Im letzten Jahr waren Katrin und ich auf dem E35 unterwegs. Was waren wir stolz, als wir diesen Lauf geschafft hatten und im Ziel waren. Damals hatte ich auf dem Weg von Alpiglen nach Grindelwald zu Katrin gesagt: E51 – never ever! Drei Monate später war ich für den E51 angemeldet. Klar: ich war mit Karwendelmarsch und Rennsteig Supermarathon schon längere Strecken gelaufen. Aber auf die 3100 Höhenmeter starrte ich wie das Kaninchen auf die Schlange. Doch wie so häufig: Das Problem lauerte in einer ganz anderen Ecke. Und so könnte der Untertitel zu diesem Bericht heißen: „Variationen zum Thema Cutoff“.
Grindelwald, Freitag abend, 22:30. Ich liege im Bett und kann nicht schlafen. Dabei hatte ich mich kurz davor so müde gefühlt. Aber jetzt geht mir alles nochmal durch den Kopf. Was gibt es an welchen Verpflegungsstationen? Wann gibt es Trockenfleisch, wann Käse? Wann Cola? Habe ich alles im Rucksack? Und: wie gehe ich morgen den Anstieg zum First an? Cutoff dort ist 3 Stunden, 30 Minuten.
Moment mal - 3 Stunden, 30 Minuten? Ich versuche, mir die Höhenmeter und die Strecke zu vergegenwärtigen. Und dabei fällt mir auf: Die Strecke ist geringfügig länger als die beim E35 zwischen Burglauen und Männlichen – mit etwas weniger Höhenmetern. Müsste insgesamt fast vergleichbar sein. Aber war die Cutoff-Zeit am Männlichen nicht 4 Stunden, 15 Minuten? Und auf der Strecke des E35 gibt es die „Autobahn“ zwischen Spätenalp und Wengen, wo man ordentlich Gas geben kann.
Verdammt! Warum war mir das nicht aufgefallen? Ich hatte mich so viel mit den ganzen Zahlen und Marschtabellen beschäftigt, hatte gecheckt, dass der Gesamtcutoff für den E51 bezogen auf die Leistungskilometer vergleichbar ist mit dem des E35. Aber ich hatte die strengeren Cutoffs am Anfang nicht verglichen.
Shit! Wie soll ich das schaffen?
Irgendwie muss ich über diesen ganzen Gedanken dann doch eingeschlafen sein. Lange befinde ich mich aber nicht in Morpheus‘ Armen, denn um 4 Uhr lässt der Startschuss vom E101 alle verbliebenen Hotelgäste aus den Betten fallen. Ich ergreife die Kamera und stürze raus auf den Balkon. Andrea folgt mir. Wenige Minuten nach dem Knall sehen wir die ersten Läufer des E101 durch die Hauptstraße traben. Das alles fast lautlos, als ob sie niemanden stören wollten. Dazwischen mal ein Schrei: „ERIK!!“. Aha, Wolfgang, einer unserer E16 Läufer, steht unten an der Straße und muss Erik im Pulk erkannt haben. O.k., damit ist Erik auf der Strecke – Zeit, schnell noch ein bisschen Schlaf zu bekommen.
Nach etwa 45 Minuten mache ich die Augen wieder auf. Schaue aus dem Fenster ins Dunkel in die Richtung, in der ich die Große Scheidegg vermute. Da! Genau in dieser Richtung sieht es aus, als seien Sterne aufgereiht. Senkrecht. Ich weiß, dass das keine Sterne sein können. Das müssen die Stirnlampen der Läufer sein, die sich gerade hoch zur Großen Scheidegg mühen. Oh mein Gott!! Wie steil muss das sein?! Das, was im Hellen wegen der umgebenden 4000er aussieht wie ein sanfter Hügel, entpuppt sich im Dunkeln als das, was es ist: Ein Steilhang. Und da muss ich nachher auch hoch? In Rekordzeit, damit ich den Cutoff am First schaffe …
Plötzlich bin ich hellwach. Ich zwinge mich, nicht weiter über Cutoffs nachzudenken. Ich hatte in der Runde am Freitag abend gesagt: Mir geht es nicht so sehr um einen Wettkampf, mir geht es um’s Abenteuer. Ich muss mir nochmals vergegenwärtigen, dass es ein Privileg ist, an dieser Startlinie zu stehen. Ich dusche mich, bringe die diversen Kinesio-Tapes an, gehe Frühstücken, checke nochmals den Rucksack. Alles fertig!
Als ich das Hotel verlassen will, sind alle bis auf Erik (E101), Amelie (Crew E101) sowie Esra und Bernd (anderes Hotel) in unserem Hotel beim Frühstück. Alle wünschen mir nochmals viel Glück. Mit dieser moralischen Stärkung geht es los zum Start. Dort treffe ich Esra und Bernd, die mir auch alles Gute für den E51 wünschen.
Im Startbereich stehen erstaunlich wenige Läufer. Ich hatte mit mehr Gedränge gerechnet. Ich mache noch ein paar Bilder, dann wird auch schon das Rennen gestartet – der zweite (langsamere) Pulk der E51 LäuferInnen geht auf die Strecke.
Nach 500 Metern geht’s an unserem Hotel vorbei. Alle unsere E16er stehen davor und jubeln mir zu. Ich rufe: „Schon 1% geschafft!“ Hahaha. Diese 500 Meter waren die einfachsten der ganzen Strecke.
Die ersten Kilometer sind tatsächlich nicht schwierig und zu einem großen Teil laufbar. Dabei ist die Steigung nicht so gering, wie es die Karten und GPS-Daten suggerieren: Flache oder leicht abfallende Stücke wechseln sich immer wieder mit steileren Rampen ab. Nach 2,5 km kommen wir an die „Engstelle“. Hier hatte ich einen langen Stau erwartet, tatsächlich reicht es aber gerade mal für ein kurzes Foto – und schon geht’s über die einspurige Brücke. Bald danach ist die Bushaltestelle „Oberer Gletscher“ erreicht, an dem schon die Tische für die später startenden E16er gedeckt sind. Für uns geht es halbrechts weiter, in (noch) steileres Gelände als bei den Läufern des Genusstrails. Der Waldweg wird zum Single Trail und steigt stark an. Jetzt zählt es …
Ich reihe mich ein, schiebe mich nach oben. Immer wieder tritt jemand aus der Reihe und lässt ein paar Läufer vorbei. Ich versuche so kontinuierlich wie möglich nach oben zu steigen. Aber ich merke schon bald, dass ich am Anschlag laufe. Ich bekomme schlecht Luft. Habe ich mir etwa auch einen Infekt eingefangen? Oder bin ich zu schnell unterwegs? Doch das Tempo, das ich gerade angeschlagen habe, ist notwendig, damit ich den Cutoff am First schaffen kann.
Hinter mir hechelt und stöhnt es. Ja, auch ich laufe am Limit – aber muss man seine Anstrengung so sehr nach außen kehren? Nach ein paar Minuten ertrage ich diese Stöhnlaute nicht mehr. Ich schere aus der Reihe aus, bleibe stehen, lasse die hinter mir laufenden vorbei. Ich leide lieber in mich hinein, eine solche Geräuschkulisse kann ich nicht gebrauchen.
Weiter geht’s! Weit oben über mir sehe ich die „Conga Line“ – Läufer hinter Läufer hinter Läufer. Es scheint nicht enden zu wollen. Dann endlich sehe ich die ersten Läufer nach links abbiegen und beschleunigen. Das scheint der Weg runter zur Straße zu sein. Endlich – ein bisschen den Puls runterbringen! Ein offizieller Fotograf sitzt im Gras – ich ringe mir ein Lächeln ab. Liegt es jetzt am Lächeln oder am Gefälle, dass es mir schlagartig wieder besser geht?
Das Gefälle dauert nicht lange. Schnell sind wir auf der Straße und es geht aufwärts zur Großen Scheidegg. Allerdings sind die Steigungen hier nicht mehr ganz so extrem, erstes sauerstoffbeladenes Blut kehrt aus meiner Wade wieder ins Gehirn zurück. Ich checke, wie ich in der Zeit liege – es sollte knapp reichen. Heißt aber auch: Ich darf nicht nachlassen …
Von unten höre ich etwas wie einen Stadionsprecher. Woher das wohl kommt? Aus Grindelwald selbst oder vom Bort? Kann es denn sein, dass die ersten E16er schon am Bort sind? In Gedanken bin ich bei unseren sieben E16 Läufern. Wie es ihnen wohl geht?
Dann sehe ich die Große Scheidegg. Schnell fülle ich meinen Soft Flask auf, nehme mir zwei Bananenstücke und ein halbes Oat Pack. Auf Salziges muss ich leider noch warten. Schnell bin ich wieder auf der Strecke, ich kann mir keine langen Verpflegungsstopps leisten. Außerdem lohnen sich die Verpflegungsstände beim Eiger Ultra nicht so sehr wie die beim Zugspitz Ultra.
Jetzt geht es auf den Panoramaweg – der verläuft zunächst mal leicht wellig. Auf dem letzten Stück der Steigung zur großen Scheidegg hatte es leicht geregnet – das war ganz angenehm. Jetzt aber, hier oben am Passübergang nach Meiringen bläst ordentlich Wind. Trotzdem: Ich friere nur leicht, der „innere Ofen“ wird gut angefeuert.
Nach ca. einem Kilometer treffe ich auf eine Kuhherde. Die schauen die Läufer mit großen Augen an. Das wäre mal wieder was für Andrea – spätestens nach Durchqueren der Kuhherde wäre sie richtig schnell. Leider „muss“ auch der Läufer, der mir beim Aufstieg zur Großen Scheidegg mit seinem Stöhnen und Hecheln auf den Zeiger ging, seine Freundin vor der Kuhherde ablichten. Die Folge: die beiden sind wieder hinter mir. Und das große Stöhnen verfolgt mich …
Es geht über einen tief eingeschnittenen Wasserlauf mit vielen kleinen Kaskaden. Langsam dreht sich der Weg und wir laufen auf den First zu. Damit hat man auch wieder Eiger Nordwand & Co im Blick. Über der regnet sich gerade eine Wolke ab. Wohl eine unerwartete Dusche für die E16er … der Wetterbericht hatte ja Sonne pur vorhergesagt.
Nach einer weiteren Kurve sehe ich den First vor mir. Ich schaue auf die Uhr: Das wird knapp, aber ich könnte es schaffen. Im Schlussanstieg lege ich nochmal Geschwindigkeit zu. Dann geht es über den First Cliff Walk. Gerne würde ich mir hier mehr Zeit lassen. Die Aussicht ist phänomenal, und auch das Gestein sieht sehr interessant aus. Aber ich habe keine Zeit. So lasse ich einfach die Action-Cam laufen, während ich über das Gitter trabe. Kann ich mir alles im Nachhinein anschauen. Mir kommen erste Scharen asiatischer Touristen entgegen. Warum müssen die ausgerechnet hier auftauchen? Warum müssen die ausgerechnet hier ein Gruppenfoto machen und damit den First Cliff Walk versperren? Ich rufe „excuse me“ und schaffe mir meinen Weg. Sorry, aber ich hab’s eilig.
Endlich, ich sehe die Verpflegungsstation. Sechs Minuten vor Cutoff! Mir wird erst mal ein Mikrofon ins Gesicht gehalten. Auf die Fragen des „Moderators“ dieses Streckenpostens antworte ich etwa so intelligent wie unsere Fußballspieler oder Trainer nach einem verlorenen Spiel. Was erlauben Moderator? Fragt der mich doch, ob ich weitermache! Natürlich mache ich weiter! Ich habe nicht fertig! Auch wenn ich bin schwach wie Flasche leer …
Apropos Flasche leer. Ich fülle nochmal meine Soft Flask. Nehme auch nochmal zwei Bananenstücke. Bis zur nächsten Verpflegungsstation sind es knapp 7 km. Ich habe dafür 1 ½ Stunden Zeit. Das sollte doch zu schaffen sein…
Ich laufe los. Einige Besucher, die auf der Terrasse des First ihren Cappuccino trinken, klatschen. Ich bedanke mich artig …
Es geht durch die Zeitmessung. Dann verliere ich die Orientierung. Laufe ich nicht gerade in die Richtung, aus der ich vor ein paar Minuten auf den First zugelaufen bin? Ich probiere es mit einem Weg, der nach links oben geht – ein Zeichen kann ich nicht sehen. Glücklicherweise ist es der Richtige. Uff – Glück gehabt! Ich hatte zwar die komplexe Wegführung bei der Streckenbeschreibung gesehen … aber so richtig kann man sich das erst vorstellen, wenn man einmal da war. Und da sich inzwischen viele Touristen unter die Läufer mischen ist es auch nicht geraten, einfach dem Nächsten hinterherzulaufen …
Glücklicherweise hatte ich das Streckenprofil ausgiebig studiert, so dass ich weiß, dass nach dem First nochmal eine unangenehme Steigung kommt. Oben nochmal ein Fotograf. Lächeln, winken … ich fühle mich ein bisschen wie Queen Elizabeth. Naja, bis auf den Geruch. Nach 3 ½ Stunden Anstrengung ist der nicht mehr königlich …
Es geht weiter Richtung Bachalpsee. Eine Touristenautobahn! Sicher nicht für die E101 Läufer, die viel früher hier vorbeilaufen. Aber inzwischen haben ganze Scharen von Asiaten und Arabern diesen breiten Schotterweg geflutet. Ein Fotograf von Alphafoto kommt mir entgegen. Aha, der hat also seinen Posten am Bachalpsee schon aufgegeben? Dort wurden doch in den letzten Jahren immer diese fast schon kitschigen Bilder aufgenommen. Schade eigentlich. Aber es macht wahrscheinlich auch keinen Sinn zu fotografieren, wenn man die Läufer vor lauter Touristen kaum erkennt.
Kurz vor dem Bachalpsee blicke ich nach rechts und erkenne das Faulhorn. Dorthin müssen wir! Leider aber nicht auf direktem Weg, sondern über eine Schleife, die um den Reeti herumführt. Fühlt sich an wie ein B‘scheisserle!
Wir verlieren also wieder unser eigentliches Ziel aus den Augen, dafür liegt die Bergkette von Eiger, Mönch, Jungfrau und Konsorten vor uns. Cutoff hin oder her: Hier MUSS ich ein Foto machen! Ich würde mich gerne hier im Gras am See niederlassen. Nicht so sehr aus Erschöpfung, sondern vor allem, um mir die Umgebung anzuschauen.
Beim Bericht über den E35 hatte ich geschrieben, dass ich bei der Auswahl der Lebensmittel an den Verpflegungspunkten den Eindruck habe, die Organisatoren würden sich der heimischen Lebensmittel schämen. Jetzt kann ich sagen: Bei der Wahl der Cutoff-Zeit für den E51 habe ich den Eindruck, die Organisatoren schämen sich der Bergwelt des Berner Oberlandes. Bräuchten sie gar nicht! Aber so ist mir kein längerer Genuss-Stopp vergönnt … ich muss weiter.
Die Höhenmeter zwischen First und Feld klingen nicht nach viel. Aber als ich um die Ecke biege, sehe ich die Grausamkeit der kurzen, aber heftigen Rampe. Wir müssen über eine Schulter des Reeti, und es geht steil bergan. Vor mir hängt eine asiatische Laufkollegin über ihren Stöcken gebeugt. So ungefähr sieht es immer auf den Everest-Bildern aus. Ich frage sie, ob alles o.k. ist. Sie bedeutet keuchend zurück, dass ich sie überholen soll – alles o.k., nur erschöpft. Auch ich muss mich ganz schön den Hang hochquälen. Oben ist eine kleine Schutzhütte mit 3 Helfern von der Bergwacht. „Alles o.k.?“ fragen sie mich. Ja, alles o.k.
Bei dem nun folgenden Abstieg verstehe ich, warum die 1 ½ Stunden für die Strecke von First zum Feld für mich nicht üppig sind: Es wird ganz schön technisch. Ein Laufkollege aus Fernost ist ausgerutscht und sitzt auf seinem Hosenboden. Er will sich weder in die Senkrechte helfen lassen noch lässt er zu, dass ich zurückgehe und die Bergwacht verständige. „No doctor, no doctor!!“. O.k., auch ich würde eher mal einen Arzt ablehnen aus Angst, dass er mir am Ende rücklings Blut abzapft (meine absolute Horrorvorstellung!), aber das waren doch nur harmlose Bergwachtler … Ist egal, es geht weiter.
Der Weg zieht sich über Schotter- und Schneefelder, immer wieder gibt es verblockte Abschnitte. Verdammt, ich komme hier nicht so gut voran wie gedacht. Ich laufe auf einen Niederländer auf. Der fragt mich nach Cutoff-Zeiten aus und fängt dann mit mir eine Diskussion an, ob man die denn noch erreichen kann. „Don’t talk, just run!“. Meine Güte. Wofür manche Läufer den wertvollen Sauerstoff verbrauchen.
Hinter jeder Kurve und Bergschulter vermute ich den nächsten Verpflegungsposten. Dann – endlich –geht es steil nach links, einen Grashang herab zum „Feld“. Die Betreuer dieses Verpflegungspostens applaudieren zur Aufmunterung. Von weitem habe ich schon ein Dixi-Klo gesehen. Das könnte ich jetzt gebrauchen – aber habe ich die Zeit dazu? Es sind noch 6 Minuten bis zum Cutoff! Ich hatte gelesen, dass die Zeit erst gezählt wird, wenn man die Verpflegungsstation verlässt – und entsprechend gilt das auch für den Cutoff. Ich frage eine der Helferinnen. Nein, keine Sorge, ich bin schon per Handscanner „registriert“, kann mir Zeit lassen bei Verpflegung und auf dem Dixi-Klo. Danke!!
Hier gibt es endlich was Salziges - Nüsse und Trockenfleisch. Ich greife zu, obwohl der Appetit geringer ist als er sein sollte. Ich zwinge noch diverse andere Sachen in mich rein, vor allem Flüssigkeiten, aber auch Orangenschnitze. Warum gibt es beim Eiger keine Melonen?? Die hatten mir so gut über den ZUT geholfen …
Die Verpflegungsstation ist hier in einem Kuhstall untergebracht. Und genauso riecht es auch. Die Rindviecher sind aber heute auf der Weide, es laufen nur die zweibeinigen Rindviecher des E51 herum …
Nach Verpflegung und Toilettengang mache ich mich an die nächste Etappe. Next Stop: Faulhorn. Das sind etwa 5km, aber auch 700 Höhenmeter. Ich habe noch 1 ¾ Stunden Zeit, bis dort der Cutoff zuschlägt. Da darf ich keine Zeit verlieren.
Erst geht es vom Kuhstall auf dem „Feld“ wieder über einen steilen Grashang zum Weg zurück, dann zunächst leicht wellig, später immer mehr abwärts. Ist doch blöd, dass wir jetzt so viele Höhenmeter „abbauen“, die müssen wir gleich wieder hoch! Dann: Wieder eine Stelle, an der ich die Markierung nicht gleich interpretieren kann. Ich entscheide mich glücklicherweise richtig, biege gegen die Grundrichtung links ab und sehe nach einigen hundert Meter einige Streckenposten. Was ich nicht weiß: Es sind die „Besenläufer“, die hinter der Nachhut auf dem Weg zum Faulhorn herlaufen werden und schon mal alle Markierungen beseitigen.
Es geht wieder aufwärts. Ich weiß, dass ich etwa 100 Höhenmeter in 10 Minuten schaffen kann. Wenn das auch hier noch möglich ist, dann könnte der Cutoff am Faulhorn drin sein. Anfangs mache ich ordentlich Boden gut. Dann kommen wir immer mehr in den Kessel, der zwischen Reeti, Faulhorn und Schoneggen liegt und nach Süden hin geöffnet ist. Will heißen: Kein Lüftchen mehr, wir sind nun voll der Sonne ausgesetzt.
Das Faulhorn (Mitte links) von Süden her gesehen - sieht gar nicht so steil aus ... |
Das Gelände wird immer steiler. Ich überhole den holländischen Kollegen, auch noch den „no doctor, no doctor“-Läufer, der während meines Stopps am letzten Verpflegungspunkt an mir vorbeigelaufen war. Das Faulhorn kommt wieder in Sicht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, dass der Weg dorthin ganz einfach ist. Das Faulhorn hat nichts von einem „Horn“. Der stumpfe Bergkegel sieht aus wie ein netter grüner Hügel mit einem weißen Gebäude drauf. Und es wirkt nicht sehr hoch. Aber von ihm trennen mich noch 600 Höhenmeter.
Blick nach unten, gleichmäßiger Schritt, Puls und Höhenmesser im Blick. Alle 100 Höhenmeter erlaube ich mir eine kurze Trinkpause. Bei einem dieser Stopps werfe ich einen Blick zurück. Der diskutierfreudige Niederländer ist nicht mehr zu sehen – die Besenläufer scheinen ihn überholt und aus dem Rennen genommen zu haben. Immer häufiger vibriert mein Handy im Rucksack. Unsere E16-Läufer scheinen wieder zurück zu sein und beleben unsere Whatsapp-Gruppe. Sie berichten von ihren Heldentaten, trösten Erik nach seinem DNF in Burglauenen und zittern mit mir bei meinem Kampf gegen den Cutoff. Dabei wird angefeuert und so manche Träne verdrückt. So richtig bekomme ich das erst später mit, denn im Aufstieg werfe ich nur mal einen kleinen Blick auf das Handy, dann konzentriere ich mich wieder ganz auf mich selbst. Aber das nicht enden wollende Vibrieren des Handys zeigt mir, dass sie in Gedanken bei mir sind.
Ich werde langsamer. Die Höhe macht mir zu schaffen. Und das etwas zu hoch angeschlagene Anfangstempo beim Kampf gegen den Cutoff am First rächt sich jetzt. Außerdem wird es immer steiler. Und heißer. Dann plötzlich stehe ich im Schatten – und gleich wieder in der Sonne. Ich bin so erschrocken, dass ich einen Ausfallschritt machen muss, damit ich nicht hinfalle. Ein Gleitschirmflieger hatte sich unbemerkt zwischen die Sonne und mich geschoben. Nicht schlimm. Aber bei dieser Aktion wird mir bewusst, wie sehr ich inzwischen Pudding in den Beinen habe. Wenn ich den Cutoff am Faulhorn schaffe – soll ich dann tatsächlich weitermachen? Mit diesen Beinen? Während ich die nächsten 100 Meter zum Grat aufsteige wird mir klar, dass es nur eine Entscheidung geben wird: Ich gehe zum Faulhorn und höre dort auf. Ich habe beim Kampf um den Cutoff so viele Körner liegengelassen, die mir für die technischen Stellen der zweiten Hälfte fehlen. Und dort brauche ich einen klaren Kopf und einigermaßen gute Beine.
Inzwischen sind es nur noch gut 500 Meter. Ein Helfer kommt mir entgegen. Für ihn scheine ich nach einer Engländerin auszusehen. „Hurry up, the aid station is closing in five minutes“. Das könnte ich schaffen. Aber es hat jetzt keine Relevanz mehr. Relevanz hat nur, dass ich oben am Faulhorn ankomme – dort will ich auf jeden Fall noch hin! Eine zweite Helferin kommt und feuert mich an. Ich berichte ihr von meinem Entschluss. Damit ich mich gar nicht mehr anders entscheiden kann, hält sie sofort den Handscanner an meine Startnummer und nimmt mich aus dem Rennen. Ich bin einverstanden. DNF!
Was ich nicht weiß: Dieser Entschluss löst im Tal bei unserer Gruppe wahre Euphorie aus. Sie sehen hinter meinem Namen eine Zeit von 6:41 – also 4 Minuten unter dem Cutoff. DNF steht dort nirgends. Was sie nicht wissen: Ich habe noch 300 Meter bis zum Gipfel. Und ich werde das Rennen nach dem Faulhorn nicht fortsetzen.
Ein Fotograf kommt mir entgegen, schießt noch zwei Bilder. Im Nachhinein fällt mir auf, dass man mir die Müdigkeit gar nicht ansieht. Scheine ich gut verstecken zu können ...
Ich laufe durch den Bogen auf dem Faulhorn, der den höchsten Punkt der Strecke markiert. 6:48, drei Minuten über dem Cutoff. Jetzt kullern auch bei mir ein paar Tränen. Es ist alles gleichzeitig: Erleichterung, Enttäuschung, Hunger, Durst, Müdigkeit, Stolz, es überhaupt so weit geschafft zu haben.
Ich wollte das Abenteuer. Siegfried und der Drache. Sabine und der Cutoff. Was für ein Kampf!
Ich sehe, dass die Helfer die Verpflegungsstation in Windeseile zusammenräumen. Moooooment mal! Eine sehr freundliche Frau zeigt mir, was noch alles da ist. Erklärt mir den unterschiedlichen Salzgehalt von vegetarischer und nicht-vegetarischer Boullion. Gibt mir Iso und Wasser. Dann sehe ich hinter ihr noch 3 Flaschen Cola. Ich frage, ob ich noch etwas davon haben kann. Da drückt sie mir eine ganze Flasche in die Hand. „Ist für den Weg nach Hause“. Danke!! Sie erklärt mir auch, wie ich jetzt ins Tal komme: Am besten zurück zum First, aber auf dem direkten Weg. Und dann mit der Seilbahn nach unten.
Zuerst genieße ich aber die Aussicht – oder was von der Aussicht noch übrig ist. Denn von Westen kommt eine Wolkenwand heran. Trotzdem sieht man noch durch Wolkenlöcher den türkisfarbigen Brienzer See. Wow!
Ich gebe Meldung ins Tal. Bitte entspannen – ich habe aufgehört! Andrea schreibt, dass sie mir via Firstbahn entgegenkommt. Katrin postet „Don’t cry for me, Argentina“ 😊.
Ich mache mich auf den Rückweg. „Quitter’s Road“ nennt man bei den Barkley Marathons den Weg, auf dem diejenigen Läufer ins Camp kommen, die den Wettkampf abgebrochen haben. Quitter’s Road kann ganz schön bitter sein. Aber ich bin mit mir im Reinen. Ich habe die richtige Entscheidung getroffen. Und der E51 war heute (noch) eine Nummer zu groß für mich. In diesem Fall ist Quitter’s Road sogar landschaftlich sehr schön. Es geht nochmals am Bachalpsee vorbei, ich kann noch den einen oder anderen Fotostopp machen. Nur die vielen Touristen nerven ein bisschen.
So sah das Faulhorn aus, bevor ich oben ankam: Das Berghotel liegt in der Sonne ... |
Mehrmals drehe ich mich noch in Richtung Faulhorn um. Aber ich sehe es nicht mehr. Als ob das Wetter den Cutoff kennen würde, hat sich kurz nach 14:15 eine Wolkendecke über den Gipfel gelegt und gibt ihn nicht mehr frei. Das hat schon fast etwas Symbolisches ...
Fünfzehn Minuten später: Das Hotel liegt im Nebel, der sich den ganzen Tag nicht mehr vom Faulhorn erheben wird. |
Irgendwann, im letzten Downhill zum First, sehe ich Andrea im Aufstieg. Ich trabe ihr entgegen. Andrea ist froh über jeden Meter, den ich ihr entgegengelaufen komme – auch ihr steckt der E16 in den Knochen.
Quitter's Road: Am Bachalpsee. |
Nun hat Andrea also die letzte Läuferin unserer Gruppe eingefangen, die noch auf der Strecke war! Wir spazieren gemütlich zur Seilbahn. Haben viel zu erzählen. Andrea berichtet, dass Wolfgang (wie erwartet) mit 2:05 der Schnellste von unserer Gruppe war. Esra hat mit 2:30 eine Wahnsinnszeit geschafft, Bernd 2:48. Andrea und Katrin sind mit 2:55 bzw. 2:56 klar unter 3 Stunden geblieben und haben ihr Ziel erreicht. Und für Uta und Dirk war der Cutoff nie ein Problem – sie haben sich mit 3:36 ebenfalls hervorragend geschlagen.
Und Erik? Der wurde tatsächlich von seinem Infekt eingeholt und musste in Burglauenen das Rennen aufgeben. Sehr schade!!
Wieder glücklich zusammen: Andrea und ich. |
Aber wie so oft – manchmal haben auch Enttäuschungen ihre positiven Seiten. Zum einen können wir nun ganz entspannt alle zusammen zu Abend essen. Es sind keine logistischen Verrenkungen und Extra-Shuttles notwendig. Und zweitens: Um 17:30 wird das Rennen von einem heftigen Gewitter überrascht, muss für 2 Stunden abgebrochen werden und wird dann auf verkürzter Strecke wieder gestartet. Wäre ich weitergelaufen, wäre ich um 17:30 wahrscheinlich an der Schynigen Platte gewesen. Da ist ein Gewitter vielleicht nicht mehr ganz so gefährlich, aber auch nichts, was man sich wünscht. Und wenn Erik weitergemacht hätte, wäre er zu diesem Zeitpunkt wohl irgendwo zwischen Lauberhorn und Eigergletscher gewesen ... GANZ schlecht!
Abends, nach unserem Essen, sehen wir die Läufer auf den letzten Metern des E101. Da das Rennen an den Versammlungspunkten für alle gleichzeitig neu gestartet wurde, laufen sie in Gruppen. Durchnässt, oft mit grenzwertigem Laufstil. Die anderen, die mit mir im Auto sitzen, bemitleiden diese Läufer. Ich weiß nicht – eigentlich sind das hier die schönsten Meter. Das Gefühl, auf dem Zahnfleisch zu gehen, aber gleichzeitig zu wissen, dass in wenigen Minuten die Endorphindusche im Ziel folgt. Dieses Gefühl blieb mir heute versagt, und das ist etwas, worum ich diese Gestalten mit ihren Stirnlampen und herabhängenden, nassen Klamotten beneide.
Aber es wird auch wieder ein nächstes Rennen geben. Und mit dem E51 habe ich noch eine Rechnung offen. Dieses Mal sollte es nicht sein, aber ich werde wiederkommen. Besser vorbereitet – physisch, vor allem aber mental. Der Kampf: Sabine gegen den Cutoff. Beim nächsten Mal will ich den Sieg davontragen.
In diesem Sinne: See you on the trails!
Wollt Ihr die Geschichte vom Eiger Ultra Trail 2018 in bewegten Bildern sehen? Hier ist das Video auf Youtube:
Danke! Da bin ich auch zuversichtlich ...
AntwortenLöschenGroßen Respekt vor dieser Entscheidung. Das macht einen guten Läufer auch aus.
AntwortenLöschenVielen Dank! Ja, ein Läufer sollte wissen, wann genug ist...
LöschenSehr schöner Bericht, danke.
AntwortenLöschenDie Cut off Zeiten sind knapp bemessen, darum freue ich mich auf das nächste Wochenende in Davos (T88) , da sind sogar Wanderer willkommen.
Nur nicht aufgeben. "Those who dare to fail can achieve greatly"
Danke! Der E51 war tatsächlich eine Lauf, bei dem mir auch grundsätzlich klar war, dass ich es mit den Cutoffs zu tun bekommen könnte. Dass das dann so früh geschehen konnte, wurde mir leider erst am Tag davor klar. Aber aufgegeben wird nicht!! Ich weiß schon jetzt, an welchen "Schrauben" ich da noch drehen kann, und das werde ich auch tun!
LöschenViel Spaß in Davos!