von Sabine
In diesem Jahr feiert der Karwendelmarsch sein zehntes Jubiläum. Wahnsinn. 9 Jahre sind vergangen seit seiner „Wiederbelebung“ 2009. Wir hatten 2011 von der Veranstaltung gehört, und recht schnell stand der Entschluss fest: Da müssen wir auch hin. "Wir" – das waren damals Erik und ich, denn Katrin und Andrea waren noch nicht vom Trailrunning-Virus infiziert. 2012 machten wir uns dann zum ersten Mal auf den Weg von Scharnitz nach Pertisau. Für mich war das der erste echte Ultra. Den man so leicht nicht vergisst, der super organisiert und so fürchterlich verregnet war. Das schrie nach Wiederholung – gleich im nächsten Jahr. Und dieses Mal hatten wir Glück mit dem Wetter und sahen, durch welch schöne Landschaft dieser Lauf führt. Damals hatte ich den Race Report für Andrea geschrieben, die beruflich gerade im Ausland war. Jetzt ist er mir nochmal in die Hände gefallen und hat Erinnerungen geweckt. Also rufe ich heute den „Throwback Thursday“ aus und sage: Happy Birthday, Karwendelmarsch! Alles Gute und ein langes Leben …
Wie ist es beim zweiten Mal?? Diese Frage stellen sich Erik und ich beim Kohlenhydrate-Schaufeln in einer Pizzeria in Scharnitz. Erik behauptet, er könne sich an maximal 5 Laufminuten vom Karwendelmarsch 2012 erinnern. Kein Wunder, er läuft ja auch so schnell - und irgendwann fließt durchs Erinnerungszentrum im Gehirn auch kein Blut mehr, weil das in der Wade gebraucht wird. Da ich eher von der gemütlichen Läufer-Sorte bin, hatte ich immer gedacht, dass ich mich an jeden Meter vom Karwendelmarsch erinnern kann. Schließlich habe ich ja genügend Zeit, sie mir einzuprägen. Bei einem intensiven Studium der Wanderkarte eine Woche vorm Lauf musste ich dann feststellen, dass meine Erinnerung an einigen Wegstücken Lücken aufweist. Gab es tatsächlich so viele Serpentinen beim Aufstieg zum Karwendelhaus? Und lag nicht 2012 die Falzthurn-Alm direkt hinter der Gramai-Alm. Hatte da jemand noch kurzfristig 4km Weg eingefügt? Während wir noch reden, befürchte ich schon, dass mein Gehirn alle Grausamkeiten des Laufs schöngefärbt hatte. Alle Steigungen waren 2012 weniger steil und weniger lang. Ganz sicher! Vielleicht habe ich eine neue Krankheit entdeckt: Morbus Amnesia Euphemismiensis?
Erik und ich hatten uns für die Nacht vor dem Lauf ein Zimmer in Scharnitz reservieren wollen (während Katrin und die Kinder schon den ersten Fan-Posten an der Eng-Alm besetzten). Aber weil Scharnitz schon ausgebucht war, wählten wir das Hotel „Ramona“ in Giessenbach. Auch wenn der Hotelname eher an ein Etablissement im Bahnhofsviertel denken lässt, konnte ich alle beruhigen. Denn nach meiner Erinnerung befindet sich im Ortsteil Giessenbach zwar ein Haltepunkt der Österreichischen Bundesbahnen, aber garantiert kein Bahnhofsviertel. Und es mögen sich in Giessenbach vielleicht Fuchs und Hase gute Nacht sagen, nicht aber Jaqueline und Chantal. Bei Tripadvisor und Holidaycheck gab es nur mittelmäßige Kritiken für das Hotel, und auch die Reservierung verlief eher chaotisch.
Beim Checkin sind wir dann aber angenehm überrascht, als wir das Zimmer sehen: Es ist nicht nur sauber und groß, sondern hat sogar eine kleine Küchenzeile. Das ist ganz praktisch, denn damit ist alles vorhanden, um unser mitgebrachtes Frühstück tatsächlich schon um 4 Uhr verdrücken zu können. Schließlich muss der Blutzuckerspiegel im Lot und die Verdauung rechtzeitig vorm Lauf sowohl angekurbelt als auch beendet sein. Das vom Hotel für die Läufer angebotene Frühstück um 5 Uhr wäre mir hierfür zu spät, denn der Lauf startet ja schon um 6 Uhr.
Nach einer kurzen Nacht (5 ½ Stunden, dank Ohrstöpseln halbwegs gut) stehen wir dann um 4 Uhr auf. Zunächst fragen wir uns, wie man so bekloppt sein kann. Aber dann beginnen wir mit Frühstück, Abkleben und Einschmieren. Während ich beim Frühstück eher auf Natur setze (Brötchen mit Mandelmus und Milchkaffee), kommen bei Erik diverse verdächtige Pülverchen zum Einsatz: Ultra-Buffer nach Dr. Feil, Magnesium und Ackerschachtelhalm … und noch ½ Liter Rote-Beete Saft für den verstärkten Sauerstoff-Transport. Meine Meinung: Das ist Bio-EPO! Wobei: wenn ich seine Laufzeit betrachte … dann ersetze ich ab morgen Rotwein durch Rote-Beete-Saft 😖.
Um 5 Uhr ist alles geschmiert, geklebt und gepackt – und wir verlassen das Hotel. Gut, dass wir so früh dran sind, denn der „Event-Parkplatz“ ist schon recht voll, als wir in Scharnitz ankommen. Wie wir später erfahren, ist die Teilnehmerzahl von 1300 im Vorjahr auf 1800 gestiegen! Und das hat natürlich auch Auswirkung auf den Parkplatz …
Es ist a….kalt, als wir vom Parkplatz zum Gemeindezentrum gehen – das Thermometer im Auto zeigt 9°. Und da sich Erik für die ultraleicht-Variante entschieden hat (Shirt, kurze Hose, KEIN Rucksack, 6 Salztabletten und 2 Müsliriegel in der Hosentasche), friert er sich natürlich schier was ab. Ich dagegen habe in meinem Trinkrucksack die Ausrüstung dabei, die mich bei schönem Wetter auch auf den Mount Everest bringen würde. Und so kann ich meine Windjacke anziehen, die mich schön warmhält. Die sollte ich zwar für den Rest des Tages nicht mehr brauchen, aber sie reist trotzdem mit mir einmal quer durchs Karwendel.
Nach Abgabe der Taschen (zum Transport nach Pertisau) und dem obligatorischem Schlange stehen vorm Klo sehe ich mich dann mal draußen um - und verschaffe mir mal einen ersten Überblick über die Konkurrenz 😎.
Schon eine erste Schätzung verrät mir, dass dieses mal bedeutend mehr Leute mitmachen als beim letzten mal. Auch den Schützenverein Scharnitz kann ich beobachten, wie er letzte Vorbereitungen für das Abfeuern der Startkanone (!) trifft … Während man nach der Bluttat von Dossenheim in Deutschland über ein Verbot großkalibriger Waffen diskutiert, scheint das in Österreich kein Thema zu sein.
Ein letzter Blick nach oben: Sterne und Mond sind in der beginnenden Dämmerung noch zu sehen und versprechen zumindest für den ersten Teil des Laufs stabiles Wetter. Schon ertönt der Kanonenknall. Wer noch nicht wach war, ist es spätestens jetzt!
Mit dem Kanonenknall beginnt auch mein Handy zu klingeln. Was ist das? Andrea will mir von Myanmar aus noch viel Glück wünschen, kann aber ihre Wünsche leider nur auf die Mailbox sprechen, da ich schon mit Laufen beschäftigt bin. Ist gar nicht so leicht, die Zeitzonen immer richtig zu kalkulieren. In der ersten Gehpause höre ich die Mailbox aber ab und freue mich über den Zuspruch.
Da ein Ultralauf ja recht lange dauert (zumindest für mich) und das Karwendeltal vor allem in der Dämmerung noch nicht so aufregend ist, dass Augen und Gehirn permanent beschäftigt wären, schaue ich mich mal im Läuferfeld um und mache eine kleine Marktanalyse der Laufbekleidung auf der Suche nach Geschmacksverirrungen. Und ich werde fündig: Zur Zeit erfreut sich die Salomon Exo-Tights großer Beliebtheit. Das sind die futuristisch aussehenden Teile, die durch eine bienenwabenförmige Verstärkung die Muskeln komprimieren und dadurch frischhalten soll. Was aber die Läufer an der Spitze ähnlich knackig aussehen lässt wie einen Kilian Jornet, bewirkt bei den Läufern am Ende des Felds (wo ich mich gewöhnlich aufhalte) eher das Gegenteil. Denn Fett (und auch das ist am Ende des Feldes vermehrt vorhanden) lässt sich nicht gut komprimieren, dafür aber sehr gut verschieben. Und so führen die Kompressionshosen oft zu dem (unerwünschten) Effekt, dass sich das Unterhaut-Fettgewebe, das sich eigentlich IN der Hose befinden sollte, mit der Zeit oberhalb der Hose in Form eines „Rettungsrings“ sammelt. Auch nicht schön. Naja, aber Hauptsache, der Placebo-Effekt der Exo-Kompressionshose hilft …
Jetzt aber weiter zum Lauf. Die erste Labestation hinter der Larchetalm ist schnell erreicht. Und da Zeit ein dehnbarer Begriff ist und beim Ultra-Lauf alles etwas länger dauert, bedeutet „schnell“ in diesem Fall 1 Stunde und 15 Minuten. Bis dahin lässt sich – bis auf den ersten kurzen Anstieg – alles schön laufen. Kurz nach der ersten Labestation kann man den ersten „Peak“ des Höhenprofils sehen, den Sattel am Karwendelhaus … und mir beginnt zu dämmern, dass tatsächlich irgendwas mit meiner Erinnerung an das Vorjahr nicht stimmt. Vor allem: Schönes Wetter hat auch seine Schattenseiten, denn es zeigt die Grausamkeiten, die einen erwarten, noch deutlicher.
Dabei ist der Aufstieg zum Karwendelhaus im Vergleich zu dem, was später kommt, ein leichter Aufstieg. Allerdings macht mir dieses Mal die Höhe Schwierigkeiten. Ich fühle mich viel müder und kurzatmiger als 3 Wochen zuvor beim Aufstieg zur Meilerhütte. Trotzdem brauche ich bis zur Labestation am Karwendelhaus nur 2 Minuten länger als 2012 (2:50 statt 2:48). Aber ich ahne schon, dass es schwer werden würde, die Zeit vom letzten Jahr zu unterbieten. Außerdem wäre es zu schade, jetzt, wo endlich mal schönes Wetter beim Karwendelmarsch ist, einfach nur mit Tunnelblick durchzurennen. Ich will ja auch noch ein paar Fotos machen …
Von der Labestation am Karwendelhaus, an der es Kartoffelsuppe, Käse- und Schinkenbrot, leckere Vollkornkekse, Obst und meinen geliebten Hollersaft-Schorle gibt, werfe ich einen letzten Blick zurück ins Karwendeltal. Und voraus sehe ich schon die Bergketten, über die wir noch drüber müssen. Super! Letztes Jahr habe ich von diesen Bergen nichts gesehen – und nur aus der Wanderkarte gewusst, dass sie angeblich da sein sollen.
Zuerst geht‘s aber wieder runter ins Tal zum kleinen Ahornboden – einem der beiden geschützten Gebiete, wo es noch uralte Ahornbäume gibt. Der Weg dorthin ist nur mäßig steil, relativ breit und wäre gut zu laufen, wenn nicht manchmal grobes Geröll und Schotter das Laufen schwierig machen und viel Konzentration erfordern würde.
Unten am kleinen Ahornboden gibt es dann schon die nächste Labestation. Das Schöne beim Karwendelmarsch sind die vielen, gut ausgestatteten Labestationen. Aber das Schöne ist auch, dass man ständig Erfolgserlebnisse hat. Beim kleinen Ahornboden (km 25,1) kann man sich zum Beispiel darüber freuen, dass man praktisch die Hälfte des Laufs geschafft hat. Allerdings nur bezüglich der Länge, denn von den Aufstiegen liegt erst der erste (und leichteste) hinter und noch 2 schwere Anstiege vor uns.
An den nächsten Aufstieg – zur Falkenhütte – kann ich mich noch gut erinnern. Zunächst geht es ein Stück mit angenehmer Steigung durch den Wald. Aber dass der Anstieg ab der Ladizalm soooo steil war – nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Dabei ist vor allem das erste Teilstück auf einem breiten Schotterweg unangenehm – wenn es dann in den Pfad übergeht, wird es zwar steiler, aber dennoch angenehmer zu gehen. Zumindest für mich. Andere Läufer und Wanderer scheinen das anders zu sehen, denn es treten immer wieder Läufer und Läuferinnen aus der Reihe heraus um durchzuschnaufen und anderen Läufern Platz zu machen.
Auf der Falkenhütte, die ich nach 4 Stunden 50 Minuten erreiche, gibt es dann das zweite Erfolgserlebnis: Hier hat man nämlich 2 von 3 der großen Aufstiege hinter sich. Freuen kann ich mich auch wieder über die Verpflegung. Während ich mir ein Käsebrot und einen saftigen Vollkornkeks gönne, werde ich großzügig mit Volksmusik beschallt. Die Falkenhütte bzw. die dortige Labe-Station scheint das Musikantenstadl des Karwendelmarschs zu sein. In diesem Jahr läuft gerade ein Lied mit dem Refrain „Renate, Renate, Renate, Du bist die Sonne für mich. Renate, Renate, Renate, Du weißt doch, ich liebe nur Dich“. Verrückt, dass mein sauerstoffarmes Gehirn es schafft, sich diesen Text (und nicht nur den, auch die Musik!!) bis heute zu merken. Das zeigt mir, dass man an dieser Labestation nicht nur mit Keksen und Broten, sondern auch mit Ohrwürmern versorgt wird. Mich begleitet dieser Wurm jedenfalls auf den nächsten 5km bis zur Eng-Alm – oder besser: er verfolgt mich. Bei Bedarf kann man sich das Lied gerne hier anhören. Ich vermute aber, es besteht kein Bedarf 😁.
Hinsichtlich der großen Anstiege heißt es nun: Two down, one to go. Bevor dieser letzte große Anstieg kommt, müssen wir noch den kleineren Gegenanstieg zum Hohljoch bewältigen. Aber zuerst geht es unter den beeindruckenden Laliderer Wänden durch. Dort waren im Vorjahr ganze Wasserfälle zu sehen, weil gerade mal wieder ein Schauer herunterprasselte. Davon waren wir jetzt weit entfernt: Wo wir auch hinschauen ist blauer Himmel. Nur ganz hinten im Westen sieht man erste Wolken als Vorboten des angekündigten schlechten Wetters. Wenn ich mich beeile, könnte ich es schaffen, ohne (von außen) nass zu werden.
Der „kleine“ Gegenanstieg zieht sich doch etwas länger als gedacht, doch dann sind wir auf dem Hohljoch. Und nun kommt der Abstieg zur Eng-Alm, der im Vorjahr nicht enden wollte. Obwohl heute alles trocken ist, macht das den Abstieg nicht einfacher. Er ist unrhythmisch, und wir müssen immer wieder gemeine Wurzeln und Felsstufen überqueren. Im letzten Jahr hatte der Matsch die Schottersteine einsinken lassen, während sie jetzt auf dem festgebackenen Boden liegen – und bei jedem Schritt wegrollen. Also Rolltreppe statt Schlammrutsche. Das geht auch nicht schneller (es sei denn, man setzt sich auf den Hintern…). Dazu kommt noch, dass ich scheinbar gerade im „Bauch“ des Feldes gelandet bin – ich laufe genau das Tempo, in dem die Mehrheit der Läufer und Marschierer unterwegs sind. Man überholt ständig und wird überholt. Aufgrund des guten Wetters gibt es in diesem Jahr bedeutend mehr Fernwandergruppen als im letzten Jahr, die uns jetzt aus dem Tal mit ihren großen Rucksäcken entgegenkommen. Ein ordentlicher Menschenauflauf auf diesem ruppigen Pfad hinunter zur Eng-Alm!
Nach einer halben Ewigkeit liegt die Eng dann endlich vor uns. Und auf die Gemüsesuppe, die dort „serviert“ wird, habe ich mich den ganzen Tag schon gefreut. Es ist 12:22 – also habe ich bis hierher 18 Minuten länger gebraucht als im Vorjahr.
Nach ca. 5 Minuten Pause nehme ich dann den dritten und letzten, vor allem aber den steilsten Anstieg unter die Füße. Zuerst geht es noch relativ harmlos zur Binsalm hoch. Problem: Das schöne Wetter und die Mittagszeit führen aber dazu, dass dieser Weg nun auch von einigen Flachlandtirolern begangen wird, die mit dem Bus in die Eng gekarrt wurden und jetzt den Berg fluten. Wäre eigentlich kein Problem, da der Weg breit ist. Allerdings ist die Rücksicht gegenüber den Läufern und den Marschierern umgekehrt proportional zur Höhe der Absätze … waren die Wandergruppen mit den Bergstiefeln immer aus dem Weg gegangen, schieben sich diese Spaziergänger mit ihren High Heels zu dritt oder viert nebeneinander den Berg hinauf oder herunter. Kein auf-die-Seite-gehen, kein Grüßen, kein Anfeuern. Gut, dann müssen sie auch so manche Kontamination mit meinem schweißnassen T-Shirt hinnehmen. Ich bin zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr bereit, Umwege in Kauf zu nehmen oder aus dem Weg zu gehen …
Auf der Binsalm ist es dann mit dem „gemütlichen“ breiten Weg vorbei. Ich weiß, dass jetzt der letzte und steilste Aufstieg zum Gramaisattel kommt, und den sieht man nun vor sich mit all seiner Grausamkeit. Im letzten Jahr war er diskret von einer Wolke verdeckt. In einem langen Bogen wird man an den Berg geführt, über dem dann der Gramaisattel thront … und dann kann man nur noch hochschauen und sieht die Perlenkette von Läufern am Hang kleben. Nun geht es Serpentine um Serpentine aufwärts.
Ich weiss vom Vorjahr: Wenn ich die roten Trikots der Bergwacht sehe, dann ist es geschafft – denn so unendlich wie der Aufstieg zwischenzeitlich erscheinen will, weil man zwischen den Latschenkiefern das „Ende“ des Bergs nicht sieht, so plötzlich tritt man dann zwischen zwei Büschen auf die „andere Seite“ und steht hoch über dem Gramaital.
So ist es auch jetzt wieder. Plötzlich und unerwartet stehen die Jungs in den roten Shirts da. Bergfest!! Oder wie der Amerikaner sagen würde: „from here on it’s all downhill“. Und dieser Downhill hat sich gewaschen …
Zuerst gibt es aber einen kleinen Stau, weil die Läufer vor mir zunächst mal am Gramaisattel stehen bleiben, Luft schnappen und die Aussicht genießen. Und natürlich werden hier besonders gerne Fotos und Videos geschossen. Ich will gerade meine Kamera auspacken, als ein älterer Läufer auf mich zukommt, mir zuerst ins Gesicht und dann aufs Nummernschild schaut und sagt: „Du bist doch DIE Sabine, die 2005/2006 am Aconcagua war“. Glücklicherweise weiß ich, wo der Aconcagua liegt. Und auch wenn mir die Sauerstoffarmut im Hirn zusetzt, weiß ich doch ganz sicher, dass ich dort noch nicht war. Und schon gar nicht 2005/2006. „Also daran müsste ich mich erinnern können – kann ich aber nicht …“ – und so stellt sich heraus, dass ich scheinbar eine Doppelgängerin mit gleichem Vornamen habe, die auch noch Mütze und Tuch genauso trägt wie ich und die sich scheinbar häufiger in den Anden herumtreibt. Außerdem kommt diese Sabine aus Salzburg. Nein, auch damit konnte ich nicht dienen.
Was es nicht alles gibt bei einem solchen Ultralauf!!
Nach dem kurzen Fotostop geht’s jetzt hinunter – mit durchschnittlich 19% Steigung zuerst sehr steil bis zum Gramai Hochleger (was nicht bedeute, dass man da die Füße hochlegen könnte), dann zuerst nochmal über eine gefürchtete „Rutsche“, danach aber zunehmend gemäßigt hinunter ins Gramaital. Vorbei an einem schön gestuften Wasserfall.
An der Gramaialm holt uns dann wieder die „Zivilisation“ ein … jede Menge von Ausflüglern, die entweder mit dem Auto oder dem Bus von Pertisau hierher fahren, um dann Kaiserschmarren oder sonstige Kalorienbomben zu futtern. Und die uns verwundert bis leicht pikiert anstarren. Sorry, wir riechen ein bisschen … aber ich finde, das dürfen wir zu diesem Zeitpunkt auch.
Der Rest ist schnell erzählt: Gramaialm 14:45 Uhr … gar nicht so schlecht. Danach geht es zuerst über viel Schotter, auf dem es sich nur schwer laufen lässt. Aber dann, ca. 1 km vor der Falzthurn-Alm, kommen wir zuerst auf einen gewalzten Weg und danach auf eine kleine Straße. Das tut gut!! Erik fand den Untergrund zwar zu hart, ich bin aber froh, dass ich endlich mal mein Gehirn (oder das, was noch übrig ist) ausschalten und einfach nur laufen kann.
Kurz hinter der Falzthurn-Alm beschließe ich, schnell eine SMS an Katrin und Erik abzusetzen um mein Kommen anzukündigen. Schließlich sollen sie im Ziel sein, wenn ich dort einlaufe. Aber nein – lieber doch noch die schöne Gefällstrecke laufend mitnehmen und danach ein Stück gehen und dabei simsen … Während ich noch über meine Run-Walk-Strategie nachdenke, fällt mein Blick auf ein mir bekanntes hellblaues Mountainbike. Das ist doch … - erst im zweiten Moment schaue ich die Radfahrerin an. KATRIN! Das ist KATRIN!! Sie ist mir entgegengeradelt um mich zum Ziel zu begleiten! Super!
Wobei dem Ganzen – wie ich dann erfahre – eine größere Gewissenserforschung vorausgegangen war. Katrin hatte die Idee und wandte sich damit an Erik – denn sie wollte wissen, ob man sich denn als Ultraläufer zu dem späten Zeitpunkt im Lauf über eine Radbegleitung freuen würde. Erik meinte dazu: „Im Prinzip ja, und er sei sich bei mir zu 80% sicher, dass ich mich freuen würde … und nur zu 20%, dass ich so erschöpft sei, dass ich niemanden sehen wolle“. Aha. Genau die falsche Antwort für Katrin. Denn damit wird die Entscheidung noch schwerer. Was wäre, wenn ich niemanden sehen wollte? Sie könnte mir ja eine SMS schreiben, ob ich denn will, dass sie mir entgegenkommt. Aber dann würde ich wahrscheinlich aus Höflichkeit ablehnen, um ihr die Mühe zu ersparen. Nein, sie würde mir vielleicht doch besser einfach entgegenfahren und mich dann fragen, ob mir denn die Begleitung recht ist. Aber dann könnte es ja sein, dass ich mich nicht abzulehnen traue. Was also tun? Simsen? Fahren? Simsen? Fahren?? Wie kompliziert!! Dabei freue ich mich einfach nur. Punkt. Ich hatte mir eigentlich schon an der Gramaialm gewünscht, ich würde bekannte Gesichter sehen!
Prima. Nachdem das also geklärt ist, sind nun beide Seiten beruhigt und wir fahren bzw. laufen gackernd dem Ziel entgegen …
Durch die Fahrradbegleitung bin ich so abgelenkt, dass ich meinen geplanten Lauf-Geh-Rhythmus gar nicht mehr beibehalte, sondern einfach weiterlaufe. Und diesem Umstand ist es wohl auch zu danken, dass ich für die 8 km zwischen Gramaialm und Pertisau nur 1 Stunde und 2 Minuten brauche. Ja, das ist nicht schnell – aber ich habe schon 44 km in den Beinen. Seltsam. Bei solchen Läufen fühle ich mich zwar ziemlich fertig, kann am Ende aber immer noch ganz gut laufen.
Am Ortsanfang schicke ich Katrin dann vor, damit sie Erik und die Kinder vorwarnen kann und sich schon mal mit der Kamera „bewaffnet“. Es dauert nicht lange, dann kommt mir Marc nochmal auf Katrins Fahrrad entgegen und begleitet mich bis zum Zielkanal.
ZIEL!! Kurzes Abklatschen mit Katrin, Erik und Amelie, und schon blitzten die offiziellen Kameras, die Zeitmatte piept, ich werde nochmal fotografiert, bekomme die Medaille … und dann „labe“ ich mich ein letztes mal mit Speck- und Käsebrot, Hollerschorle und alkoholfreiem Bier.
Offizielle Zielzeit: 9:47:19. Erik ist wie erwartet schon seit Stunden da – er blieb sogar drei Sekunden unter 5 Stunden und belegt Platz 19!
Der Rest ist schnell erzählt – es gilt die üblichen Dinge zu erledigen, die man eben nach einem Rennen tut: Ergebnisse simsen, duschen, Eis essen … und dann geht’s für mich auch schon per Bus zurück nach Scharnitz.
Auf der Rückfahrt im Bus freue ich mich darüber, dass ich in diesem Jahr den Karwendelmarsch bei tollem Wetter erlebt habe. Doch während ich noch darüber sinniere, wie nass ich doch im letzten Jahr geworden war, fängt es an zu regnen. Das angekündigte Schlechtwettergebiet ist eingetroffen, und auf dem kurzen Weg vom Bus bis zum Parkplatz werde ich doch noch nass. Schade für die Wanderer, die ja größtenteils erst nach 18 Uhr ins Ziel kommen. Sie werden eine ordentliche Dusche abbekommen. Wir Läufer können uns dagegen nicht beschweren! Es war sonnig, aber nicht zu heiß.
Wegen des angekündigten Schlechtwetters haben wir auch beschlossen, nicht wie vorgesehen auf der Eng-Alm zu übernachten, sondern direkt nach Hause zu fahren. Also verpflege ich mich in Scharnitz nochmals kurz, dann breche ich auf zur Rückfahrt nach Heidelberg, wo ich erst nach Mitternacht ankomme und mich müde und völlig steif aus dem Auto schäle.
Die Erkenntnis des Tages: 5 Stunden Autofahrt sind gefühlt länger als 10 Stunden Karwendelmarsch!
In diesem Sinne: See you on the trails!
Die Falkenhütte - "Halbzeit" beim Karwendelmarsch. Foto: fairplayfoto.net / Markus Kreiner |
In diesem Jahr feiert der Karwendelmarsch sein zehntes Jubiläum. Wahnsinn. 9 Jahre sind vergangen seit seiner „Wiederbelebung“ 2009. Wir hatten 2011 von der Veranstaltung gehört, und recht schnell stand der Entschluss fest: Da müssen wir auch hin. "Wir" – das waren damals Erik und ich, denn Katrin und Andrea waren noch nicht vom Trailrunning-Virus infiziert. 2012 machten wir uns dann zum ersten Mal auf den Weg von Scharnitz nach Pertisau. Für mich war das der erste echte Ultra. Den man so leicht nicht vergisst, der super organisiert und so fürchterlich verregnet war. Das schrie nach Wiederholung – gleich im nächsten Jahr. Und dieses Mal hatten wir Glück mit dem Wetter und sahen, durch welch schöne Landschaft dieser Lauf führt. Damals hatte ich den Race Report für Andrea geschrieben, die beruflich gerade im Ausland war. Jetzt ist er mir nochmal in die Hände gefallen und hat Erinnerungen geweckt. Also rufe ich heute den „Throwback Thursday“ aus und sage: Happy Birthday, Karwendelmarsch! Alles Gute und ein langes Leben …
Wie ist es beim zweiten Mal?? Diese Frage stellen sich Erik und ich beim Kohlenhydrate-Schaufeln in einer Pizzeria in Scharnitz. Erik behauptet, er könne sich an maximal 5 Laufminuten vom Karwendelmarsch 2012 erinnern. Kein Wunder, er läuft ja auch so schnell - und irgendwann fließt durchs Erinnerungszentrum im Gehirn auch kein Blut mehr, weil das in der Wade gebraucht wird. Da ich eher von der gemütlichen Läufer-Sorte bin, hatte ich immer gedacht, dass ich mich an jeden Meter vom Karwendelmarsch erinnern kann. Schließlich habe ich ja genügend Zeit, sie mir einzuprägen. Bei einem intensiven Studium der Wanderkarte eine Woche vorm Lauf musste ich dann feststellen, dass meine Erinnerung an einigen Wegstücken Lücken aufweist. Gab es tatsächlich so viele Serpentinen beim Aufstieg zum Karwendelhaus? Und lag nicht 2012 die Falzthurn-Alm direkt hinter der Gramai-Alm. Hatte da jemand noch kurzfristig 4km Weg eingefügt? Während wir noch reden, befürchte ich schon, dass mein Gehirn alle Grausamkeiten des Laufs schöngefärbt hatte. Alle Steigungen waren 2012 weniger steil und weniger lang. Ganz sicher! Vielleicht habe ich eine neue Krankheit entdeckt: Morbus Amnesia Euphemismiensis?
Erik und ich hatten uns für die Nacht vor dem Lauf ein Zimmer in Scharnitz reservieren wollen (während Katrin und die Kinder schon den ersten Fan-Posten an der Eng-Alm besetzten). Aber weil Scharnitz schon ausgebucht war, wählten wir das Hotel „Ramona“ in Giessenbach. Auch wenn der Hotelname eher an ein Etablissement im Bahnhofsviertel denken lässt, konnte ich alle beruhigen. Denn nach meiner Erinnerung befindet sich im Ortsteil Giessenbach zwar ein Haltepunkt der Österreichischen Bundesbahnen, aber garantiert kein Bahnhofsviertel. Und es mögen sich in Giessenbach vielleicht Fuchs und Hase gute Nacht sagen, nicht aber Jaqueline und Chantal. Bei Tripadvisor und Holidaycheck gab es nur mittelmäßige Kritiken für das Hotel, und auch die Reservierung verlief eher chaotisch.
Beim Checkin sind wir dann aber angenehm überrascht, als wir das Zimmer sehen: Es ist nicht nur sauber und groß, sondern hat sogar eine kleine Küchenzeile. Das ist ganz praktisch, denn damit ist alles vorhanden, um unser mitgebrachtes Frühstück tatsächlich schon um 4 Uhr verdrücken zu können. Schließlich muss der Blutzuckerspiegel im Lot und die Verdauung rechtzeitig vorm Lauf sowohl angekurbelt als auch beendet sein. Das vom Hotel für die Läufer angebotene Frühstück um 5 Uhr wäre mir hierfür zu spät, denn der Lauf startet ja schon um 6 Uhr.
Nach einer kurzen Nacht (5 ½ Stunden, dank Ohrstöpseln halbwegs gut) stehen wir dann um 4 Uhr auf. Zunächst fragen wir uns, wie man so bekloppt sein kann. Aber dann beginnen wir mit Frühstück, Abkleben und Einschmieren. Während ich beim Frühstück eher auf Natur setze (Brötchen mit Mandelmus und Milchkaffee), kommen bei Erik diverse verdächtige Pülverchen zum Einsatz: Ultra-Buffer nach Dr. Feil, Magnesium und Ackerschachtelhalm … und noch ½ Liter Rote-Beete Saft für den verstärkten Sauerstoff-Transport. Meine Meinung: Das ist Bio-EPO! Wobei: wenn ich seine Laufzeit betrachte … dann ersetze ich ab morgen Rotwein durch Rote-Beete-Saft 😖.
Um 5 Uhr ist alles geschmiert, geklebt und gepackt – und wir verlassen das Hotel. Gut, dass wir so früh dran sind, denn der „Event-Parkplatz“ ist schon recht voll, als wir in Scharnitz ankommen. Wie wir später erfahren, ist die Teilnehmerzahl von 1300 im Vorjahr auf 1800 gestiegen! Und das hat natürlich auch Auswirkung auf den Parkplatz …
Es ist a….kalt, als wir vom Parkplatz zum Gemeindezentrum gehen – das Thermometer im Auto zeigt 9°. Und da sich Erik für die ultraleicht-Variante entschieden hat (Shirt, kurze Hose, KEIN Rucksack, 6 Salztabletten und 2 Müsliriegel in der Hosentasche), friert er sich natürlich schier was ab. Ich dagegen habe in meinem Trinkrucksack die Ausrüstung dabei, die mich bei schönem Wetter auch auf den Mount Everest bringen würde. Und so kann ich meine Windjacke anziehen, die mich schön warmhält. Die sollte ich zwar für den Rest des Tages nicht mehr brauchen, aber sie reist trotzdem mit mir einmal quer durchs Karwendel.
Nach Abgabe der Taschen (zum Transport nach Pertisau) und dem obligatorischem Schlange stehen vorm Klo sehe ich mich dann mal draußen um - und verschaffe mir mal einen ersten Überblick über die Konkurrenz 😎.
Schon eine erste Schätzung verrät mir, dass dieses mal bedeutend mehr Leute mitmachen als beim letzten mal. Auch den Schützenverein Scharnitz kann ich beobachten, wie er letzte Vorbereitungen für das Abfeuern der Startkanone (!) trifft … Während man nach der Bluttat von Dossenheim in Deutschland über ein Verbot großkalibriger Waffen diskutiert, scheint das in Österreich kein Thema zu sein.
Zum Startschuss kommen richtig großkalibrige Waffen zum Einsatz ... |
Ein letzter Blick nach oben: Sterne und Mond sind in der beginnenden Dämmerung noch zu sehen und versprechen zumindest für den ersten Teil des Laufs stabiles Wetter. Schon ertönt der Kanonenknall. Wer noch nicht wach war, ist es spätestens jetzt!
Mit dem Kanonenknall beginnt auch mein Handy zu klingeln. Was ist das? Andrea will mir von Myanmar aus noch viel Glück wünschen, kann aber ihre Wünsche leider nur auf die Mailbox sprechen, da ich schon mit Laufen beschäftigt bin. Ist gar nicht so leicht, die Zeitzonen immer richtig zu kalkulieren. In der ersten Gehpause höre ich die Mailbox aber ab und freue mich über den Zuspruch.
Da ein Ultralauf ja recht lange dauert (zumindest für mich) und das Karwendeltal vor allem in der Dämmerung noch nicht so aufregend ist, dass Augen und Gehirn permanent beschäftigt wären, schaue ich mich mal im Läuferfeld um und mache eine kleine Marktanalyse der Laufbekleidung auf der Suche nach Geschmacksverirrungen. Und ich werde fündig: Zur Zeit erfreut sich die Salomon Exo-Tights großer Beliebtheit. Das sind die futuristisch aussehenden Teile, die durch eine bienenwabenförmige Verstärkung die Muskeln komprimieren und dadurch frischhalten soll. Was aber die Läufer an der Spitze ähnlich knackig aussehen lässt wie einen Kilian Jornet, bewirkt bei den Läufern am Ende des Felds (wo ich mich gewöhnlich aufhalte) eher das Gegenteil. Denn Fett (und auch das ist am Ende des Feldes vermehrt vorhanden) lässt sich nicht gut komprimieren, dafür aber sehr gut verschieben. Und so führen die Kompressionshosen oft zu dem (unerwünschten) Effekt, dass sich das Unterhaut-Fettgewebe, das sich eigentlich IN der Hose befinden sollte, mit der Zeit oberhalb der Hose in Form eines „Rettungsrings“ sammelt. Auch nicht schön. Naja, aber Hauptsache, der Placebo-Effekt der Exo-Kompressionshose hilft …
Des einen Freud, des anderen Leid: Die Salomon Exo-Bienenwabe komprimiert Muskeln (so vorhanden), verschiebt aber auch Fett (so vorhanden) ... |
Jetzt aber weiter zum Lauf. Die erste Labestation hinter der Larchetalm ist schnell erreicht. Und da Zeit ein dehnbarer Begriff ist und beim Ultra-Lauf alles etwas länger dauert, bedeutet „schnell“ in diesem Fall 1 Stunde und 15 Minuten. Bis dahin lässt sich – bis auf den ersten kurzen Anstieg – alles schön laufen. Kurz nach der ersten Labestation kann man den ersten „Peak“ des Höhenprofils sehen, den Sattel am Karwendelhaus … und mir beginnt zu dämmern, dass tatsächlich irgendwas mit meiner Erinnerung an das Vorjahr nicht stimmt. Vor allem: Schönes Wetter hat auch seine Schattenseiten, denn es zeigt die Grausamkeiten, die einen erwarten, noch deutlicher.
Dabei ist der Aufstieg zum Karwendelhaus im Vergleich zu dem, was später kommt, ein leichter Aufstieg. Allerdings macht mir dieses Mal die Höhe Schwierigkeiten. Ich fühle mich viel müder und kurzatmiger als 3 Wochen zuvor beim Aufstieg zur Meilerhütte. Trotzdem brauche ich bis zur Labestation am Karwendelhaus nur 2 Minuten länger als 2012 (2:50 statt 2:48). Aber ich ahne schon, dass es schwer werden würde, die Zeit vom letzten Jahr zu unterbieten. Außerdem wäre es zu schade, jetzt, wo endlich mal schönes Wetter beim Karwendelmarsch ist, einfach nur mit Tunnelblick durchzurennen. Ich will ja auch noch ein paar Fotos machen …
Labestation Karwendelhaus: Blick zurück ins Karwendeltal - und Blick nach vorn. |
Von der Labestation am Karwendelhaus, an der es Kartoffelsuppe, Käse- und Schinkenbrot, leckere Vollkornkekse, Obst und meinen geliebten Hollersaft-Schorle gibt, werfe ich einen letzten Blick zurück ins Karwendeltal. Und voraus sehe ich schon die Bergketten, über die wir noch drüber müssen. Super! Letztes Jahr habe ich von diesen Bergen nichts gesehen – und nur aus der Wanderkarte gewusst, dass sie angeblich da sein sollen.
Zuerst geht‘s aber wieder runter ins Tal zum kleinen Ahornboden – einem der beiden geschützten Gebiete, wo es noch uralte Ahornbäume gibt. Der Weg dorthin ist nur mäßig steil, relativ breit und wäre gut zu laufen, wenn nicht manchmal grobes Geröll und Schotter das Laufen schwierig machen und viel Konzentration erfordern würde.
Unten am kleinen Ahornboden gibt es dann schon die nächste Labestation. Das Schöne beim Karwendelmarsch sind die vielen, gut ausgestatteten Labestationen. Aber das Schöne ist auch, dass man ständig Erfolgserlebnisse hat. Beim kleinen Ahornboden (km 25,1) kann man sich zum Beispiel darüber freuen, dass man praktisch die Hälfte des Laufs geschafft hat. Allerdings nur bezüglich der Länge, denn von den Aufstiegen liegt erst der erste (und leichteste) hinter und noch 2 schwere Anstiege vor uns.
Kleiner Ahornboden |
An den nächsten Aufstieg – zur Falkenhütte – kann ich mich noch gut erinnern. Zunächst geht es ein Stück mit angenehmer Steigung durch den Wald. Aber dass der Anstieg ab der Ladizalm soooo steil war – nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Dabei ist vor allem das erste Teilstück auf einem breiten Schotterweg unangenehm – wenn es dann in den Pfad übergeht, wird es zwar steiler, aber dennoch angenehmer zu gehen. Zumindest für mich. Andere Läufer und Wanderer scheinen das anders zu sehen, denn es treten immer wieder Läufer und Läuferinnen aus der Reihe heraus um durchzuschnaufen und anderen Läufern Platz zu machen.
Aufstieg zur Falkenhütte |
Auf der Falkenhütte, die ich nach 4 Stunden 50 Minuten erreiche, gibt es dann das zweite Erfolgserlebnis: Hier hat man nämlich 2 von 3 der großen Aufstiege hinter sich. Freuen kann ich mich auch wieder über die Verpflegung. Während ich mir ein Käsebrot und einen saftigen Vollkornkeks gönne, werde ich großzügig mit Volksmusik beschallt. Die Falkenhütte bzw. die dortige Labe-Station scheint das Musikantenstadl des Karwendelmarschs zu sein. In diesem Jahr läuft gerade ein Lied mit dem Refrain „Renate, Renate, Renate, Du bist die Sonne für mich. Renate, Renate, Renate, Du weißt doch, ich liebe nur Dich“. Verrückt, dass mein sauerstoffarmes Gehirn es schafft, sich diesen Text (und nicht nur den, auch die Musik!!) bis heute zu merken. Das zeigt mir, dass man an dieser Labestation nicht nur mit Keksen und Broten, sondern auch mit Ohrwürmern versorgt wird. Mich begleitet dieser Wurm jedenfalls auf den nächsten 5km bis zur Eng-Alm – oder besser: er verfolgt mich. Bei Bedarf kann man sich das Lied gerne hier anhören. Ich vermute aber, es besteht kein Bedarf 😁.
Hinsichtlich der großen Anstiege heißt es nun: Two down, one to go. Bevor dieser letzte große Anstieg kommt, müssen wir noch den kleineren Gegenanstieg zum Hohljoch bewältigen. Aber zuerst geht es unter den beeindruckenden Laliderer Wänden durch. Dort waren im Vorjahr ganze Wasserfälle zu sehen, weil gerade mal wieder ein Schauer herunterprasselte. Davon waren wir jetzt weit entfernt: Wo wir auch hinschauen ist blauer Himmel. Nur ganz hinten im Westen sieht man erste Wolken als Vorboten des angekündigten schlechten Wetters. Wenn ich mich beeile, könnte ich es schaffen, ohne (von außen) nass zu werden.
Nächstes Ziel: Hohljoch. |
Der „kleine“ Gegenanstieg zieht sich doch etwas länger als gedacht, doch dann sind wir auf dem Hohljoch. Und nun kommt der Abstieg zur Eng-Alm, der im Vorjahr nicht enden wollte. Obwohl heute alles trocken ist, macht das den Abstieg nicht einfacher. Er ist unrhythmisch, und wir müssen immer wieder gemeine Wurzeln und Felsstufen überqueren. Im letzten Jahr hatte der Matsch die Schottersteine einsinken lassen, während sie jetzt auf dem festgebackenen Boden liegen – und bei jedem Schritt wegrollen. Also Rolltreppe statt Schlammrutsche. Das geht auch nicht schneller (es sei denn, man setzt sich auf den Hintern…). Dazu kommt noch, dass ich scheinbar gerade im „Bauch“ des Feldes gelandet bin – ich laufe genau das Tempo, in dem die Mehrheit der Läufer und Marschierer unterwegs sind. Man überholt ständig und wird überholt. Aufgrund des guten Wetters gibt es in diesem Jahr bedeutend mehr Fernwandergruppen als im letzten Jahr, die uns jetzt aus dem Tal mit ihren großen Rucksäcken entgegenkommen. Ein ordentlicher Menschenauflauf auf diesem ruppigen Pfad hinunter zur Eng-Alm!
Nach einer halben Ewigkeit liegt die Eng dann endlich vor uns. Und auf die Gemüsesuppe, die dort „serviert“ wird, habe ich mich den ganzen Tag schon gefreut. Es ist 12:22 – also habe ich bis hierher 18 Minuten länger gebraucht als im Vorjahr.
Nach ca. 5 Minuten Pause nehme ich dann den dritten und letzten, vor allem aber den steilsten Anstieg unter die Füße. Zuerst geht es noch relativ harmlos zur Binsalm hoch. Problem: Das schöne Wetter und die Mittagszeit führen aber dazu, dass dieser Weg nun auch von einigen Flachlandtirolern begangen wird, die mit dem Bus in die Eng gekarrt wurden und jetzt den Berg fluten. Wäre eigentlich kein Problem, da der Weg breit ist. Allerdings ist die Rücksicht gegenüber den Läufern und den Marschierern umgekehrt proportional zur Höhe der Absätze … waren die Wandergruppen mit den Bergstiefeln immer aus dem Weg gegangen, schieben sich diese Spaziergänger mit ihren High Heels zu dritt oder viert nebeneinander den Berg hinauf oder herunter. Kein auf-die-Seite-gehen, kein Grüßen, kein Anfeuern. Gut, dann müssen sie auch so manche Kontamination mit meinem schweißnassen T-Shirt hinnehmen. Ich bin zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht mehr bereit, Umwege in Kauf zu nehmen oder aus dem Weg zu gehen …
Auf der Binsalm ist es dann mit dem „gemütlichen“ breiten Weg vorbei. Ich weiß, dass jetzt der letzte und steilste Aufstieg zum Gramaisattel kommt, und den sieht man nun vor sich mit all seiner Grausamkeit. Im letzten Jahr war er diskret von einer Wolke verdeckt. In einem langen Bogen wird man an den Berg geführt, über dem dann der Gramaisattel thront … und dann kann man nur noch hochschauen und sieht die Perlenkette von Läufern am Hang kleben. Nun geht es Serpentine um Serpentine aufwärts.
Da kommen wir her - und da müssen wir hin: Der Weg zum Gramaisattel. |
Ich weiss vom Vorjahr: Wenn ich die roten Trikots der Bergwacht sehe, dann ist es geschafft – denn so unendlich wie der Aufstieg zwischenzeitlich erscheinen will, weil man zwischen den Latschenkiefern das „Ende“ des Bergs nicht sieht, so plötzlich tritt man dann zwischen zwei Büschen auf die „andere Seite“ und steht hoch über dem Gramaital.
So ist es auch jetzt wieder. Plötzlich und unerwartet stehen die Jungs in den roten Shirts da. Bergfest!! Oder wie der Amerikaner sagen würde: „from here on it’s all downhill“. Und dieser Downhill hat sich gewaschen …
Zuerst gibt es aber einen kleinen Stau, weil die Läufer vor mir zunächst mal am Gramaisattel stehen bleiben, Luft schnappen und die Aussicht genießen. Und natürlich werden hier besonders gerne Fotos und Videos geschossen. Ich will gerade meine Kamera auspacken, als ein älterer Läufer auf mich zukommt, mir zuerst ins Gesicht und dann aufs Nummernschild schaut und sagt: „Du bist doch DIE Sabine, die 2005/2006 am Aconcagua war“. Glücklicherweise weiß ich, wo der Aconcagua liegt. Und auch wenn mir die Sauerstoffarmut im Hirn zusetzt, weiß ich doch ganz sicher, dass ich dort noch nicht war. Und schon gar nicht 2005/2006. „Also daran müsste ich mich erinnern können – kann ich aber nicht …“ – und so stellt sich heraus, dass ich scheinbar eine Doppelgängerin mit gleichem Vornamen habe, die auch noch Mütze und Tuch genauso trägt wie ich und die sich scheinbar häufiger in den Anden herumtreibt. Außerdem kommt diese Sabine aus Salzburg. Nein, auch damit konnte ich nicht dienen.
Was es nicht alles gibt bei einem solchen Ultralauf!!
Der Gramai-Hochleger. Leider kann man hier noch nicht die Füße hochlegen ... |
Nach dem kurzen Fotostop geht’s jetzt hinunter – mit durchschnittlich 19% Steigung zuerst sehr steil bis zum Gramai Hochleger (was nicht bedeute, dass man da die Füße hochlegen könnte), dann zuerst nochmal über eine gefürchtete „Rutsche“, danach aber zunehmend gemäßigt hinunter ins Gramaital. Vorbei an einem schön gestuften Wasserfall.
An der Gramaialm holt uns dann wieder die „Zivilisation“ ein … jede Menge von Ausflüglern, die entweder mit dem Auto oder dem Bus von Pertisau hierher fahren, um dann Kaiserschmarren oder sonstige Kalorienbomben zu futtern. Und die uns verwundert bis leicht pikiert anstarren. Sorry, wir riechen ein bisschen … aber ich finde, das dürfen wir zu diesem Zeitpunkt auch.
Der Rest ist schnell erzählt: Gramaialm 14:45 Uhr … gar nicht so schlecht. Danach geht es zuerst über viel Schotter, auf dem es sich nur schwer laufen lässt. Aber dann, ca. 1 km vor der Falzthurn-Alm, kommen wir zuerst auf einen gewalzten Weg und danach auf eine kleine Straße. Das tut gut!! Erik fand den Untergrund zwar zu hart, ich bin aber froh, dass ich endlich mal mein Gehirn (oder das, was noch übrig ist) ausschalten und einfach nur laufen kann.
Kurz hinter der Falzthurn-Alm beschließe ich, schnell eine SMS an Katrin und Erik abzusetzen um mein Kommen anzukündigen. Schließlich sollen sie im Ziel sein, wenn ich dort einlaufe. Aber nein – lieber doch noch die schöne Gefällstrecke laufend mitnehmen und danach ein Stück gehen und dabei simsen … Während ich noch über meine Run-Walk-Strategie nachdenke, fällt mein Blick auf ein mir bekanntes hellblaues Mountainbike. Das ist doch … - erst im zweiten Moment schaue ich die Radfahrerin an. KATRIN! Das ist KATRIN!! Sie ist mir entgegengeradelt um mich zum Ziel zu begleiten! Super!
Wobei dem Ganzen – wie ich dann erfahre – eine größere Gewissenserforschung vorausgegangen war. Katrin hatte die Idee und wandte sich damit an Erik – denn sie wollte wissen, ob man sich denn als Ultraläufer zu dem späten Zeitpunkt im Lauf über eine Radbegleitung freuen würde. Erik meinte dazu: „Im Prinzip ja, und er sei sich bei mir zu 80% sicher, dass ich mich freuen würde … und nur zu 20%, dass ich so erschöpft sei, dass ich niemanden sehen wolle“. Aha. Genau die falsche Antwort für Katrin. Denn damit wird die Entscheidung noch schwerer. Was wäre, wenn ich niemanden sehen wollte? Sie könnte mir ja eine SMS schreiben, ob ich denn will, dass sie mir entgegenkommt. Aber dann würde ich wahrscheinlich aus Höflichkeit ablehnen, um ihr die Mühe zu ersparen. Nein, sie würde mir vielleicht doch besser einfach entgegenfahren und mich dann fragen, ob mir denn die Begleitung recht ist. Aber dann könnte es ja sein, dass ich mich nicht abzulehnen traue. Was also tun? Simsen? Fahren? Simsen? Fahren?? Wie kompliziert!! Dabei freue ich mich einfach nur. Punkt. Ich hatte mir eigentlich schon an der Gramaialm gewünscht, ich würde bekannte Gesichter sehen!
Prima. Nachdem das also geklärt ist, sind nun beide Seiten beruhigt und wir fahren bzw. laufen gackernd dem Ziel entgegen …
Durch die Fahrradbegleitung bin ich so abgelenkt, dass ich meinen geplanten Lauf-Geh-Rhythmus gar nicht mehr beibehalte, sondern einfach weiterlaufe. Und diesem Umstand ist es wohl auch zu danken, dass ich für die 8 km zwischen Gramaialm und Pertisau nur 1 Stunde und 2 Minuten brauche. Ja, das ist nicht schnell – aber ich habe schon 44 km in den Beinen. Seltsam. Bei solchen Läufen fühle ich mich zwar ziemlich fertig, kann am Ende aber immer noch ganz gut laufen.
Am Ortsanfang schicke ich Katrin dann vor, damit sie Erik und die Kinder vorwarnen kann und sich schon mal mit der Kamera „bewaffnet“. Es dauert nicht lange, dann kommt mir Marc nochmal auf Katrins Fahrrad entgegen und begleitet mich bis zum Zielkanal.
Im Ziel: 9:47:19. Foto: fairplayfoto.net / Markus Kreiner |
ZIEL!! Kurzes Abklatschen mit Katrin, Erik und Amelie, und schon blitzten die offiziellen Kameras, die Zeitmatte piept, ich werde nochmal fotografiert, bekomme die Medaille … und dann „labe“ ich mich ein letztes mal mit Speck- und Käsebrot, Hollerschorle und alkoholfreiem Bier.
Offizielle Zielzeit: 9:47:19. Erik ist wie erwartet schon seit Stunden da – er blieb sogar drei Sekunden unter 5 Stunden und belegt Platz 19!
Der Rest ist schnell erzählt – es gilt die üblichen Dinge zu erledigen, die man eben nach einem Rennen tut: Ergebnisse simsen, duschen, Eis essen … und dann geht’s für mich auch schon per Bus zurück nach Scharnitz.
Szenen eines Ultramarathons. So ein Lauf hinterlässt Spuren ... |
Auf der Rückfahrt im Bus freue ich mich darüber, dass ich in diesem Jahr den Karwendelmarsch bei tollem Wetter erlebt habe. Doch während ich noch darüber sinniere, wie nass ich doch im letzten Jahr geworden war, fängt es an zu regnen. Das angekündigte Schlechtwettergebiet ist eingetroffen, und auf dem kurzen Weg vom Bus bis zum Parkplatz werde ich doch noch nass. Schade für die Wanderer, die ja größtenteils erst nach 18 Uhr ins Ziel kommen. Sie werden eine ordentliche Dusche abbekommen. Wir Läufer können uns dagegen nicht beschweren! Es war sonnig, aber nicht zu heiß.
Wegen des angekündigten Schlechtwetters haben wir auch beschlossen, nicht wie vorgesehen auf der Eng-Alm zu übernachten, sondern direkt nach Hause zu fahren. Also verpflege ich mich in Scharnitz nochmals kurz, dann breche ich auf zur Rückfahrt nach Heidelberg, wo ich erst nach Mitternacht ankomme und mich müde und völlig steif aus dem Auto schäle.
Die Erkenntnis des Tages: 5 Stunden Autofahrt sind gefühlt länger als 10 Stunden Karwendelmarsch!
In diesem Sinne: See you on the trails!
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