UTMB Elite Qualifikationssystem: Simply the Best?

 



von Sabine

 

Mitte August 2022, zwei Wochen vor dem letzten UTMB, titelte das US-amerikanische Trailrunner Magazine: „Will 2022 Be the Last Big UTMB?“. Damit spielte Zoe Rom, die Chefredakteurin des Trailrunner Magazine nicht auf die Teilnehmerzahl an, sondern auf die Leistungsdichte der Elite.

800 und 675 – das waren bislang die Kennzahlen. Jeder Läufer, der einen ITRA Performance Index über 800 und jede Läuferin, die einen Index über 675 hatte, konnte am UTMB, CCC oder OCC teilnehmen, ohne vorher durch die Lotterie zu müssen. Bei einem ITRA Performance Index von 880 oder mehr (Männer) bzw. 760 oder mehr (Frauen) war die Teilnahme sogar frei. Von 2023 an wird dieser Elite-Qualifikationsprozess dagegen nur noch über „Golden Tickets“ ausgetragen: Die ersten drei jedes World Series Events und die ersten zehn jedes World Series Majors erhalten die Möglichkeit, beim UTMB in der entsprechenden Streckenkategorie zu starten. 

Ist das besser oder schlechter als die Qualifikation über ein Kennzahlen-basiertes System wie den ITRA Performance Index? Das ist zunächst schwer zu sagen. Zum einen kann der Performance Index nach unten verzerrt sein, beispielsweise nach längeren Verletzungspause oder nach Pause wegen Schwangerschaft/Geburt. Dann nämlich ist der Performance Index, der ja die Ergebnisse der letzten drei Jahre als gewichtetes Mittel berücksichtigt, etwas „nachtragender“. Im Gegensatz dazu kann in einem Golden Ticket System auch mal ein One-Hit-Wonder zum Zuge kommen. 

Natürlich ist eine Qualifikation durch Vorentscheidungsrennen spannender als eine Qualifikation aufgrund einer Kennzahlen-Liste. Wie überall im Sport. Jedes Playoff ist spannender als ein Liga-Spiel, denn beim Playoff gilt: Hop oder Top. 

Nun ist es aber so, dass der UTMB immer wieder als die eigentliche Weltmeisterschaft im Ultra-Trailrunning bezeichnet wird. Und dazu sollten wirklich die Besten der Besten an der Startlinie stehen. 

Gelingt das mit dem neuen Qualifikationsprozess?



Große Streuung

Ein Blick auf die ITRA Performance Indizes der für die UTMB Rennen 2023 relevanten Qualifikationsrennen könnte da Aufschluss geben. Für den UTMB 2023 begann die Qualifikationsphase 15 Monate vor dem Rennen. Wenn man sich die „Golden Tickets“ aus diesen Rennen anschaut, dann fällt auf, dass rund 33% aller über diese Regelung vergebenen Startplätze an Athleten gehen, die einen ITRA Performance Index von weniger als 800 aufweisen; etwa 53% aller Gewinnerinnen eines Golden Tickets haben einen ITRA Performance Index von weniger als 675 (Abb. 1). Grundsätzlich befinden sich mehr Frauen als Männer unter der bisherigen Elite-Cutoff-Linie, und der Effekt ist umso stärker, je länger die Rennen sind.




Abbildung 1: ITRA-Performance Index der ersten drei Platzierten (M1, M2, M3, F1, F2, F3) der Rennen der UTMB World Series. Blaue/Orange Linie: Bisheriger Grenzwert, oberhalb dem der Läufer/die Läuferin einen Elite-Startplatz für den UTMB erhalten hat.



Ein solcher Effekt kann sich dadurch erklären lassen, dass das Angebot größer ist als die Nachfrage – sich also weniger „echte“ Eliteläufer zu den jeweiligen „by UTMB“ Rennen anmelden als vom Veranstalter gedacht. Schaut man aber etwas genauer hin, dann sieht man, dass die verschiedenen Rennen der UTMB World Series unterschiedlich stark besetzt sind. 

Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den UTMB World Series Majors (Abb. 2). Auch hier qualifizieren sich einige Läufer und Läuferinnen, die nach den bisherigen Kriterien nicht zur Elite gehören (56% bei Frauen, 35% bei Männern).




Abbildung 2: ITRA-Performance Index der ersten zehn Platzierten  der Rennen der UTMB World Majors. Blaue/Orange Linie: Bisheriger Grenzwert, oberhalb dem der Läufer/die Läuferin einen Elite-Startplatz für den UTMB erhalten hat.



Eines ist im Verlauf des letzten Jahres aufgefallen: World Series Event ist nicht gleich World Series Event. Es gibt Veranstaltungen, da knubbeln sich Läuferinnen und Läufern mit hohem Performance Index. Und dann gibt es Events, bei denen zwei, maximal drei wirklich gute Läuferinnen und Läufer auftreten. Wie bereits erwartet: Es hat sich ein gewisser „Golden Ticket Tourismus“ eingestellt. Einige Läuferinnen und Läufer wollen sich das Ticket sichern, indem sie anderen aus dem Weg gehen und lieber an das andere Ende der Welt reisen, anstatt sich mit ihresgleichen zu batteln. Das ist zwar eine Entwicklung, die sich vorhersagen ließ, aber es ist keine gute Entwicklung … Stichwort: Carbon Footprint.



New rule, new rule, new rule

Das scheinen sich auch die Verantwortlichen der UTMB World Series gedacht zu haben. Denn – ohne es an die große Glocke zu hängen bzw. es per Pressemitteilung anzukündigen – fand man plötzlich auf dem Elite-Bereich der Homepage eine “neue Regel”: Die UTMB World Series Finals Second Chance Selection.

In der Liste sind nach Rennkategorie (100 M, 100 K, 50 K) die 50 besten Läuferinnen und Läufer aufgeführt, die es nicht auf Platz 1-3 bei einem World Series Event bzw. auf Platz 1-10 bei einem World Series Major geschafft haben. Das Ranking erfolgt dabei nicht anhand des Performance Index, sondern anhand des UTMB Score aus dem jeweiligen Rennen. 

Auch diese Liste ist interessant. Auf der Liste (Stand 31. Mai 2023) stehen zwar einige Läuferinnen und Läufer mit hohen Scores, doch auch viele, die mit der früheren Regelung nicht als “Elite” durchgegangen wären. Wenn man hier einmal die früheren Grenzwerte beim Performance Index (800 bei den Männern, 675 bei den Frauen) auf den Score überträgt, dann liegen bei der 100 Meilen Kategorie 39 Frauen und 24 Männer außerhalb dieser Grenzwerte; bei der 100 km Kategorie sind es 37 Frauen und 12 Männer, bei 50 km sind es 22 Frauen und 13 Männer. 

Diese Second Chance Selection heilt einen der größten Kritikpunkte am “Golden Ticket” System: Man muss jetzt nicht mehr der Konkurrenz ausweichen, um in einem schwach besetzten Rennen einen der ersten drei Plätze zu belegen – man kann sich auch einem Battle wie bei einem Lavaredo oder Western States aussetzen, einen hohen Score erzielen – und qualifiziert sich auch dann noch für die Finals, wenn man nicht einen der ersten drei Plätze erreicht. 

Tatsächlich spricht diese Liste Bände, was die Kompetition bei den unterschiedlichen World Series Events betrifft: Denn die Mehrzahl der Einträge auf der Second Chance Liste kommt von wenigen Wettbewerben: Western States, Lavaredo, Transvulcania, Tarawera, Speedgoat, Istria, Eiger. Größtenteils sind das die Klassiker, die die Läuferelite anziehen, und das auch früher, als man sich dort noch nicht für den UTMB qualifizieren konnte.

Es gibt aber einen wesentlichen Nachteil der Second Chance Liste: Erst spät in der Saison hat man über diese Art der Qualifikation seinen Startplatz wirklich sicher. Denn man kann – wenn man weiter unten auf der Liste steht – noch spät aus der Liste fliegen. Oder man kann “hineingeschwemmt” werden, wenn ein Läufer oder eine Läuferin sich doch noch direkt qualifiziert, der/die vorher nur die Qualifikation als “lucky looser” hatte. 

Das scheint auch den Verantwortlichen des UTMB aufgefallen zu sein, und deshalb gab es – nur wenige Wochen, nachdem die “Second Chance Selection” eingeführt war, wieder „New Rule“: Die Qualifikation via UTMB Score. 

Oh, das klingt vertraut. Also geht es jetzt doch wieder zurück zu einer Qualifikation via ITRA Performance Index?

Nein, nicht ganz. Zum einen bleibt (zumindest zunächst) die Qualifikation über die “Golden Tickets” erhalten. Zum anderen geht es nicht um den UTMB Index – also die Bewertung des Läufers / der Läuferin aufgrund der Leistungen in den letzten Jahren – sondern um den UTMB Score, also die Bewertung der Leistung bei einem bestimmten Rennen. Im Fall der neuen Qualifikationsregeln muss es (natürlich) ein Rennen der UTMB World Series sein. 

Wer es also nicht über das Golden Ticket in die Finals schafft, kann sich die Teilnahme sichern, wenn er/sie einen Score bei einem UTMB World Series Race aufweisen kann, der größer ist als der entsprechende Qualifikationswert. Interessant: Anders als früher ist dieser Score nicht nur für Männer und Frauen unterschiedlich, sondern auch für die unterschiedlichen Strecken (Tab. 1). Je kürzer die Strecke, desto höher der Score, den man erzielen muss. 


Tabelle 1: Qualifikationslimits anhand des UTMB Score


Während man sich in diesem Jahr sowohl über die “Second Chance Selection” als auch über den UTMB Score qualifizieren kann, wird es im nächsten Jahr nur noch die Qualifikation über den UTMB Score geben. Da kann man natürlich fragen: Welche Reglung ist strenger? Ganz eindeutig die des UTMB Score. Denn von den jeweils 50 Qualifizierten der “Second Chance Selection” (Stand 31.5.2023) erreichen 

  • den Score von 680 (Frauen, Kategorie 50K) nur 15 Läuferinnen
  • den Score von 830 (Männer, Kategorie 50K) nur 10 Läufer
  • den Score von 660 (Frauen, Kategorie 100K) nur 27 Läuferinnen
  • den Score von 800 (Männer, Kategorie 100K) nur 38 Läufer
  • den Score von 600 (Frauen, Kategorie 100M) nur 32 Läuferinnen
  • den Score von 760 (Männer, Kategorie 100M) alle 50 Läufer


Tabelle 2: Zahl der LäuferInnen, deren UTMB Score beim jeweiligen Rennen höher ist als der laut Tabelle 1 geforderte Score. Blau: UTMB World Major Events. Rot: Pro Kategorie (Streckenlänge, Geschlecht) im Durchschnitt weniger als 3 Leistungen mit mindestens o.g. UTMB Score. Gelb: Pro Kategorie zwischen 3 und 6 Leistungen mit mindestens o.g. UTMB Score. Grün: Pro Kategorie mehr als 6 Leistungen mit mindestens o.g. UTMB Score. Die Werte in der rechten Spalte sind ein Indikator für die Kompetition im jeweiligen Wettkampf. Das kompetitivste Rennen in der UTMB World Series ist somit der Western States.



Und dann kommt auch noch Kilian

Juli 2023: Eiger Ultra Trail by UTMB. Plötzlich spricht sich herum: Kilian Jornet wird starten. Aber nicht beim E101 oder E51, sondern beim E16. 

What?

Während sich die Trailrunning-Fangemeinde und so mancher Experte verwundert die Augen reibt, wird gleich noch die Erklärung hinterhergeschoben: Kilian brauche als Sieger des UTMB für seine Qualifikation noch mindestens einen Running Stone aus einem Rennen 2023. 

Aha. Aber wo findet man diese Regelung?

Nirgends, wie ich bei gründlicher Suche auf der UTMB World Homepage feststellen muss. 

Also wende ich mich direkt an den UTMB – und erhalte eine Woche später folgende Antwort:

“This rule is not yet public, but for you information the TOP 3 at UTMB, CCC o OCC have a direct access to the finals the following year with the condition to have at least 1 Running Stone.”

Es gibt also Regeln, die schon angewendet und gegenüber einzelnen Läufern/Läuferinnen kommuniziert werden – die aber der Öffentlichkeit noch nicht bekannt sind. Mal ganz abgesehen davon, dass sich einem der Sinn dieser Regel nicht erschließt. Es wäre völlig o.k., wenn die besten 10 Läufer und Läuferinnen der letztjährigen UTMB Finals im nächsten Jahr einen garantierten Startplatz hätten - denn UTMB, CCC und OCC haben einfach eine deutlich höhere Leistungsdichte als jedes andere Rennen der UTMB World Series. Wozu soll man sich dann noch einen Running Stone erlaufen? Man hat doch bewiesen, dass man die Distanz drauf hat. Für diejenigen, die sich bei einem UTMB World Series Rennen im Vorjahr das Ticket sichern - sei es als "Golden Ticket" oder via UTMB Score - ist kein zusätzlicher Running Stone notwendig. 

Oder liegt es an dem Konstrukt der UTMB Running Stones, die man nur bei den UTMB World Series und World Major Rennen sammeln kann, nicht aber bei den UTMB Finals? Auf der Seite des UTMB steht aber: "Collecting Running Stones is the only way to access the UTMB World Series Finals for regular runners." Dann sollte man diese Regelung auch wirklich nur für den "regulären Zugang" anwenden und die Elite damit in Ruhe lassen.

Kilian hat das auf seine Weise gelöst. Er hat ein Rennen gewählt, zu dem er sowieso gefahren wäre, weil seine Frau dort den E51 gelaufen ist. Er hat die kürzeste Distanz gewählt, für die es einen Running Stone gibt - 16 Kilometer. Und selbst diese Strecke ist er nicht in vollem Tempo gelaufen. Hat sich ein paar mal an den Oberschenkel gepackt und was von einer Verletzung gesagt. Ob die Verletzung nun echt war oder nicht - Kilian hat absichtlich oder unabsichtlich deutlich gemacht, wie lächerlich diese Regel ist.



Keine Planbarkeit, keine Transparenz 

Kommen wir nochmal zurück zum Ausgangspunkt: Als das Trailrunner Magazine 2022 die Frage gestellt hat “Will 2022 be the last Big UTMB?”, haben Sie eigentlich den Nagel auf den Kopf getroffen – unter Berücksichtigung der damals gültigen Elite-Qualifikationsregeln. Denn das ursprünglich vorgesehene System, das ausschließlich auf Golden Tickets basierte, benachteiligte EliteläuferInnen, die sich für kompetitive Qualifikationsrennen anmelden. Andererseits qualifizieren sich LäuferInnen, die in den hochkompetitiven Finals keine Chance haben. 

Man muss den Organisatoren des UTMB zugute halten, dass sie das Qualifikationssystem korrigiert haben – nachdem klar war, dass hier was in die falsche Richtung läuft. Inwiefern hier die Pro Trail Runners Association eine Rolle spielte, bleibt dahingestellt.

Dennoch: Während der ersten Saison, in der das neue Qualifikationssystem gelten soll, wurden ganze vier mal die Regeln geändert: Zunächst wurde die Second Chance Selection eingeführt, dann der UTMB-Score (mit der Ankündigung, dass die Second-Chance Selection in der nächsten Saison wieder abgeschafft wird), dann wurde die Qualifikationszeit von „15 Monate vor den Finals“ auf „Kalenderjahr vor den Finals“ geändert, und jetzt gibt es – zumindest inoffiziell – die Regel, dass auch die ersten Drei der vorherigen Finals für das kommende Finale qualifiziert sind, sofern sie im laufenden Jahr einen Running Stone erlaufen. Ergo: Viel Chaos. Für die Elite AthletInnen ist das ein echtes Problem, denn es fehlt die Planbarkeit. So mancher hätte auf einen Start bei einem weiteren UTMB World Series Rennen verzichtet, wenn er geahnt hätte, dass es auch noch andere Qualifikationsmöglichkeiten gibt. 

Außerdem fehlt die Transparenz: Keiner der oben genannten Neuerungen wurde per Pressemeldung kommuniziert. Man bemerkt sie erst, wenn man sich regelmäßig die entsprechende Seite von UTMB World anschaut. Und wenn man genau hinschaut, gibt es immer mal wieder eine „New Rule“. Noch schlimmer: Es gibt Regeln, die werden schon angewendet, noch bevor sie veröffentlicht sind. Sorry, liebe Leute vom UTMB: Das ist unprofessionell und schadet unserem Sport! Denn der UTMB ist nun mal kein Feld-Wald-Wiesen Rennen, sondern die selbsternannte Weltmeisterschaft im Ultratrail-Running.

Immerhin gibt es eine positive Nachricht: Keine Läuferin und kein Läufer soll durch die vielen Regeländerungen einen Schaden haben. Das heißt: Wer sich über die Second-Chance Selection qualifiziert hat, nicht aber über den UTMB Score, darf trotzdem bei den Finals mitmachen. Und auch die Regeln der Qualifikationszeiträume gelten in dieser Saison parallel: Zwischen Januar und August 2023 kann man sich sowohl für die Finals 2023 als auch für die Finals 2024 qualifizieren.

Wenigstens etwas. Wobei man natürlich sagen kann: Den UTMB kostet diese „Großzügigkeit“ nichts, denn anders als früher müssen ja auch die Elite-AthletInnen für ihre Teilnahme zahlen. Aber Achtung – New Rule! Das Elite Support Programm unterstützt 100 AthletInnen (50 Männer, 50 Frauen) finanziell, um eine Teilnahme am UTMB zu ermöglichen. 



Es bleibt spannend

Es hat sich also vieles geändert im letzten Jahr – und die Auswirkungen wird man frühestens im August sehen. Wie „big“ wird der UTMB 2023? Wie hoch wird die Leistungsdichte sein? Und wie sehr wirken sich die Qualifikationsrennen auf die Substanz der LäuferInnen aus? Wie viele der qualifizierten LäuferInnen treten 2023 tatsächlich bei den Finals an? Könnte das ganze „Durcheinander“ in diesem Jahr zur Folge haben, dass sich weniger Läufer für die 2024er Ausgabe des UTMB interessieren? Wie stark werden die Satellitenrennen der UTMB World Series in Zukunft besetzt sein?

Es bleibt also spannend. Denn eines ist sicher: Es wird bestimmt noch die eine oder andere Änderung am Qualifikationssystem geben. 

 

 


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