Dopingverdacht bei Stian Angermund



 

von Sabine

 
Am Samstag, den 10.2.2024 ließ Stian Angermund mit einem Post auf Instagram eine Bombe platzen: Bei ihm besteht ein Dopingverdacht. Eine Probe, die nach seinem Sieg beim OCC 2023 genommen wurde, enthielt das Diuretikum Chlortalidon. 

Diuretika sind Substanzen, die eine vermehrte Harnerzeugung in den Nieren und eine vermehrte Ausscheidung von Urin bewirken. Die häufigste medizinische Indikation für Diuretika sind Herzerkrankungen, insbesondere Herzinsuffizienz und Bluthochdruck.

Leider werden Diuretika auch im Sport angewendet – sei es zur künstlichen Senkung des Körpergewichts, um im Kampfsport in niedrigeren Gewichtsklassen antreten zu können. Oder zur „Maskierung“ anderer Dopingmittel, die man nach „getaner Tat“ so schnell wie möglich aus dem Körper ausschleusen will, um dann beim nächsten Test wieder „sauber“ zu sein. Aus diesem Grund hat die WADA Diuretika in den Katalog der verbotenen Substanzen aufgenommen. 

 


Nun also wurde bei Stian Angermund bei der Doping-Probe nach dem OCC das Diuretikum Chlortalidon festgestellt. Wie er dem norwegischen Rundfunk Norsk rikskringkasting (NRK) in einem Exklusiv-Interview mitteilte – wurde bei der A-Probe 41 ng/ml und in der B-Probe 31 ng/ml Chlortalidon gemessen.

Mit dem Dopingverdacht gegen Stian Angermund hat es erstmals einen sehr prominenten Läufer getroffen. Angermund läuft seit vielen Jahren an der Weltspitze – vor allem auf Trailstrecken im Bereich der Marathondistanz. In den Jahren 2018 und 2021 gewann er die Golden Trail World Series, 2019 und 2023 siegte er beim OCC – und er holte sich gleich bei zwei Weltmeisterschaften hintereinander den Titel: Sowohl in Chiang Mai 2022 als auch in Innsbruck 2023 gewann er die Weltmeisterschaft im „Short Trail“ (40 km Distanz). Schaut man sich seine ITRA Punkte an, so läuft er seit mindestens 2018 auf gleich hohem Niveau: Seit 2017 hat er jedes Jahr mindestens eine Leistung vorzuweisen, die mit mehr als 930 ITRA Punkten bewertet wurde – bis auf die Jahre 2018 (Bestleistung 923 Punkte) und 2020 (Bestleistung 911 Punkte). Auch wenn er im Jahr 2023 bei den WMTRC in Innsbruck seine bisher beste ITRA-Punktzahl (943) erlaufen hat – ein verdächtiger Leistungssprung ist zumindest aus der ITRA Statistik nicht festzustellen.

 

ITRA-Score Statistik von Stian Angermund - seit 2019 auf kontinuierlich hohem Niveau.



Die Reaktion von Stian Angermund

Stian Angermund selbst bestreitet, jemals bewusst Chlortalidon genommen zu haben. Er sagt, dass er weder Nahrungsergänzungsmittel noch Medikamente nehme oder genommen habe – lediglich Fischtran im Winter. Er versuche derzeit, Beweise zu finden, um den Verdacht ausräumen zu können. Hierzu werden derzeit Proben seiner Sporternährung und der Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel seiner Lebensgefährtin analysiert, um herauszufinden, ob eines davon die Quelle sein könnte. Außerdem erwägt er eine vergleichende DNA-Probe der beanstandeten Dopingprobe und seines eigenen Urins in Auftrag zu geben, um zu klären, ob es sich bei der Probe wirklich um seinen Urin handelt.

Die Tatsache, dass er bislang mit dem Verdacht gegen ihn nicht an die Öffentlichkeit gegangen ist, erklärt er damit, dass er sich bisher vor der Reaktion der Öffentlichkeit und einer sozialen Verurteilung gefürchtet habe.

Tatsächlich fällt die Reaktion in den sozialen Medien zur Zeit sehr verhalten aus. Natürlich gibt es einige, die sagen: Das tun sie doch alle – zunächst dopen und es dann bestreiten, so lange, bis sie komplett mit dem Rücken zur Wand stehen. Es gibt aber auch viele, die Angermund ihre Unterstützung zusichern. Einige gehen so weit, zu sagen: "Ich weiß, dass Du kein Doper bist". Letzteres ist angesichts der bisherigen Faktenlage allerdings auch sehr befremdlich.


 

Parallelen zum Fall Hessmann 

Der Dopingverdacht gegen Stian Angermund erinnert ein bisschen an den Fall des deutschen Radfahrers Michel Hessmann. Bei ihm, der bis 2023 für das Team Jumbo-Visma fuhr und der zur Zeit suspendiert ist, wurde im Juni 2023 ebenfalls Chlortalidon festgestellt. Allerdings war die Dosis bei ihm knapp unter 20 ng/ml, also geringer als bei Angermund. Im Januar 2024 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Freiburg die Ermittlungen gegen Hessmann „mangels hinreichenden Tatverdachts“ eingestellt hat.

Wichtig ist aber zu unterscheiden: Bislang wurde nur die strafrechtliche Behandlung des Falls eingestellt – denn in Deutschland muss der Kläger, in diesem Fall die Staatsanwaltschaft, hinreichende Beweise erbringen, damit eine Anklage erhoben wird. Nicht eingestellt sind aber die Ermittlungen der NADA. Denn hier gilt die – nicht unumstrittene – Beweislastumkehr: Im Fall eines positiven Tests müssen die Sportler den Beweis erbringen, dass sie nicht gedopt haben. Das kann – selbst dann, wenn sich im Nachhinein die Unschuld herausstellt – für den Sportler sehr langwierig, nervenaufreibend und teuer werden.


 

Die Dosis macht das Gift …

Wichtig ist noch ein Detail: Im Fall Hessmann lag die Konzentration des gemessenen Chlortalidon knapp unter 20 ng/ml. Denn hier gibt es mittlerweile eine interessante Entwicklung: In einem „technischen Brief“ hat die WADA im Juni 2021 angekündigt, dass bei einigen Diuretika ein Sportler nur dann als positiv zu werten ist, wenn die im Urin gemessene Dosis größer als 20 ng/ml ist. Grund dafür sind bekannte Verunreinigungen anderer, zugelassener Arzneimittelprodukte mit diesen Diuretika.  

Tatsächlich kommt es gar nicht so selten vor, dass Arzneimittelprodukte oder Nahrungsergänzungsmittel mit verbotenen Substanzen verunreinigt sind – schließlich durchlaufen viele dieser Produkte die gleichen Produktionsstrecken. Dass damit auch unschuldige Sportler in einen Dopingverdacht geraten können, musste der Schweizer Handballer Simon Getzmann am eigenen Leib erfahren: Bei ihm fiel bei einer Dopingprobe das Diuretikum Hydrochlorothiazid auf. Auch bei ihm waren A- und B-Probe positiv. Auch er drehte jeden Stein um – untersuchte alle Substanzen in seiner Wohnung, auch Duschgel und Shampoo, auf ihre Zusammensetzung. Schließlich zeigte eine Analyse, dass das Ibuprofen, das er zur Schmerzreduktion nach einer Schulterprellung genommen hatte, Spuren von Hydrochlorothiazid aufwies. Daraufhin wurde seine Sperre aufgehoben – aber die Analyse-, Gerichts- und Anwaltskosten beliefen sich schließlich auf 100.000 Schweizer Franken. 

Nachdem die Anti-Doping-Agenturen in den vergangenen Jahrzehnten große Erfolge erzielt haben, die Labore immer geringere Mengen immer modernerer Substanzen nachweisen konnten und man damit viele Dopingsünder überführen konnte, mehren sich in den letzten 10 Jahren die Fälle, in denen unschuldige Sportler unter Verdacht gerieten. Und langsam dämmert es auch den Verantwortlichen, dass die holzschnittartige Gleichsetzung von „positiv“ und „schuldig“ nicht mehr haltbar ist.

 

Wie die Biochemie zur Falle für Sportler werden kann

Für viel Furore hat eine Studie von Wissenschaftlern des Kölner Instituts für Rechtsmedizin gesorgt: Sie hatten gezeigt, dass durch flüchtige Berührungen anabole Substanzen auf die Haut eines anderen übertragen und bis zu 15 Tage lang bei ihm nachgewiesen werden können. Diese Erkenntnis zeigt, dass positive Dopingbefunde durch Sabotageakte zustande kommen können – und stellt in Frage, ob die Beweislastumkehr im Sport wirklich aufrechtzuhalten ist.

Aber es ist noch komplexer: Verbotene Substanzen können nicht nur im Labor entstehen, sondern auch in der Natur. So können sich bei feuchter Lagerung von Reis und Getreide sogenannte Mykotoxine bilden. Eines dieser Mykotoxine ist Zearalenon, das wiederum im Körper zu Zeranol verstoffwechselt wird. Und Zeranol ist ein Anabolikum. Genau dieses Zeranol wurde der chinesischen Hammerwerferin Zhang Wenxiu zum Verhängnis: Nach ihrem Sieg bei den Asienmeisterschaften 2014 wurde sie positiv auf Zeranol getestet. Die Goldmedaille wurde ihr aberkannt. Dann aber konnte durch die Analyse der anderen im Urin vorhandenen Abbauprodukte gezeigt werden, dass sie das Zeranol nicht eingenommen hatte – ihr Körper hatte es gebildet. Ergebnis: Nach Begutachtung der Sachlage durch die WADA bekam sie ihre Goldmedaille wieder zurück.

Aber könnte auch ein Diuretikum vom Körper selbst gebildet werden? Ja, kann es. Das wurde erstmals bekannt, als bei den beiden französischen Fechterinnen Astrid Guyart und Maureen Nisima 2014 das Diuretikum Chlorazanil gefunden wurde. Beide bestritten die Einnahme, gaben allerdings an, dass sie bei einem vorangegangenen Aufenthalt in Afrika zur Malaria-Prophylaxe das Medikament Malarone (Wirkstoff: Proguanil) eingenommen hätten. Diese Angabe brachte die Wissenschaftler um Prof. Mario Thevis vom Zentrum für Präventive Dopingforschung auf eine Idee: Sie kannten die strukturelle Ähnlichkeit von Chlorazanil und Proguanil und konnten zeigen, dass Proguanil, das im Körper zu N-(4-chlorophenyl)-biguanide metabolisiert wird, im Urin zu Chlorazanil umgebaut werden kann, wenn im Urin ebenfalls Formaldehyd vorhanden ist. Und Formaldehyd kann durchaus im Urin vorkommen, nämlich wenn man Kreatin substituiert, das zunächst in Methylamin metabolisiert wird, woraus dann Formaldehyd gebildet wird.

Damit ist klar: Das reine Vorhandensein von verbotenen Substanzen bei Athleten bedeutet nicht notwendigerweise, dass tatsächlich diese verbotenen Substanzen (bewusst oder unbewusst) eingenommen wurden – sie können sich auch im Körper des Athleten gebildet haben.

 

Stian Angermund – Quo vadis?

Was kann man daraus für den Fall von Stian Angermund ableiten? Vor allem eines: Sehr vieles ist möglich.

Ob man Stian Angermund nochmal auf der Wettkampfbühne sehen wird, wird wohl wesentlich davon abhängen, ob er einen Nachweis seiner Unschuld bringen kann – sofern er tatsächlich unschuldig ist. Und ein solcher Nachweis kann sehr lange dauern. Aber sollte er wissen, dass er Chlortalidon nicht bewusst eingenommen hat, so kann es sich lohnen, jeden Stein umzudrehen und nicht aufzugeben.

Auf den oben zitierten „Technical Letter 24“ der WADA kann Angermund allerdings nicht hoffen. Zum einen steht Chlortalidon nicht auf der Liste der Medikamente, für die ein unterer Grenzwert von 20 ng/ml eingeführt wurde; zum anderen liegen die nachgewiesenen Werte von Angermund höher als dieser Grenzwert. 

Es wird wohl ein langer und aufreibender Kampf werden …  

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