69 statt 101 Kilometer: Wenn das perfekte Crewing-Konzept über Nacht kollabiert

 


 

von Sabine 


Dreimal war ich schon als Athletin beim Eiger Ultra Trail dabei – immer hervorragend betreut von unserer TrailrunningHD Crew. Auch Erik hat schon zweimal den E101 gefinisht - 2017 und 2019. Vor drei Jahren musste Erik krankheitsbedingt zunächst vom E101 auf den E51 ummelden, dann sogar abbrechen. Diesmal wollte Erik seinen dritten E101-Finish schaffen. Und ich? Rollentausch. Nach dem Finish beim E51 vor drei Jahren habe ich keine eigenen Ambitionen mehr am Eiger, stattdessen finde ich mich erstmals in der Support-Rolle wieder.
 

 

Monatelange Planung trifft auf Realität


Während Erik trotz gesundheitlicher Widrigkeiten sein Training durchzog, vertiefte ich mich in die angewandte Mathematik: Ich berechnete eine neue Marschtabelle basierend auf vergleichbaren Altersklasseathleten, präzise Zeitkorridore für jeden Verpflegungspunkt. Erik diskutierte derweil stundenlang mit ChatGPT über die optimale Strategie: Wie viele Kilokalorien, wie viele Milliliter Flüssigkeit kann der Körper unter Belastung aufnehmen, ohne überlastet zu werden?


Das 99-CHF-Supporter-Ticket – wie alles in Grindelwald teuer – ermöglichte uns, fast alle Punkte per Bergbahn zu erreichen: Bort, First, Faulhorn, Burglauenen, Wengen, Männlichen, Kleine Scheidegg, Brandegg, Ziel. Auch als Crew kommt man ordentlich herum beim Eiger Ultra Trail. Jeder Meter war durchgeplant, jede Minute kalkuliert. Wir waren so akribisch vorbereitet, dass Erik an jedem gewünschten Punkt garantiert jemanden von uns sehen würde.


 

Der Schock: Freitag, 18 Uhr
 

Schon seit Mittwoch waren wir in Grindelwald, nutzten die Zeit zum Wandern als Vorbereitung auf unser eigenes Rennen beim Super Trail du Barlatay. Am Donnerstag besprachen wir nochmals alle Details: Was will Erik an welchem Punkt? 

Am Freitag kamen dann auch Wolfgang und Petra dazu – Wolfgang wollte den E35 laufen. Es war aber klar, dass wir ihn nicht sehen würden, sondern Petra seine Betreuung übernehmen musste.


Dann zur Anmeldung um 18 Uhr. Während ich mich noch mit einem Läufer unterhalte, sehe ich aus dem Augenwinkel nur Kopfschütteln bei Erik, Katrin und Andrea. Was war da los?


An der Startnummernausgabe die Hiobsbotschaft: Die Strecke des E101 war wegen Gewitterprognose von 101 auf 69 km verkürzt. Was viel schlimmer war als die reine Verkürzung: Die schönsten und anspruchsvollsten Passagen über Faulhorn, Schynige Platte und von Wengen zum Männlichen waren gestrichen. Das Rennen wurde nicht nur verkürzt, sondern regelrecht kastriert.

 


 


Erik hadert anfangs sehr. Und unsere Betreuercrew steht vor einem Riesenproblem: Monate akribischer Vorbereitung für die Tonne, eine völlig neue Strecke ohne jegliche Daten, auf denen man eine neue Marschtabelle aufbauen könnte. Das bedeutet: Komplette Neuplanung der Betreuung in wenigen Stunden – und das teilweise im Blindflug.


Aber Eisenhowers Spruch sollte sich bewahrheiten: „Der Plan ist nichts, die Planung ist alles." Die intensive Vorbereitung hatte uns so gut orientiert, dass wir flexibel reagieren konnten. Faulhorn, Burglauenen, Wengen, Männlichen – alles gestrichen. Dafür neu: Schwendi, ein Grindelwalder Vorort, den wir erst mal auf der Karte suchen mussten. Ein bisschen Spannung schadet ja auch nicht!

 


 


 


 

Wettkampftag: 3:45 Uhr - Der Start
 

Für uns alle gab es in der Nacht vor dem Rennen weniger Schlaf wegen der nächtlichen Umplanung. Dennoch: ich will den Start filmen, dann alles packen und schon mal nach Bort. 

 

Der Startschuss ist leiser als erwartet – dann geht's los für 600 Läuferinnen und Läufer. Erik muss mir erst ein „Hallo Sabine" zurufen, damit ich ihn im vorbeistürmenden Pulk erkenne. Mentale Notiz: rotes T-Shirt, schwarze Hose, später kommt ein weißes Käppi dazu. Wichtig, sich dieses Farbschema für die Teleobjektiv-Suche an den Verpflegungsstationen einzuprägen.


Nachdem Andrea und Katrin wach sind, ziehe ich mit schwerem Rucksack Richtung Firstbahn. Die Hauptstraße Grindelwalds ist gespenstisch ruhig – ein krasser Gegensatz zum Menschenauflauf, der tagsüber dort herrscht. Die Auffahrt nach Bort genieße ich: die perfekte Stille am Morgen und das sich in der Dämmerung abzeichnende Panorama.


Gleichzeitig die Sorgen: Erik hatte bei seinen E101-Versuchen immer Verdauungsprobleme in der ersten Rennhälfte. Dazu vor zwei Wochen eine seltsame Fußverletzung – eine schmerzhafte Schwellung am Vorderfuß außen, die erst in den Laufschuhen richtig wehtut, sich dann aber mit zunehmender Belastung immer mehr verschlimmert. Katrin hatte am Vorabend die Außenseite des betroffenen Schuhs von innen mit einer Nagelfeile traktiert, um das Material noch elastischer zu machen  – würde das helfen?


 

Verpflegungsstation Bort: Der erste Eindruck auf dem Stimmungsbarometer
 

Zunächst kommen die drei führenden Frauen: Beliana Hilbert, Daniela Oemus – und etwas später Eva-Maria Sperger. Ich filme und bewundere ihre Effizienz. Rein in die Station, sie bekommen, was sie brauchen, und dann ganz schnell wieder raus. Keine verschwendete Sekunde. So will ich das auch für Erik hinbekommen.


Ich positioniere mich strategisch, fülle Flaschen, lege Gels und Verbandsmaterial für alle Notfälle bereit. Dann taucht das rote T-Shirt auf – wie gut, dass Rot mittlerweile im Trailrunning aus der Mode gekommen ist, Erik hat ein Alleinstellungsmerkmal.


Flaschen tauschen, Gel reichen. „Wie geht's?" – „So lala." Ich hätte Schlimmeres erwartet nach den Sorgen vor dem Rennen. „Du bist Siebter Deiner Altersklasse, eine Minute hinter dem Sechsten." „Und wie viel auf den Ersten?" „Weiß nicht, sag ich Dir am First." Ich schicke Erik schnell raus aus der Verpflegungsstation – aber blöd, dass ich vergessen habe, ihn nach dem Fuß zu fragen. Immerhin ein gutes Zeichen, dass er ihn nicht erwähnt hat.


Zeit zum Organisieren: Flaschen ausspülen, Material einpacken. Weiter zur Seilbahn Richtung First. Und dann: wieder diese wunderbare Ruhe nach der hektischen Verpflegungssituation.

 


 


 

First: Lärm und Gedränge
 

Unterwegs lese ich Petras Nachricht: Ihr Zug nach Burglauenen für Wolfgangs E35-Start fällt aus – Schienenersatzverkehr. Nein! So was gibt's doch nur bei der Deutschen Bahn, nicht in der Schweiz!
Am First stoßen Andrea und Katrin zu mir. Es ist schrecklich laut – die Musik wummert aus den Lautsprecherboxen. Unangenehm für Elli, den Hund von Katrin und Erik. Das Gedränge ist viel größer als am Bort, hier hätte man für die Supporter wirklich mehr Platz machen können.


Ich gehe auf meinen „Ausguck" über dem Cliffwalk, dem hunderte Meter langen Gitter an der First-Steilwand. Von hier sehe ich die Läufer die steilen Serpentinen vom Bachläger hochkommen. 

Irgendwann ein Läufer mit rotem T-Shirt – da ist Erik! Ich verfolge ihn mit dem Tele: Er steigt gut auf, überholt andere, die vor ihm aus der Spur treten.


Dann sehe ich ihn auf dem Cliff-Walk. Ich filme, Andrea fotografiert, Katrin wartet am Verpflegungstisch. Während Erik neue Gels und Sportdrinks "tankt", beschwert er sich, nicht richtig ins Rennen zu kommen. Aber: Füße sind gut, die mitgebrachten Ersatzschuhe werden nicht gebraucht. Er schwitzt stark, wir nötigen ihn, mehr zu trinken. Dann ist er weg – keine Minute Aufenthalt. Ein effizienter Formel 1 Boxenstop.


Jetzt wird's hektisch: Seilbahn runter nach Grindelwald, dann schnell zum Zug nach Schwendi. Der fährt nur alle 30 Minuten. Zwischen Talstation und Bahnhof müssen wir uns beeilen, aber das ist schwierig: Die Hauptstraße ist zu Klein Shanghai mutiert. Und Klein Tokio. Und Klein Seoul. Unglaublich, wie viele Asiaten hier sind – zu Hause in Fernost ist da wahrscheinlich keiner mehr. Trotzdem schaffen wir den leicht verspäteten Zug.

 


 


 

Schwendi: Versteckspiel und saure Gurken
 

Erik ist mittlerweile laut Live-Tracking durch die Verpflegungsstation in Feld und liegt auf Rang 6. Wir sind in Schwendi – aber wo ist denn hier die Verpflegungsstation? Wir finden sie schließlich in einer Schreinerei versteckt. Wieder das Ritual: Verpflegung auspacken, Flasks füllen, im Live-Tracking Eriks Platzierung checken. Erfreulich: mittlerweile ist er Fünfter, hat aber 6 Minuten Rückstand auf Platz 4.


Dann kommt er. Ist ziemlich fertig vom langen, technischen Downhill. Setzt sich kurz hin, bereut es beim Aufstehen. Und Erik, der sonst immer zu süßem Energiedrink und Glibbergels greift, nimmt tatsächlich eine Kartoffel und saure Gurken! Den Tipp, den ihm ChatGPT gegen die Palate-Fatigue gegeben hat, nimmt er wirklich an!


Seinen Weiterweg haben wir schon gesehen: Bahnlinie queren (die Schranken sind glücklicherweise offen), dann steil bergauf. Auch wir müssen sofort weiter zum Zug nach Grindelwald Terminal – und der ist nun auch verspätet. Herrgott, was ist mit den Schweizern los? Früher stellte man nach ihren Zügen die Uhr! Als der Zug kommt, ist er hoffnungslos überfüllt. Ich quetsche mich in einen Wagen, Katrin, Andrea und Elli müssen einen „Sondereingang" auf Hüfthöhe nehmen, den der Lokführer aufschließt. Auch die Crew muss heute sportliche Höchstleistungen bringen.

 


 


 


 

Kleine Scheidegg: Endlich Zeit zum Durchatmen

 

Dann am Terminal der Transfer zur Zahnradbahn, hoch zur Kleinen Scheidegg. Dort ist dann endlich genügend Zeit für die Crew: Wir gönnen uns frischen Kaffee und Brötchen. Ich will mir die Frauenspitze anschauen und bin verwundert: Die Läufer kommen von unten hoch – das ist doch nicht die normale Strecke! Denn eigentlich ist der Weg vom Männlichen zur kleinen Scheidegg fast eben und gut laufbar. Nicht dieses Jahr! Die Ersatzstrecken-Planer haben sich noch eine kleine Gemeinheit einfallen lassen. Erik und Wolfgang wissen das nicht, werden kalt überrascht.


Ich sehe Daniela Oemus, die von Eva-Maria Sperger an der Verpflegungsstation überholt wird. Wow! Was für ein Rennen ...

 

Erik ist am Männlichen nur noch 2 Minuten hinter Platz 4 – entweder dreht er in der zweiten Streckenhälfte auf, oder die anderen fallen zurück.


Wir müssen uns aufteilen: Katrin schicken wir nach Brandegg, denn der Kurs der Läufer führt diesmal nicht über Eigermoräne und Eigergletscher, sondern direkt über eine „Autobahn" ins Tal.


Der Vorteil der Streckenverkürzung: Wir sehen auch Wolfgang! Ich beobachte mit dem Tele, wie die Läufer über eine Kuppe kommen und sich in einem Brunnen abkühlen, bevor sie den letzten Stich zur Verpflegung hochkämpfen. Da – Wolfgangs charakteristisches grün-schwarzes Trikot! Er freut sich über den unerwarteten Support, läuft aber noch die kurze Strecke nach oben zur offiziellen Verpflegung, weil er unbedingt Cola haben will.


Erik folgt 15 Minuten später. Auch ihn erkenne ich sofort am roten Trikot. „Du bist jetzt Vierter, müsstest den Dritten schon sehen können!" Erik aber ist von der Hitze völlig geschafft: „Heute geht's nur ums Ankommen." Die süße Sportdrink-Plörre hängt ihm zum Hals raus, er will nur noch normales Wasser. Verdammt, darauf war ich nicht vorbereitet. Aber dann erinnere ich mich, dass ich welches in meinem eigenen Trinkschlauch habe - damit kann Erik seine Geschmacksknospen mal wieder "neutralisieren".

 


 


 

Brandegg und das Transponder-Drama


Für Erik geht's zu Fuß bergab, wir steigen in die Bahn. Unterwegs holt Erik Wolfgang tatsächlich fast ein – Katrin und Petra können beide kurz hintereinander in Brandegg verpflegen. Das klappt so schnell, dass Petra, Katrin und Elli danach gleich in unsere Bahn zusteigen und mit uns zurück nach Grindelwald fahren.


Dann die Katastrophe: Eriks Transponder hat in Brandegg nicht ausgelöst. Vorbeigelaufen? Akku leer? Wir starren gebannt auf die Handys. Im Livetracking tut sich nichts! Das Problem: Ohne Zeitnahme können wir nicht schätzen, wann er ins Ziel kommt.

 

 


Immerhin sind wir pünktlich im Ziel, um Wolfgang zu empfangen. Wir fotografieren, filmen und gratulieren – dann öffnet der Himmel seine Schleusen. Shit, jetzt wird Erik nochmal richtig nass! Zweimal donnert es, wir ziehen uns ins Zelt zurück, das im Zielbereich aufgestellt wurde.


Endlich: Erik hat Pfingsegg erreicht und wird wieder in der Zeitwertung geführt. Nur noch runter vom Berg und den steilen Gegenanstieg hoch nach Grindelwald. Aber irgendwas stimmt mit der Zeitmessung nicht – plötzlich wird Erik schon fürs Ziel angekündigt. Wir stürmen aus dem Zelt – zu spät! Er ist schon da. Das einzige, was am heutigen Tag nicht geklappt hat: Wir haben Eriks Zieleinlauf verpasst. Also After-Finish-Fotos statt Zieleinlauf, Gratulation zu einer Superleistung, und ab ins Hotel.


Und dort zeigt ein Blick aufs Handy, dass Erik dann doch das geschafft hat, was er selbst kaum mehr erwartet hat: Platz 3 seiner Altersklasse!

 



 


 

Fazit: Andere Perspektive, gleiche Intensität


Crewing ist genial – aber gnadenlos. Viel Planung und gleichzeitig höchste Flexibilität sind gefordert. Man muss jede Sekunde voll konzentriert sein, ständig mitdenken, vorausplanen. Abends war ich geschaffter als nach manchem eigenen Rennen, obwohl ich keinen Schritt gerannt bin.


Trotzdem: Ich übernehme definitiv bald wieder die Betreuerrolle. Die andere Seite des Trailrunnings ist mindestens genauso aufregend – und zeigt, wie wichtig ein gutes Crew-Team ist. Erik wäre ohne uns drei definitiv nicht so gut durch den Tag gekommen.

 


 

 

 


 

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