die mehr als 200km vom Wohnort entfernt sind: GrundsĂ€tzlich eine Übernachtung nach dem Event einplanen!

Und unser generelles Fazit zu dieser Veranstaltung: Transruinaulta und Transviamala sind Laufevents, die perfekt und liebevoll organisiert sind und durch höchst interessante Natur- und Kulturlandschaften fĂŒhren. Sie können es einfach, die Schweizer! Wir kommen gerne wieder, um dann doch noch den Transviamala zu laufen – dann aber eher in der langen Version.

In diesem Sinne: See you on the trails.


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