Eiger Ultra Trail E35 - Eine Herausforderung der anderen Art

von Andrea
 



Vielleicht hat sich der ein oder andere schon gefragt, warum es um mich eher etwas ruhig ist. Dazu nur so viel: Die letzten Wochen bedeuteten für mich persönlich eine sehr schwere Zeit. Meine Gedanken und meine Kraft waren woanders, aber nicht mehr so sehr bei der Vorbereitung auf den E35. Zwei Wochen vor dem großen Rennen habe ich dann entschieden, dass ich nicht mitlaufen würde. Mein Respekt vor diesem Lauf ist einfach zu groß, bedeutet er doch eine weitaus größere Herausforderung als Karwendelmarsch oder Siebengebirgslauf. Den E35 wird es auch im nächsten Jahr noch geben und dass das Training nicht umsonst war – dafür wird meine Frau schon sorgen (wie ich gerade höre, hat sie das auch schon – wir sind zum Drachenlauf am 26. 10. im Siebengebirge angemeldet).





 Ich habe daher in diesem Rennen, d.h. für den E35, den „Jubelpart“ übernommen. Wer jetzt denkt – „lässig“ – weit gefehlt!! Die „Jubelstrecke“ hatte meine Frau für mich festgelegt – damit es auch für mich sportlich wird! An insgesamt 5 Stationen plus Ziel soll ich mich postieren! Ich bekomme dazu eine detaillierte Übersicht mit Zugverbindungen, Abfahrts- und Ankunftszeiten. Dazu Angaben, in welchen Zügen/Bahnhöfen sich Toiletten befinden und wo nicht, ob evtl. noch ein zusätzliches Ticket zu lösen ist … und so weiter … und so weiter.  Lediglich Angaben zu Namen und Familienstatus des jeweiligen Zugführers bleiben unerwähnt. 




Den „Jubelpart übernehmen“ bedeutet also in erster Linie:  Marschtabellen und Durchlaufzeiten abgleichen, Zugverbindungen studieren,  gaaaaanz viel rechnen, hoffen, dass man richtig gerechnet hat und rechtzeitig am nächsten Jubelpunkt steht. 


0815h – Start Burglauenen

Bis zum Startpunkt in Burglauenen ist eigentlich alles noch relativ entspannt – für mich jedenfalls. Katrin kommt mir weniger entspannt vor (die anderen Teilnehmer sind 20 Jahre jünger, 20 Kilo leichter und mindestens20 Wettkämpfe mehr …). Sabine hält sich etwas zurück – schließlich hat sie uns das Ganze ja eingebrockt. Ich verabschiede mich zeitig von den beiden, wünsche viel Glück und suche mir einen guten Fotospot (nicht zu weit weg vom nächsten Bahnhof, aber nahe genug an der Strecke mit gutem Blick auf die Läufer, aber wiederum nicht so, dass andere die Sicht versperren … wie ihr seht – auch nicht einfach!

Auf die Plätze - Fertig - Los! Startgelände in Burglauenen

Der Startschuss fällt und es dauert nicht lange, bis Katrin und Sabine – an dieser Stelle noch recht locker – an mir vorbeitraben. Fotos machen, letzte anfeuernde Worte und schon muss ich los zum Bahnhof, um den nächsten Zug nach Wengen rechtzeitig zu erwischen.

Burglauenen, hintere Spitzenläufer des E35: Katrin und Sabine


1009h – Wengen

In Wengen wird es das erste Mal auch für mich spannend: Wann würden sie kommen und vor allem – mit welcher Durchlaufzeit? Eher früh oder eher spät? Früh wäre gut, dann können sie relativ sicher die Cutoff-Zeit am Männlichen um 12:30 schaffen. Wenn sie hier allerdings schon mit der späteren Durchlaufzeit ankommen, dann würde es schwierig werden. 

Während ich hin- und herrechne (der Jubelpart ist wirklich mit sehr viel Rechnerei verbunden!), fällt mir auf, dass ich keine Ahnung habe, welche Farben die T-Shirts der beiden eigentlich hatten. Ich will sie doch schon möglichst von weitem erkennen!! Aber auch diese Sorge erweist sich schnell als unbegründet – da wir drei schon so viele Kilometer zusammen gelaufen sind, erkenne ich sie schließlich als erstes ganz einfach an ihrem Laufstil.


Großer Jubel, kurzer Informationsaustausch „Läuft gut!“, „Wetter genau richtig“ und „Ihr macht das ganz toll!“, kleine Stärkung an der Verpflegungsstation und schon geht es weiter. Ach so, die Durchlaufzeit und damit meine Orientierung für den nächsten Posten: Mit 1009h im wunderbaren Mittel! Also – alles gut!

Verpflegungsstation in Wengen



 1247h – Kleine Scheidegg
 
Um meinen nächsten Posten, die Kleine Scheidegg, zu erreichen, habe ich jede Menge Zeit. Ich bin trotzdem früh da und geniesse erstmal das wahnsinnige Panorama von Eiger, Mönch und Jungfrau. Dabei bin ich nicht allein … mit mir tummelt sich dort oben gefühlt halb China gemischt mit hunderten von Japanern, Koreanern und ein paar Indern. Wahnsinn!


Für kleine und große Geschäfte: 
Interkulturelle Aufklärung

Ich bestelle mir einen Kaffee und bestaune das Gewusel aus sicherer Entfernung. Mit einer älteren Dame komme ich ins Gespräch. Eine Schweizerin und wie sich herausstellt, würde sie von 12 – 16 Uhr die hiesige Verpflegungsstation des Eiger Ultra betreuen. Ich erzähle, dass ich sozusagen auch beim E35 mit dabei sei und hier auf zwei Läuferinnen warten würde. Sie versteht, dass ich den E35 LAUFE, woraufhin ich antworte, dass ich dann wahrscheinlich kaum so gemütlich hier sitzen und Kaffeetrinken würde. Das sieht sie als echte Schweizerin natürlich anders „Zyt haets gnueg für dr Parcours“. Ich beschliesse, daß ich dieses Zitat erstmal für mich behalten und nicht mit meinen beiden Läuferinnen teilen werde.

Gegen 1230h mache ich mich auf den Weg Richtung Verpflegungsstation, wo Katrin und Sabine nach meinen Berechnungen nun demnächst ankommen müssten. Ich gehe einige Meter davor in Stellung und habe einen schönen weiten Blick in Richtung Lauberhorn? Schon bald sehe ich bekannte Gesichter. Um 1245h erkenne ich dann in einiger Entfernung ein blaues und ein gelbes Shirt. Jetzt Arme hochreißen und jubeln. Es dauert ein wenig, schließlich sollen die beiden ja auch nach vorne schauen, um nicht zu stürzen. Dann erkennen sie mich auch und jubeln zurück.

Große Freude!! Auf beiden Seiten!! Und Fotos nicht vergessen … Die beiden haben nun den größten Höhenunterschied mit 1695 HM hinter sich und wirken (relativ) fit. Auch hier gibt es wieder nur einen kurzen Informationsabgleich zur Befindlichkeit, denn wenn ich meinen nächsten Jubelpunkt, den Eiger Gletscher noch rechtzeitig vor den beiden erreichen will, dann muss ich los! Und zwar jetzt! Den gemütlichen Part bei diesem Event habe ich definitiv nicht!

Auf und davon

Übrigens – auch dies gehört zu meinen „Jubel-Aufgaben“: Kommunikation mit Amelie, der Tochter von Katrin und Erik, die zusammen mit den Großeltern verschiedene Jubelposten an der E101-Strecke übernommen hat sowie ferner mit meinen Schwiegereltern, Mutter und Schwester, die zu Hause ebenfalls auf dem Laufenden gehalten werden wollen. Und Erik tracke ich gleichzeitig über DATASPORT. Da ist die Verbindung zwar mal kurzfristig ausgefallen, aber von Amelie weiß ich schon, dass er etwas zu schnell angelaufen ist. 


1345h – Eigergletscher
 
Nach einer kurzen Fahrt mit der Jungfraubahn steige ich an der Haltestelle Eigergletscher aus. Hier geht der Trail mitten durch die Bahnstation. Ich laufe weiter vor und postierte mich gleich hinter den „offiziellen“ Fotografen. Der Blick von hier auf den Eiger ist beeindruckend. Davor zieht sich eine lockere Kette von Läufern die Gletschermoräne hinauf. Der Geschwindigkeit sowie Körperhaltung des einzelnen nach zu urteilen, scheint dieser Teil der Strecke ziemlich anstrengend zu sein.
Für die vorbeischnaufenden Läufer schalte ich daher in den Modus „Aufmunterung“ und versuche es mit den Worten „nicht mehr weit“ „Du hast es gleich geschafft“ etc. Irgendwie habe ich aber das Gefühl, dass das niemand so recht hören will. Statt des üblichen freundlichen Lächelns, ernte ich hier bestenfalls keinen Blick und halte deshalb vorsichtshalber meine Klappe. Auch Katrin würde später sagen, dass dies der Teil der Strecke war, bei dem sie dachte, dass sie jeden Moment einfach umkippen würde, weil sie so langsam sei.

Schon bald erkenne ich meine beiden Läuferinnen und tanze einen Hampelmann, bis sie mich erkennen. Ich mache einige Fotos – und sehe dann einfach nur lange zu, wie sie sich mit den anderen die Eiger Moräne entlangquälen.

Auf der Eigermoräne

Plötzlich jedoch wird meine Aufmerksamkeit abgelenkt: Ein Läufer in Rot mit dreistelliger Startnummer springt leichtfüßig den Hang hinauf und locker an mir vorbei. Von Erik weiß ich, dass eine dreistellige Startnummer E101 bedeutete – kann das sein?? Und tatsächlich: Das ist Stephan Hugenschmidt, der den E101 gewinnen und später im Interview behaupten wird, dass er an genau dieser Stelle des Laufes seinen Tiefpunkt hatte … Aha. Tiefpunkt.

Kurz darauf haben auch meine beiden Mädels diese Steigung bewältigt und sind bei mir angekommen. Und wieder halten wir uns nicht mit langen Gesprächen auf – ein bisschen Geschimpfe von Katrin „Was tue ich hier eigentlich??“, ein wenig differenziertere Aussagen von meiner Frau „Schwierigkeit der Strecke, Durchschnittssteigung von 23%, macht die 361 Höhenmeter viel heftiger  ...“ und mein übliches „Ihr seht total super aus“ (auch wenn das jetzt nicht mehr so ganz der Wahrheit entspricht).

Uff! Endlich oben ...

Und weiter geht’s, denn die Zeit, um meinen nächsten vorgesehen Jubelpunkt in Alpiglen zu erreichen, ist dieses Mal äußerst knapp. Sabine und Katrin würden nach Plan etwa 55 min benötigen, während ich für die Strecke insgesamt 67 min brauchen würde – es sei denn, es fährt gleich ein Zug.


1459h – Alpiglen

Und das ist leider nicht der Fall. Nun wird es auch für mich richtig spannend – ich rechne und rechne – und muss mich entscheiden. Vielleicht eher die übernächste Station Brandegg anpeilen? Doch da muss ich bis zur Strecke ein bisschen laufen und suchen, was zusätzlich Zeit kosten würde. Besser gleich durchfahren bis zum Ziel in Grindelwald? Oder riskiere ich es und steige doch in Alpiglen aus? Um genau 1445h, zur berechneten Durchlaufzeit der beiden in Alpiglen, entscheide mich für das Risiko und springe aus dem Zug.

Die Verpflegungsstation habe ich schnell gefunden. Ich gehe ein paar Meter davor in Stellung, starre gebannt auf den Hang und bete, dass die beiden noch nicht durchgekommen sein mögen. Und – Hurra! – Sie sind ein wenig später als berechnet! Der Abstieg ist steil und sie laufen sehr vorsichtig, um nicht zu stürzen.

Kleine Eigerläuferinnen vor der großen Eiger-Nordwand

Immerhin haben sie an dieser Stelle nun schon 2128 HM und 26,6 km in den Beinen. Entsprechend auch der „Informations“austausch – Katrin: „Ich habe jetzt echt keine Lust mehr!“ Sabine: „Hast Du was von Erik gehört?“ Na ja – und ich? Mache mich mit weiteren Aufgaben meiner Jubelrolle vertraut – Notlügen verbreiten: „Erik geht es prima. Er ist zwar zu schnell angelaufen, kriegt das aber in den Griff.“ Die Wahrheit: Erik geht es gar nicht gut. Er kämpft gegen Brechreiz, ist bereits dreimal gestürzt und seine psychische Verfassung ist im Keller … Das habe ich kurz vorher von Amelie erfahren. Auf DATASPORT hatte ich lediglich gesehen, dass er nicht gut vorankommt. Allerdings hatte ich gehofft, dass der Tracker vielleicht hinterherhinkt – und nicht Erik. Als Katrin kurz auf die Toilette verschwindet, weihe ich wenigstens Sabine in die Wahrheit ein. Sie wird jetzt mitlügen müssen…


1656h – Zieleinlauf in Grindelwald

Zurück bis Grindelwald brauche ich jetzt etwa eine Stunde, Katrin und Sabine werden mindestens 1h35 min brauchen, vielleicht etwas länger, weil die Kraft dann ja doch nachlässt. Ich entspanne mich etwas und genieße zum ersten Mal an diesem Tag die Zugfahrt und die tollen Aussichten (die vielen Chinesen versuche ich zu ignorieren).

Gegen 1600 h erreiche ich Grindelwald und mache mich auf in den Zielbereich. Als optimale Foto- und Jubelstelle identifiziere ich einen Platz auf der Tribüne. Dort habe ich Frontalblick auf die Läufer und würde sie mit einem kleinen Schwenk nach links auch noch im Ziel erwischen – oder wahlweise beim Sturz auf dem steilen Abstieg kurz davor, was ich nicht hoffe.

Nachdem ich mir einen Platz in der ersten Reihe erkämpft habe, werde ich den auch nicht mehr hergeben. Jedenfalls solange ich keinen Sonnenstich bekomme. Die Wartezeit vergeht recht kurzweilig, denn ständig kommen Läufer – mehr oder weniger erschöpft, aber immer glücklich. Ich nutze die Gelegenheit und klatsche mich warm (als ob das wirklich nötig gewesen wäre). Und ich freue mich, wenn ich „bekannte“ Gesichter sehe – Läufer, die schon an den anderen Posten an mir vorbeigezogen sind. Manche erkennen mich ebenfalls – dann ist die Freude auf beiden Seiten.

Von Amelie habe ich zwischenzeitlich erfahren, dass Erik um 15:28 am Männlichen durchgekommen ist und es ihm jetzt besser geht. Gott sei Dank! Sie und die Großeltern sind jetzt auf dem Weg nach Grindelwald, aber es wird mit Bus, Bahn und Laufen ein wenig dauern, bis sie hier ankommen. Mit Katrin und Sabine rechne ich nicht vor 16:45h. Ich hoffe also, dass die drei es trotzdem noch rechtzeitig bis zum Zieleinlauf der beiden schaffen. 

Wenig später steht Amelie tatsächlich schon neben mir und auch Eriks Eltern sind da. Es ging dann doch schneller als gedacht und ich freue mich, dass ich nun Verstärkung habe. Und dann geht es auch schon los: Ich entdecke Katrin und Sabine auf der Zielgeraden, Amelie und ich bringen uns in Position – Amelie filmt mit ihrem Handy, ich halte den Auslöser meiner Canon gedrückt. Und dazwischen natürlich immer wieder jubeln, jubeln, jubeln!!!


Amelie und ich laufen runter zum Ziel, wo wir die beiden beglückwünschen. Um eine Umarmung kommen wir natürlich nicht herum, auch wenn das nach 35 km und 2385 HM ein bisschen eklig ist … Es ist einfach schön, die beiden so stolz und glücklich zu sehen.

Einige Stunden später – mittlerweile sind alle geduscht und riechen wieder gut – machen wir uns gegen 1915h erneut auf den Weg zum Ziel, um Erik zu empfangen. Der hat sich zwischenzeitlich erholt und macht immer mehr Zeit gut. Am Zieleinlauf verteilen wir uns und es dauert auch nicht mehr lang: Um 20:00 sichten wir ihn und nach kurzer Verwirrung „Wo ist denn hier die Zeitmatte????“ hat auch er das Ziel gefunden. Nach 101 km und 6900 HM kann das schon mal passieren ;-) 




Ende gut – Alles gut

Zusammenfassend möchte ich festhalten: Der Begriff „Jubelpart“ ist durchaus missverständlich, geht es nämlich keineswegs nur um jubeln, winken, hüpfen und schreien. Um den mit dem „Jubelpart“ verbundenen Aufgaben gerecht zu werden bedarf es neben mathematischen Fähigkeiten, Risikobereitschaft und Entscheidungsfreude auch Kommunikationsfähigkeit sowie ein gewisses psychologisches Grundverständnis, um innerhalb von Sekunden Gemütslagen richtig einschätzen und angemessen darauf reagieren zu können. Na ja, und nicht zuletzt sollte man ebenso imstande sein, ohne schlechtes Gewissen zu lügen … zumindest ein bisschen.


Erfordert Kommunikationstalent: Dialoge mit Schwiegermutter und mit Amelie

Rückblickend frage ich mich daher, ob es nicht doch entspannter gewesen wäre, wenn ich einfach mitgelaufen wäre. Das nächste Mal vielleicht. See you on the Trails!


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