TRANSRUINAULTA: Von Schluchten, Trails und leeren Beinen


von Sabine




Rückblende: Andrea und ich sitzen im Auto, sind auf dem Heimweg vom ZUT. Wir sind beide den Basetrail gelaufen; zeitgleich waren Katrin auf dem Basetrail XL und Erik auf dem Supertrail unterwegs. Vor dem ZUT hat Andrea immer wieder gesagt, dass sie sich darauf freut, das Training nach dem ZUT wieder herunterzufahren - weil dann endlich keine Wettkämpfe mehr anstehen. Jetzt fragt sie mich unvermittelt: „Gibt es eigentlich im Herbst auch einen schönen Trail-Wettkampf, an dem wir teilnehmen könnten?“. Kurz steht mir der Mund offen, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber das Erfolgserlebnis beim ZUT, vor allem der tolle Zieleinlauf hat Andrea gepackt, etwas in ihr verändert … sie ist „hooked“, wie der Amerikaner so schön sagt.

Eine solche Situation muss genutzt werden – wenn man Andrea schon mal am Angelhaken hängen hat. Sofort bete ich ihr sämtliche in Frage kommende Veranstaltungen herunter. Und bei einem Wort hakt sie ein: „Transviamala“. Via mala – der schlechte Weg – das hört sich interessant an. Gab es da nicht auch mal einen Roman und einen Heimatfilm? Ich erzähle ihr, dass am Wochenende des Transviamala auch der Transruinaulta durchgeführt wird – der erstere führt durch die Schlucht des Hinterrheins, der andere durch die des Vorderrheins – und dass man die Wettkämpfe auch in Kombination machen kann.

Zwei Frauen, ein Entschluss: Wir melden uns zur Kombinationswertung „Schluchtenprinzessin“ an, in der man samstags den Transruinaulta curta (24 km, 850 Höhenmeter) und sonntags den Transviamala curta (11,5 km, 740 Höhenmeter) läuft.



Start mit Schwierigkeiten

Vier Monate sind seit dem ZUT vergangen. Wir haben weiter trainiert. Waren im Urlaub – und haben  in den Pyrenäen einige Wanderungen gemacht. Der Zero Hunger Run nach dem Urlaub hat gezeigt: Wir sind fit.

Dann ein kurzer Schock: Bei der Autovermietung stellt sich heraus, dass ich das Auto für das verkehrte Wochenende gemietet habe. Kurzzeitig stehen viele Fragezeichen über dem Unternehmen „Schluchtenprinzessin“.


Da geht's lang: Wir beide am Tag vor dem Rennen.


Glücklicherweise kann man uns kurzfristig helfen, und so kommen wir am Freitag pünktlich in unserem Standort Bonaduz an. Ein richtiges Wettkampf-Feeling will noch nicht aufkommen – was vor allem daran liegt, dass es beim Transruinaulta die Startnummer erst unmittelbar vor dem Start gibt. Ich bin nicht der Fan von großen Marathonmessen oder Pre-Race Parties. Aber so ganz ohne das Kribbeln am Vortrag? Das fühlt sich wirklich seltsam an …

Wir haben uns ein nettes Hotel ausgesucht. Riesiges Zimmer, gemütliches Bett, behindertengerechte Dusche (nach dem Wettkampf sehr wichtig!). Als wir dort beim Abendessen die Speisekarte studieren, bemerken wir, dass die Auswahl nicht wirklich für‘s Carboloading geeignet ist. Die Folge: Ich liege abends im Bett und kann nicht einschlafen – nicht vor Aufregung, sondern vor Hunger 😟.

Den Wettkampfmorgen können wir ruhig angehen lassen, denn der Transruinaulta curta wird erst ab 11:30 gestartet. Da der Transruinaulta schon kurz nach dem Start auf schmalen Pfaden verläuft, gehen hier die Läuferinnen und Läufer im Einzelstartmodus – oder wie der Veranstalter es nennt: im „Tröpfelstart“ – auf die Strecke. Unsere Startzeit wurde uns ein paar Tage vorher mitgeteilt: 12 Uhr, high noon.

Also genug Zeit zum Ausschlafen, Vorbereiten, Frühstücken und zur Anreise nach Ilanz. Die erfolgt mit der Rhätischen Bahn und erfordert einen Umstieg. Lange rätseln wir herum, welchen Zug wir nehmen sollten – schließlich sind wir von der Deutschen Bahn traumatisiert mit ihren ständigen Verspätungen und Zugausfällen. Ganz anders bei den Schweizern: Trotz erhöhtem Fahrgastaufkommen (wegen des Wettkampfs) sind die Züge auf die Minute pünktlich und die 6 Minuten reichen satt zum Umsteigen.

Die Zugfahrt führt durch die Ruinaulta-Schlucht. Man sieht die „Mondlandschaft“ der erodierten weißen Felsen, drumherum den schon herbstlich verfärbten Wald. Die Ruinaultaschlucht ist in ihrer jetzigen Form vor etwa 10000 Jahren durch den Flimser Bergsturz entstanden, bei dem 10 Milliarden Kubikmeter Fels in die Vorderrheinschlucht befördert wurden. Diese riesige Schutthalde hat vorübergehend den Rhein zu einem See aufgestaut. Der Rhein hat sich allerdings längst wieder seinen Weg gesucht, von dem See ist nichts mehr übrig. Die einzige Möglichkeit, die Schlucht am Talboden komplett zu durchqueren, besteht mit der Bahn; an einem durchgehenden Wanderweg wird gerade gearbeitet. Wir werden beim Transruinaulta von Ilanz kommend zunächst dem Rhein für fast 13 km folgen, bevor es steil nach oben zu den Orten Versam und von dort nach Rhäzüns geht.

Wir sind sofort begeistert von dieser Landschaft und kleben am Zugfenster. Dann sehen wir die ersten Läufer – es sind die Teilnehmer des Transruinaulta Marathon, die schon zwei Stunden vor uns gestartet sind. Während wir uns beim Transruinaulta curta auf den landschaftlich spektakulärsten Teil der Strecke beschränken, geht es beim Marathon weiter nach Thusis. Immer mehr Läufer kommen uns auf dem schmalen Pfad neben der Bahnstrecke entgegen. Ja, hier ist Überholen wirklich schwierig – der Einzelstart ist berechtigt.


Vor dem Rennen: Andrea im "Tunnel"


In Ilanz empfängt uns Nieselregen. Kein Problem … zum einen soll es am Nachmittag besser werden, zum anderen hätte es viel schlimmer kommen können. Westlich und östlich von uns liegen riesige Niederschlagsgebiete, aber über der Ostschweiz hat sich schwacher Föhn durchgesetzt und hält das Schlimmste von uns ab. Wir gehen in die Turnhalle, in der die Startnummern verteilt werden. Da fast alle Läuferinnen und Läufer des Transruinaulta curta mit dem gleichen Zug gekommen sind, bilden sich kurz ein paar Schlangen, aber die Organisation ist perfekt, und wir haben die Startnummernausgabe inclusive Check des Pflichtgepäcks schnell hinter uns. Wir warten noch ein bisschen in der Halle, bevor wir zum Startgelände aufbrechen.

Großer Vorteil beim Transruinaulta: Es ist eine Veranstaltung der kurzen Wege. Es dauert gerade mal fünf Minuten von der Startnummernausgabe zum Start. Und der Wagen, an dem wir unsere Kleidertaschen abgeben können, ist nur 100 Meter vom Start geparkt. Keine Schlange, kein Warten.


Vorm Start in Ilanz




Trail vom ersten Meter an

Beim Startgelände hat man sich wirklich Mühe gegeben: Unter einem riesigen Steinbock – dem Wappentier von Graubünden – sind ein paar Felsblöcke aufgeschichtet. Auf dem Gipfel dieses künstlichen „Bergs“ erfolgt der Start. Zunächst geht es über hohe Stufen nach unten, danach über einen kurzen „Trail“ aus Holzspänen. Ich hatte davon schon gelesen … aber dass dieser „Startturm“ so steil ist, hätte ich nicht gedacht.

Wir sammeln uns in Startblöcken – eingeteilt nach der angekündigten Startzeit. Sobald ein solcher Startblocks in Einzelstarts „abgearbeitet“ ist, wird der nächste Block zum Startturm geführt. Ziemlich schnell sind wir dran – und ich bin beeindruckt, wie reibungslos das hier alles funktioniert. Andrea startet direkt vor mir, krabbelt auf die hohen Steinquader. Und schon ist sie auf der anderen Seite wieder verschwunden. Der Starter gibt mir High Five, auch ich lege los … hüpfe die Felsblöcke hinunter und bringe den künstlichen Trail besser hinter mich als gedacht.


11:59:59: Andrea ist gestartet.


Die Strecke biegt nach rechts ab und folgt für etwa 500 Meter einer schnurgeraden Straße. Obwohl Andrea nur zwei Sekunden vor mir gestartet ist, hat sie schon einen ordentlichen Vorsprung. Hey, das ist hier kein 5km Parkrun!

Dass der Transruinaulta ein echter Trailwettkampf ist, sieht man schon nach den ersten 500 Metern auf Asphalt: Die Organisatoren haben einen Parkplatz genutzt, um dort eine „Schikane“ einzubauen. Statt geradeaus weiterzulaufen, schicken sie uns einen kleinen Grashang hoch. Der ist durch den Regen, aber auch wegen der 800 Starter vor uns recht rutschig und aufgeweicht. Man bekommt den Eindruck, dass beim Transruinaulta auf dem ersten Kilometer getestet werden soll, ob man überhaupt einem Trail gewachsen ist.

Dann geht’s hinunter zum Rhein. Eine Gruppe von Eselchen schaut der bunten Läuferschaar neugierig zu – trabt immer wieder in Formation gemeinsam zum Zaun, um dann wieder Reißaus zu nehmen. Sehen wir so schrecklich aus? Oder stinken wir etwa schon?

Dass der Pfad am Rhein entlang sehr schmal ist, hatte ich gelesen. Aber dass er auch ziemlich technisch ist, war meinen vielfältigen Recherchen verborgen geblieben. Er ist von Wurzeln und Felsplatten durchzogen, geht ständig auf und ab. Nur selten geht es auf ebenem Schotter oder Waldboden dahin.

Ich habe Andrea mittlerweile wieder eingefangen. Wir vereinbaren, dass ich jetzt das Tempo mache. Aber auch ich laufe schneller als geplant – und das trotz des technischen Untergrunds. Wenn das mal gutgeht!

Solche Fragen stelle ich mir aber zunächst nicht, denn die Landschaft ist sehr abwechslungsreich und lässt die erste Stunde des Rennens schnell vorübergehen. Bei Kilometer 5 kommen wir an den ersten weißen Klippen vorbei. Kurz danach wartet der erste von zwei Verpflegungspunkten auf uns. Ich habe schon Hunger. Also schütte ich Iso in mich rein, esse zwei Bananenstücke, kippe nochmal ein bisschen Wasser nach. Und weiter geht’s. Ich wundere mich, wie groß mein Bedarf nach Kohlenhydraten schon nach sechs Kilometern ist.

Kurz nach dem Verpflegungsstand geht es vom Rhein weg und nach oben in den Wald. Das ist aber  noch nicht der längere, steile Aufstieg nach Versam; es geht nur ca. 100 Höhenmeter aufwärts, alles in mäßiger Steigung. Dafür werden wir oben mit einem tollen Panorama belohnt. Andrea und ich halten kurz an und zücken das Handy. Auch wenn es etwas Zeit kostet: Das muss festgehalten werden.




Danach können wir es bergab rollen lassen. Ich bin gut drauf, freue mich über die schöne Strecke und darüber, dass wir so gut vorwärtskommen. Es geht auf einen Pfad, der ein paar hundert Meter lang über den Kamm einer Geröllhalde führt. Plötzlich schlägt meine Stimmung um. Ich ärgere mich, dass Andrea so weit vorausläuft und schon wieder ein viel zu schnelles Tempo anschlägt. Eigentlich wollte ich beim Bahnhof Versam-Safien noch etwas Verpflegung nachlegen, damit ich für den anschließenden Anstieg genügend Kraft in den Beinen habe. Stattdessen hechte ich Andrea hinterher. Die wiederum liefert sich mit einigen Läuferinnen und Läufern ein Wettrennen, als wäre sie bereits kurz vorm Ziel. Es geht nochmal ein Stück am Rhein entlang, nochmal gibt es einen Fotopoint. Ja, das hier ist wohl der schönste Teil der Strecke. Von hier aus sieht man überall die weißen Felsen. Aber ich habe nicht so recht ein Auge dafür. Ich bin einfach nur mies drauf.





Dann endet der Weg im Tal. Von weitem sieht man schon, wie unser Weg neben einem Tunneleingang steil nach oben führt. Endlich kann ich Andrea „zurückpfeifen“. Verpflegungspause!

Einige Läuferinnen und Läufer packen jetzt ihre Stöcke aus. Wir haben auf Stöcke verzichtet, weil von ihnen abgeraten wurde. Da die ersten 13 Kilometer gut laufbar sind, hätten wir sie auf diesem Stück nur mitschleppen müssen. Und 800 Höhenmeter – das sollte doch auch so machbar sein.







Schwach wie eine Flasche leer

Wir beginnen den Aufstieg. Und sofort bereue ich, dass ich keine Stöcke dabeihabe. Denn meine Beine fühlen sich komplett leer an. Normalerweise ist bei Trailläufen die „Rollenverteilung“ zwischen Andrea und mir klar: Sie ist auf kürzeren Strecken und bergab deutlich stärker als ich, ich dafür auf den langen Strecken und bergauf. Egal wie steil, ich kann mich eigentlich immer motivieren und durchbeißen. Aber heute versagt das Beißwerkzeug. Oder besser gesagt: Meine Beine.

Schritt … Schritt … Schritt … Stop!

Was zum Teufel ist los? Ja, dieser Abschnitt ist steil: 200 Höhenmeter auf einem halben Kilometer Strecke. Macht eine Steigung von 40%. Das ist steil, sehr steil. Aber das bin ich eigentlich gewohnt. Die heimische „Himmelsleiter“, unser Trainingsrevier am Königstuhl, hat ähnliche Steigungen zu bieten.

Was mich auch wundert: Es passt so gar nicht zur Trainingsleistung. Vor fünf Tagen waren wir noch im Training den Heiligenberg hochgestürmt und haben dabei fast eine neue eigene Bestzeit aufgestellt.

Wahrscheinlich sehe ich für Unbeteiligte aus wie eine Bergsteigerin, der einen Achttausender hochkrabbelt. Kennt man ja von Filmen: Da kann man auch nur wenige Schritte gehen, bevor man zusammengekrümmt nach Luft schnappt. Aber die Luft ist eigentlich nicht mein Problem. Es sind die Beine. Ich will da hoch, aber meine Beine reagieren nicht. Es hat mir komplett den Stecker gezogen.

Selbst wenn ich in diesem steilen Gelände einfach nur stehen bleiben will, bekomme ich Probleme. Die Beine versagen mir den Dienst, zweimal haut es mich aus dem Stand fast hin. Andrea ist besorgt. Ich will sie vorausschicken, sie soll sich nicht die Zeit versauen. Aber sie will mich nicht alleinlassen. Denn diese Schwächeperiode ist untypisch für mich. Sie befürchtet, dass ich mir was eingefangen habe, dass ich am Ende gar kollabieren könnte.

Langsam dämmert mir, woran es liegt:  Mein Körper hat – vielleicht wegen des unzureichenden Carboloading am Vorabend – schon früh nach „Nachschub“ verlangt. Ich habe die Signale meines Körpers überhört. Habe mich viel zu spät um die Verpflegung gekümmert. Und als ich endlich dem Körper Nachschub liefere, kann der die Kohlenhydrate gar nicht schnell genug in die Beine transportieren, weil die jetzt Höchstleistung bringen müssen.

Wir steigen langsam weiter, werden immer wieder überholt. Ein absoluter Tiefpunkt.


Blick von oben in die Vorderrheinschlucht


Endlich haben wir die ersten 200 Höhenmeter geschafft. Normalerweise ist das kein Ding. Aber jetzt bin ich froh, dass es auf dem nächsten Kilometer leicht abwärts geht. Ich kann mich etwas erholen, meinem Körper die Möglichkeit geben, die aufgenommene Verpflegung zu verstoffwechseln. Wir gehen ein Stück und fangen dann leicht an zu traben. Das geht ganz gut. Dann folgt die zweite Hälfte des steilen Aufstiegs. Immer noch fühlen sich die Beine energieleer an, aber nicht mehr ganz so schlimm wie im ersten Teil. Dennoch: Wir kommen nicht schnell vorwärts, ich fange an zu frösteln. Unterzuckerung? Jedenfalls freue ich mich wahnsinnig auf den Verpflegungsstand, den es in Versam gibt. In der Streckenbeschreibung habe ich etwas von Cola gelesen. COLA! Genau danach wäre mir jetzt. Mit diesen Gedanken schaffe ich die Steigung, der Wald wird lichter und über eine Wiese sehen wir das kleine Dörfchen Versam.

Noch zwei Kurven, und wir stehen an der Verpflegungsstation. Leider ist die schon ziemlich „abgefrühstückt“. Ich bekomme den letzten Becher Iso, Cola gibt es nicht, stattdessen gesüßten Tee. Davon trinke ich drei Becher. Nach fester Nahrung ist mir gar nicht, obwohl ich eigentlich dringend was bräuchte. Ich packe mir zwei Biberli (=kleine, gefüllte Lebkuchen) ein – und schon geht es weiter.



Über den Berg

Zunächst geht’s nun steil abwärts. Erst über Stufen, dann führt der Weg über steile Serpentinen in den Wald, Richtung Versamertobel. Die viele Flüssigkeit, die ich gerade am Verpflegungsstand in mich reingekippt habe, macht „Waschmaschinengeräusche“ in meinem Magen. Und trotzdem merke ich, dass mir die süßen Getränke guttun, dass ich mich langsam erhole.




Wenig später erkennen wir vor uns die beiden Brücken, die den Versamertobel überspannen. Wir steuern auf die neue Brücke zu, die seit 2012 in Betrieb ist und die alte Brücke ersetzt hat. Für diesen Streckenpunkt habe ich eine Durchgangszeit ausgerechnet. Ich checke meine Tabelle: Wir sind jetzt ca. 10 Minuten langsamer als geplant, während wir vor dem Aufstieg etwa 10 Minuten Vorsprung auf die berechnete Zwischenzeit hatten. Wir haben also beim Aufstieg nach Versam ganze 20 Minuten verloren!

Kurz nach der Brücke geht der Weg nach rechts in den Wald. Ein paar Streckenposten stehen da und feuern uns an. Toll – so viel Begeisterung und Engagement, obwohl diese Helfer schon seit vielen Stunden im Einsatz sind!

Es geht nun wieder in Serpentinen bergauf. Aber zum einen ist es nicht mehr so steil wie beim Aufstieg nach Versam, und zum anderen fühle ich mich jetzt deutlich besser. Das Tief ist überwunden. Ich esse ein Biberli. Kurve um Kurve gewinnen wir an Höhe. Irgendwann lichtet sich der Wald, es geht an einem Bauernhof vorbei, dann wieder in den Wald und weiter nach oben. Jetzt ist es Andrea, die langsam die Schnauze voll hat. Ich versuche sie aufzumuntern und zähle die noch fehlenden Höhenmeter herunter.



Das Wellblech

An einer Abzweigung treffen wir auf Streckenposten. Es geht jetzt steil abwärts. Aber der Helfer warnt uns: Der Weg nach oben ist noch nicht vollständig geschafft, es kommt noch ein weiterer Aufstieg. Richtig. Und dieser Aufstieg zieht sich! Andrea zweifelt schon, dass wir noch auf dem richtigen Weg sind. Sind wir! Immer wieder sehen wir Markierungen – der Weg ist super gekennzeichnet. Dann sehen wir vor uns drei weitere Streckenposten. Hier ist also wohl der Aufstieg zu Ende. Die Helfer applaudieren, weisen uns auf einen Pfad, der links vom Weg nach unten führt. Ich frage: „Ab hier geht’s nur abwärts?“. Ein älterer Mann macht eine wellenförmige Handbewegung: „Eher ein Wellblech“.

Aha. Wellblech. Was meint er jetzt damit? Geht es hier runter und auch wieder hoch? Oder geht es hier mal mehr oder weniger steil runter? Zunächst geht es zumindest ziemlich steil abwärts. Wir holen eine Läuferin ein. Einen Läufer hatten wir bergauf schon „geschnappt“, jetzt ist sie dran. Für Andrea ist das der „Kick“. Sie behauptet zwar immer, kein Adrenalin zu haben – aber das Gegenteil ist der Fall. Man muss nur mal erlebt haben, wie sie selbst in erschöpftem Zustand das Tempo anzieht, sobald ein langsamerer Läufer in Sichtweite kommt. Das passiert jetzt wieder. Sie zieht gnadenlos an der Läuferin vorbei, ich habe gar keine Chance, an ihr dranzubleiben. Außerdem ist Andrea beim Downhill richtig stark. Auch ich überhole die Läuferin, die augenscheinlich ziemlich am Ende ist. „Komm, es ist nicht mehr weit“. Dann zweigt plötzlich der Pfad nach rechts ab – es geht wieder nach oben. Arrrgh – so war das also gemeint mit dem „Wellblech“. Es folgen noch einige kurze Aufstiege, immer wieder unterbrochen durch teilweise recht technische und steile Downhills.

Dann endlich erreiche ich einen breiten Weg. Hier kann ich es richtig laufen lassen. Von Andrea ist nichts mehr zu sehen – aber ich kann den Zielsprecher schon hören, wie er unten in Rhäzüns die Läufer ankündigt. Es kann wirklich nicht mehr weit sein. Und doch zieht es sich noch! Irgendwann sagt der Sprecher was von „Andrea“. Ist sie wirklich schon im Ziel? Dann sehe ich die ersten Häuser. Ein paar Zuschauer stehen an der Strecke, feuern mich nochmal an. Von weitem kann ich Andrea erkennen – sie ist schon „durch“ und wartet auf mich kurz vorm Ziel. Eine scharfe Rechtskurve – der Sprecher kündigt mich an, schreit: „Sabine, Du bist die Größte“. Die umstehenden Leute klatschen.

Finish! Wir hatten uns 4 Stunden vorgenommen, herausgekommen sind bei mir 4:09:13, bei Andrea 4:05:44. Ohne meinen Einbruch beim Anstieg nach Versam hätte das mit den 4 Stunden locker geklappt.


Done!




Kein Transviamala

Wir gehen müde, aber zufrieden zurück zu unserem Hotel nach Bonaduz. Auf das Abendessen in unserem Hotel verzichten wir heute – stattdessen geht’s in die nächste Pizzeria, die glücklicherweise nur wenige Meter vom Hotel entfernt liegt. Jetzt braucht es mal ordentlich Kohlenhydrate!

Dass wir anders als geplant am nächsten Tag beim Transviamala nicht starten, hat verschiedene, vor allem logistische Gründe – wir tun uns mit der Entscheidung nicht ganz leicht und entschließen uns erst kurzfristig gegen den Start. Aus der Schluchtenprinzessin wird nichts. Stattdessen machen wir das Touristenprogramm. Das aber lohnt sich auf jeden Fall. Wir feuern die Läufer an und nutzen das Freiticket, das wir mit der Startnummer bekommen haben, um in die dunkle und enge Schlucht des Hinterrheins hinabzusteigen. Beeindruckend!


Heute sind wir nur Zaungast: Läufer beim Transviamala auf der Punt da Surasuns


Als wir die Stufen aus der Schlucht wieder hochklettern, merke ich, dass selbst der Transviamala curta für mich heute sehr schwer geworden wäre. Die Beine, die mich gestern trotz totaler Leere den Berg nach Versam hochtragen mussten, sind jetzt völlig platt.


In der Hinterrheinschlucht


Auf dem Rückweg ziehen wir das Fazit:
  • Immer – auch vor „kürzeren“ Rennen – auf gutes Carboloading achten! Im Zweifel ist die Pizzeria um die Ecke der geeignetere Ort für das Abendessen als ein Hotel mit "vornehmer" Speisekarte.
  • Schlechte Laune beim Laufen bedeutet nicht schlechte Laune. Meistens ist es schlichtweg ein Warnsignal, dass DRINGEND Kohlenhydrate nachgefüllt werden müssen! Dann ist es zwar fast schon zu spät, aber spätestens dann muss gehandelt werden.
  • Immer Nahrungsmittel mit schnell verfügbaren Kohlenhydraten dabeihaben. Da ich Gels nicht runterbringe, würde das auf Clif Bloks hinauslaufen und Traubenzucker für „Notfallmaßnahmen“.
  • Bei der Planung der Verpflegung immer darauf achten, wie hoch die Intensität ist. Zwei Stunden Trailwalken hat nicht die gleiche Intensität wie zwei Stunden Trailrunning. Und technische Trails ziehen mehr Energie aus den Beinen als ebene Waldwege.
  • Gerade bei „Etappenläufen“ ist es wichtig, dass man am ersten Tag keine Verpflegungsfehler macht. Versorgungsdefizits reißen ein solches Loch, das am zweiten Tag nur schlecht wettzumachen ist.
  • Bei allen Lauf-Events, die mehr als 200km vom Wohnort entfernt sind: Grundsätzlich eine Übernachtung nach dem Event einplanen!

Und unser generelles Fazit zu dieser Veranstaltung: Transruinaulta und Transviamala sind Laufevents, die perfekt und liebevoll organisiert sind und durch höchst interessante Natur- und Kulturlandschaften führen. Sie können es einfach, die Schweizer! Wir kommen gerne wieder, um dann doch noch den Transviamala zu laufen – dann aber eher in der langen Version.

In diesem Sinne: See you on the trails.


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