von Sabine
2020: Was für ein seltsames Jahr!
Bis vor einem Jahr schien es im Trailrunning nur eine Richtung zu geben: Aufwärts. Mehr Veranstaltungen, mehr Teilnehmer, mehr Kommerz. Trailrunning wurde immer internationaler, die Chinesen waren im Vormarsch, es wurden neue Rennserien angekündigt mit Rennen auf unterschiedlichen Kontinenten. Dann, im Dezember 2019, hörte man in den Nachrichten immer häufiger von seltsamen Erkrankungen im chinesischen Wuhan. Erste Rennen in Fernost wurden aus Sicherheitsgründe abgesagt, z.B. das 9 Dragons Race in Hong Kong. In Europa und den USA war davon nichts zu spüren – die bekannten „Winterrennen“ (HURT, Spine, Brocken Challenge) fanden statt. Der UTMB veranstaltete die jährliche Lotterie. Die Wettkampfkalender der Athletinnen und Athleten füllten sich, Trainingspläne wurden aufgestellt. Dann die Notbremsung. Innerhalb von wenigen Wochen kam das öffentliche Leben im März zum Stillstand. Auch wenn in Deutschland die Wälder so voll waren mit Läuferinnen und Läufern wie nie zuvor – an Wettkämpfe war zunächst nicht mehr zu denken. Erst waren es die Veranstaltungen im Frühjahr, die entweder abgesagt oder – von den optimistischeren Veranstaltern – in den Herbst verschoben wurden. Dann traf es die großen, internationalen Wettkämpfe wie Western States, Hardrock, UTMB. Innerhalb von etwas mehr als zwei Monaten war die Trailrunning-Welt komplett aus den Angeln gehoben.
Und jetzt? Wir blicken auf ein Jahr zurück, das nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner gesehen hat. Die Wettkampfabsagen haben das Trailrunning nicht sterben lassen, sie haben vielmehr neue Möglichkeiten geboren. Wo gab es interessante Entwicklungen, wo gab es eine Trendumkehr? Und was davon wird übrigbleiben, wenn Corona irgendwann mal „vorbei“ ist?
Über all das findet Ihr im Blogpost meine persönlichen Gedanken.
MEINE HIGHLIGHTS 2020
Fangen wir mal mit meinen Highlights an. Ja, es gab sie. Kaum war der erste Corona-Schock verdaut und die Ausgangsbeschränkungen aufgehoben, waren die Trailläuferinnen und Trailläufer kaum mehr zu halten. Sie liefen und liefen - in bewährten wie in neuen Formaten. Hier die Leistungen, die mir noch lange in Erinnerung bleiben werden:
- Beste Leistung international, Frauen: Courtney Dauwalter, Big’s Backyard, 68 Stunden, 465 km. Zwar gewann Courtney Dauwalter mit dieser Leistung nicht die Weltmeisterschaft (da ging die Krone an Karel Sabbe), wohl aber das US-Rennen. Zwei Dinge finde ich an dieser Leistung phänomenal: Nach einer schwierigen Saison und einem „DNF“ beim FKT-Versuch Ende August auf dem Colorado-Trail, der nach hoffnungsvollen 500km im Krankenhaus endete, war sie zu Big’s Backyard wieder zurück – und wie! Außerdem ist sie eine der ganz wenigen, die es nach einer Höchstleistung in diesem Rennformat (459km bzw. 67 Stunden im Jahr 2018) nochmal schafft, sich nochmal zu quälen: Mehr als zwei Tage lang, Stunde um Stunde, um dann schließlich im finalen Ausscheidungskampf die Nase vorn zu haben. Was für eine Willensleistung!
- Beste Leistung international, Männer: Hayden Hawks, JFK 50, 5:18:40. Was für ein Lauf! Hayden Hawks hat die „verkorkste“ Saison dazu genutzt, sein Training umzustellen. Weniger Kilometer, weniger Reisen, weniger Wettkämpfe. Zum Klassiker JFK 50 im November trat er dann topfit an. Und er gewann nicht nur, sondern schlug auch noch den Streckenrekord von Jim Walmsley (5:21:29, 2016), den viele für unschlagbar hielten. Für mich eines der besten Beispiele, dass sich auch im Ultrarunning lohnt, sich zu fokussieren. Weniger kann auch mal mehr sein ...
- Beste Läuferin national: Simone Schwarz. Sie hat bravourös gezeigt, wie man ein Corona-Jahr effizient nutzen kann. Kurz vor dem ersten Lockdown - Anfang März – gewann sie souverän den Trail du Petit Ballon. Die coronabedingte Wettkampfpause nutzte sie für einen FKT auf dem Zweitälersteig im Schwarzwald. Und als die Wettkämpfe wieder starteten, war sie sofort wieder bereit: Sieg beim Pitz Alpine P105 und zweiter Platz (hinter Kathrin Götz) bei der Swiss Trail Tour. Perfekte Saisonplanung!
- Bester Läufer national: Hannes Namberger. Perfekte Saisonplanung – das kann man auch bei Hannes Namberger sagen: Zunächst holte er sich die FKT (unsupported) auf der Watzmannüberschreitung. Dann Sieg und Streckenrekord beim Pitz Alpine P105 – ein Lauf, der ihm einen ITRA Score von 914 einbrachte. Das hatte vor ihm noch kein anderer deutscher Läufer geschafft. Ähnlich stark war sein Auftritt bei den Mayrhofen Zillertal Ultraks, wo ihm ebenfalls der Sieg gelang. Da kann man nur sagen: Weiter so!
- Beste FKT International, Frauen: Beth Pascall, Bob Graham Round. Wenn man eine neue FKT aufstellt, dann kann die „Qualität“ dieser FKT am besten daran gemessen werden, wie gut die bisherige Bestmarke war. Und die bisherige Bestmarke auf der Bob Graham Round war exzellent: 15 Stunden und 23 Minuten, aufgestellt von der Fellrunning-Spezialistin Jasmin Paris. Beth Pascall ließ sich von diesem großen Namen nicht schrecken, erst recht nicht, nachdem sie bei Trainingsläufen in den Lakelands gesehen hat, dass sie die Splits von Jasmin knacken kann. Und so zog sie einen fast perfekten Lauf durch - und schlug die bisherige FKT um fast 50 Minuten: 14 Stunden, 34 Minuten und 26 Sekunden standen am Ende auf ihrer Uhr. Dieser Rekord dürfte bei den Frauen vergleichbar sein mit der FKT, die Kilian Jornet 2018 auf der Bob Graham Round aufgestellt hat.
- Beste FKT International, Männer: Joe „Stringbean“ McConaughy, Long Trail. Joe McConaughy trägt immer noch seinen Trailnamen “Stringbean”, den er sich auf dem Pacific Crest Trail “erarbeitet” hat. Bekannt wurde er aber, als er unsupported auf dem Appalachian Trail schneller war als Karl Meltzer und Scott Jurek, die den Trail supported gelaufen waren. In diesem Jahr sollte es der Long Trail in Vermont sein, der älteste Weitwanderweg in den USA. Auch den wollte er unsupported angehen, musste aber bei einem Anstieg Wasser von anderen Wanderern annehmen und rutschte so in die Kategorie “self supported”. Dennoch sollte ein Vergleich seiner Zeit (4 Tage, 23 Stunden, 54 Minuten) mit der bisherigen unsupported FKT von Jeff Garmire (5 Tage, 23 Stunden, 48 Minuten) erlaubt sein: Diese hat er um fast einen Tag unterboten – und ist gleichzeitig bis auf 11 Stunden an die supported FKT von Jonathan Basham herangekommen. Hervorragend!
- Beste FKT national, Frauen: Aoife Quigly, Nagelfluhkette. Trotz einiger hervorragender Wettkampfleistungen (z.B. 2018 Platz 1 beim ZUT Basetrail und Platz 4 beim Eiger E35) hatten die meisten die gebürtige Britin und Wahlheidelbergerin nicht wirklich auf dem Radar: Und so war die Verwunderung groß, als sie im Rahmen von My Virtual Trail eine Bomben-Zeit auf der Nagelfluh-Kette ablieferte: Sie bewältigte die 31 km lange Strecke, die größtenteils über einen Grat mit viel technischem Terrain führt, in gerade mal 4:27:23. Und das auch an einem Tag, an dem es noch Schnee und eisige Stellen hatte. Aoife ist im Herbst vom (lokalen) Engelhorn Sports Running Team zu Team Salomon gewechselt. Ein Zeichen, dass ihr Talent erkannt wird – man sollte sich also den Namen Aoife Quigly merken!
- Beste FKT national, Männer: Anton Palzer, Watzmannüberschreitung. Die Watzmannüberschreitung gehört zwar in Sachen FKT zu den „Kurzstrecken“, fordert aber einen Trailrunning-Allrounder: Im ersten Abschnitt gilt es eine anspruchsvolle Bergtour zu absolvieren, im letzten Abschnitt ist dann viel Tempohärte gefragt für den Rückweg durchs Wimbachergries. Anton Palzer hielt die FKT, bis Hannes Namberger im Juni fünf Minuten schneller lief. Ganze drei Tage danach holte sich Palzer den Rekord wieder zurück – und WIE! Am Ende war er fast 15 Minuten schneller als Namberger. Letztendlich stehen nun beide in der FKT-Liste – Namberger war unsupported unterwegs, Palzer supported. Aber bei einer so kurzen Strecke ist der Einfluss von Support eher marginal. Auf jeden Fall eine super Leistung des Skibergsteigers, der ab 2021 als Radprofi aktiv sein wird.
DIE ZAHLEN
So weit, so subjektiv. Kommen wir nun zu den objektiven, „nackten“ Zahlen. Seit 2010 hat Trailrunning stark an Popularität gewonnen. Allein was die Zahl an Wettkampfveranstaltungen anging, sah man einen jährlichen Zuwachs von mindestens 10%, in der Spitze sogar bis 30%. Schon im vergangenen Jahr stellte sich die Frage: Sind die Fetten Jahre vorbei? Das kann doch nicht ewig so weitergehen …
Doch 2020 kam es Corona-bedingt zum ersten Mal zu einem dramatischen Rückgang. Weltweit fanden nur noch ca. 40% der Veranstaltungen statt, die es 2019 gab. Die Teilnehmerzahl sank sogar auf 30% des Vorjahres. Letzteres resultiert vor allem daraus, dass diejenigen Rennen, die trotz Corona stattfanden, meist das Teilnehmerfeld reduzierten. Nur so konnten diese Wettkämpfe den gegebenen Hygieneanforderungen gerecht werden.
Wenn man sich die Zahlen im Ultrabereich anschaut – hier sind die Statistiken dank DUV besonders zuverlässig – dann kann man das noch etwas besser differenzieren: Denn regional gab es beim Einbruch der Zahlen durchaus Unterschiede. So nahmen beispielsweise auf der anderen Seite der Erdkugel die Zahlen moderater ab: Australien vermeldete ein Minus von 50% bei den Rennen und ein Minus von 53% bei den Teilnehmern, Neuseeland sogar nur ein Minus von 45% bzw. 14%. Auch in den USA fanden etwa 50% der Rennen statt (mit 56% der Teilnehmer) – auch wenn dort die Infektionslage zeitweise dramatischer war als in Europa. Allerdings muss man auch feststellen, dass die durchschnittliche Teilnehmerzahl in den USA bei Rennen im Ultrabereich sowieso geringer ist als hierzulande, es also bei der Durchführung auch weniger Hygieneprobleme gibt. Zusätzlich reagierten die einzelnen Bundesstaaten je nach ideologischer Ausrichtung ganz unterschiedlich auf steigende Infektionszahlen – das reichte von Ignoranz bis hin zu strengsten Ausgangsbeschränkungen. Auch China, das in den letzten Jahren zu den Ländern mit dem größten Wachstum gehörte, zeigte ein deutliches Minus von 44%. Doch hier teilte sich die Saison praktisch in zwei Halbjahre: Während im ersten aufgrund der Pandemie praktisch gar nichts lief, scheint man mittlerweile schon bei „Business as usual“ angekommen zu sein - wenn man von der weiter gesteigerten Überwachung durch staatliche Institutionen absieht.
Die größten Einbußen waren übrigens in Europa zu verzeichnen: Hier steht Italien mit einem Minus von 80% der Läufe und 73% der Teilnehmer an der Spitze. Deutschland lag dagegen in etwa im weltweiten Mittel.
Nun ist dieser Einbruch der Zahlen als Akutreaktion zu verstehen. Viel interessanter wird es sein, wie viele Rennen nach einer einmaligen (oder vielleicht sogar nochmaligen) Rennabsage durchhalten werden. Die finanziellen Verluste für die Veranstalter sind von Land zu Land unterschiedlich: Während in Deutschland und Österreich beispielsweise die Rechtslage so ist, dass der Veranstalter die Teilnahmegebühr voll zurückerstatten muss, ist beispielsweise in der Schweiz und in Frankreich ein Einbehalt größerer Teile des Startgelds möglich.
Bislang hat sich gezeigt, dass sehr viele Läufer freiwillig auf die Rückzahlung von Startgeldern verzichtet haben. So viele, dass die Veranstaltungen häufig in der Lage waren, virtuelle Ersatzwettkämpfe auszurichten und sogar noch Finishershirts oder Medaillen durch die Republik zu verschicken. Nur wenige Veranstaltungen strichen 2020 ganz die Segel – und hier gab es meist ganz andere Gründe. Zum Beispiel beim Andorra Ultra Trail. Man wird aber sehen müssen, wie sich ein zweites Jahr mit Einschränkungen auswirken wird – auch was das Sponsoring von Veranstaltungen durch Sportartikelhersteller anbetrifft.
Das große „Veranstaltungssterben“ erwarte ich aber nicht. Viel eher ein weiteres Auseinanderdriften von Eliteläufern und „Lieschen Müller“ bzw. „Otto Normalläufer“. Das Fundament dazu ist schon gelegt, vor allem in Europa. Denn dort gibt es bei vielen der Top-Rennen separat für Eliteathletinnen und -athleten ausgewiesene Startplätze. Dies ist entweder ein Kontingent im Rahmen von Rennserien (z.B. UTWT, Skyrunner World Series, Golden Trail Series) oder eine Startplatzgarantie auf Basis des ITRA Performance Index (z.B. UTMB, Mont Blanc Marathon). Dennoch sind diese Rennen „offen“ – das heißt: So lange Lieschen Müller und Otto Normalläufer Losglück und das nötige Kleingeld haben, können sie mit (besser: hinter) einem Kilian Jornet, einem Jim Walmsley oder einer Courtney Dauwalter an der Startlinie stehen.
Der Weg zu reinen Eliterennen scheint da noch weit, ist es aber nicht. Als beispielsweise in diesem Jahr klar wurde, dass die Golden Trail World Series nicht würde stattfinden können, hat man kurzerhand die Golden Trail Championships aus dem Hut gezaubert – ein ausschließliches Einladungs- und Qualifikationsrennen. Entsprechend klein war das Starterfeld in der „Bubble“ auf den Azoren.
Sollte es auch über 2021 hinaus spürbare Beschränkungen beispielsweise bei Flugreisen oder aber auch bei Teilnehmerzahlen von Sportveranstaltungen geben, wird dieses Modell mit Sicherheit Schule machen und den Sport deutlich verändern. Und selbst wenn Corona-bedingte Einschränkungen nur temporär sind, könnte dies Veranstalter und Sponsoren bewegen, den einmal eingeschlagenen Weg weiter beizubehalten. Bei den Golden Trail Championships ist das schon der Fall, denn sie sollen ab sofort jährlich alternierend mit der Golden Trail World Series stattfinden.
AND THE WINNER IS: FKT
Wenn es im Trailrunning einen „Krisengewinner“ gibt, dann sind es die FKTs. Die Statistik der aufgestellten Rekorde weist ganz steil nach oben. Diesen Trend konnte man schon in den letzten Jahren erkennen – FKTs wurden immer mehr zum Thema. Aber 2020 gab es eine regelrechte Explosion der Zahlen – als würde es sich hier um einen Virus handeln.
Weltweit wurden bislang für 2020 fast 4400 FKTs registriert – das ist im Verhältnis zum Vorjahr eine Steigerung um den Faktor 4! Auch die Zahl der FKT-Strecken hat sich deutlich gesteigert: Waren es bis Ende 2019 knapp über 1800, zählt man ein Jahr später 3170 Strecken. Noch krasser war der „Corona-Effekt“ bei den FKT Strecken in Deutschland: Von den derzeit 230 registrierten Strecken stammten 192, also 83% aus 2020. In Österreich kamen 2020 80% von insgesamt 79 Strecken hinzu, in der Schweiz 63% von 43 Strecken.
Ein „Problem“ bei den FKTs ist jedoch, dass es nur wenige hoch kompetitive Strecken gibt. Es gibt auf der FKT-Seite viele OKTs – Only Known Times. Das sind Strecken, die jemand angelegt hat und gelaufen ist … und niemand anderes interessierte sich (bislang) für diese Strecke. Bis 2019 zählte man 3179 Leistungen auf 1800 Strecken – das sind durchschnittlich 1,8 FKT pro Strecke. Im Durchschnitt also knapp einer bei den Damen und einer bei den Herren. Inzwischen ist dieses Verhältnis auf 2,4 (7578 Leistungen auf 3170 Strecken) angewachsen. Ein guter Trend, denn eine OKT kann immer nur der erste Schritt bei einer FKT sein, sonst ist das ganze Konzept witzlos.
Vielleicht wird früher oder später eine „Verdichtung“ oder „Bereinigung“ notwendig sein, bei der man beispielsweise alle Leistungen aus der FKT-Datenbank werfen könnte, die in einem zu definierenden Zeitraum keinen dokumentierten FKT-Versuch erlebt haben.
Zur „Verdichtung“ haben gerade in Mitteleuropa auch Initiativen beigetragen, die in gewisser Weise ein Hybrid zwischen klassischer FKT und virtuellem Rennen sind. In Österreich ist das beispielsweise FKT Austria. Eine Initiative, für die Michael Geisler verantwortlich zeichnet. Bislang gibt es in vier Bundesländern (Tirol, Steiermark, Niederösterreich, Kärnten) FKT Serien mit jeweils drei Streckenlängen (Sprint, Marathon, Ultra); in Tirol gibt es obendrein noch die „Monatsstrecke“. Und gerade auf dieser Monatsstrecke war reger Betrieb und viel Spannung angesagt – es gab so manches taktisches Geplänkel am Monatsende. Im Durchschnitt nahmen gut 50 Personen pro Monat teil, bei den Saisonstrecken waren es im Durchschnitt aller Bundesländer 18 Athletinnen bzw. Athleten (13 Männer, 5 Frauen) pro Strecke.
Eine ähnliche Idee mit Unterschieden in der Ausführung ist die „My Virtual Trail“ Challenge, im vergangenen Sommer ins Leben gerufen von den Machern des Trail-Magazins. Zur Auswahl standen 2020 10 FKT-Strecken mit einem Einzelranking für die entsprechenden Strecken sowie einer Gesamtwertung nach Punkten. Hier nahmen im Durchschnitt 12 Personen pro Strecke teil (9 Frauen, 3 Männer).
Initiativen wie FKT Austria oder My Virtual Trail kann man nicht ganz mit den FKTs im engeren Sinne vergleichen – denn anders als bei den „echten FKTs“ werden hier nicht nur die absolut schnellsten Leistungen dokumentiert und „gewertet“. Aber sie zeigen: Eine Begrenzung auf einige „Klassiker“ macht durchaus Sinn, denn hierdurch steigt das Leistungsniveau beträchtlich. Ganz im Sinne von Sir Isaac Newton: „We stand on the shoulder of those who came before us“: Leute, es ist witzlos, immer neue Strecken zu schaffen und einfach nur eine Marke zu setzen. Messt Euch auch mal an den Marken, die andere gesetzt haben! Wie auch bei den Wettbewerben gilt hier ein besonderer Aufruf den Läuferinnen: Versucht Euch mal an einer FKT. Das macht wirklich Spaß. Je nachdem, wie man eine solche Challenge angeht, hat mehr den Charakter eines Abenteuers als die durchorgansierten Rennen.
KEINE ANGST VOR LANGEWEILE
In Zeiten, in denen der Bewegungsradius durch Lockdowns und Reisebeschränkungen dramatisch reduziert wurde, haben einige Trail- und Ultraläufer aus der Not eine Tugend gemacht. Laufband? Worüber man früher eher die Nase rümpfte und was maximal als Trainingsutensil herhalten durfte, wurde plötzlich zum „Austragungsort“ von Weltrekordversuchen.
Den Anfang machte Florian Neuschwander Ende Februar, also noch vor dem ersten Lockdown. Er stellte auf dem Laufband einen neuen Weltrekord über 50km auf: 2:57:24. Damit verbesserte er den Rekord von Mario Mendoza (2:59:03), die dieser Anfang des Jahres aufgestellt hatte. Dann kam der Orientierungläufer Matthias Kyburz (SUI). Wie bitte? Orienteering? Wenn man eines auf dem Laufband nicht braucht, dann ist das Orientierung! Doch dass Orienteering-Läufer auch im Trail- und Ultrarunning richtig gut sein können, weiß man spätestens seit den Erfolgen von Marc Lauenstein, Judith Wyder oder Ekaterina Mityaeva. Und so unterbot Kyburz tatsächlich mit 2:56:35 die Zeit von Neuschwander.
Doch auch dabei sollte es nicht bleiben. Denn Anfang Juni wurde mangels realer Wettkämpfe die „Chaski-Challenge“ veranstaltet – eine virtuelle Laufband-Veranstaltung mit einigen Elite-Läuferinnen und -Läufern. Bei dieser Veranstaltung pulverisierte der US-Amerikaner Tyler Andrews mit 2:42:56 den Rekord von Kyburz.
Bei dieser Challenge wurden aber noch mehr Weltrekorde aufgestellt:
- Halbmarathon Frauen: Sara Hall 1:09:03 (bisher 1:20:43, Jenna Wrieden , 2014)
- Halbmarathon Männer: John Raneri 1:03:08 (bisher 1:03:37, Tyler Andrews, 2015)
- 50 km Frauen: Renee Metivier 3:11:38 (bisher 3:51:25, Arielle Fitzgerald, 2016)
- 100 km Männer: Mario Mendoza 6:39:25 (bisher 6:40:35, Phil Anthony, 2014)
Auch der Ultrarunner Zach Bitter ließ sich nicht lumpen und stellte zwei neue Weltrekorde auf dem Laufband auf: Er lief in 12 Stunden 158,746 km. Und für 100 Meilen brauchte er 12:09:15. Diese Rekorde standen davor bei 153,8 km bzw. 12:32:26, aufgestellt vom Kanadier Dave Proctor im Mai 2019.
Auch Berg- und Ultraläufer Benedikt Hoffmann quälte sich auf dem Laufband. Eigentlich wollte er den Zermatt Marathon laufen. Als der ausfiel, startete er sein Laufband, stellte die Steigung auf konstant 10% - und lief einen Marathon: In 3:50:55.
Wenn Trailrunner an Hospitalismus leiden – weil sie aufgrund von Beschränkungen nicht mehr ihre großen Runden durch die Berge ziehen können – ist auch eine zweite Art von Rekorden naheliegend: Wieviel Höhenmeter schafft man in 24 Stunden? Dafür reichen im Zweifel auch kleine, steile Hügel aus – wie im Fall der Trailläuferin Elise Delannoy. Sie nutzte eine ehemalige Kohlenhalde in Nœud-les-Mines, die mittlerweile eine das ganze Jahr präparierte Freiluft-Skipiste ist. Ganze 59,4 Meter ist die Höhendifferenz zwischen Talstation und Gipfelstation. Sie musste sie also einige male hoch und runterrennen, um schließlich mit 16573 Höhenmetern einen neuen 24-Stunden Rekord aufzustellen.
Auch bei Männern war in dieser „Disziplin“ einiges los. Vor dem denkwürdigen Jahr 2020 stand der Weltrekord bei 15467 Höhenmetern, aufgestellt im Herbst 2019 vom Franzosen Ugo Ferrari. Doch dann ging es Schlag auf Schlag:
- 5. Juni 2020: Juha Jumisko (FIN) 16054 HM
- 13. Juni 2020: Luca Manfredi Negri (ITA) 17020 HM
- 28. August 2020: Patrick Bohard (FRA) 17130 HM
- 7. September 2020: Aurelien Dunand-Pallaz (FRA) 17218 HM
Selbst Kilian Jornet, bei dem selbst das Training normalerweise ein einziger Abenteuerspielplatz zu sein scheint, hat sich Ende des Jahres den eher „langweiligeren“ Formaten zugewandt. Zunächst, Mitte Oktober, lief er 29:59 über 10 Kilometer beim Hytteplanmila. Und kündigte ziemlich bald an, dass sein nächstes Projekt ein 24-Stunden Rennen sei. Das fand allerdings – aufgrund einer etwas längeren Verletzungspause – erst Ende November statt. Und hatte eher den Charakter einer Schuh-Promotion des neuen Salomon S/Lab Phantasm. Denn Ende November war es in Måndalen schließlich doch zu kalt, als dass man ernsthaft mit einer Weltklasseleistung hätte rechnen können. Letztlich musste Kilian nach 135 km mit Kreislaufproblemen die Segel streichen und sogar noch eine Nacht im Krankenhaus verbringen…
THINK BIG, STAY SMALL
In den letzten Jahren war immer mehr der Trend zu großen Trail-Festivals und internationalen Rennen zu sehen. Doch gerade diese großen und internationalen Trail-Festivals wurden von der Corona-Pandemie am stärksten getroffen. Denn eines war nun kaum mehr möglich: Fernreisen. Daher kamen die Absagen der großen Events im Frühjahr recht zügig: UTMB, Lavaredo, Eiger. Auch die US-Spitzenevents mit zahlenmäßig drastisch niedrigeren Teilnahmezahlen (Western States, Hardrock, Pikes Peak) zogen die Reißleine. Denn gerade diese Events leben von einem dichten Feld an nationalen und internationalen Spitzenläufern, die man unter den geänderten Randbedingungen nicht zum Event hätte bringen können.
Es waren dann deutlich kleinere und regionale Events, die im Frühsommer den bescheidenen Wettkampf-Reigen eröffneten: Beispielsweise der Sachsen-Trail, der (neu ausgerichtete) Rheinquelle Trail, der Chiemgau 100 oder der Pitz Alpine. Alles Veranstaltungen, die nicht in internationale Serien eingebunden sind und die auch ohne weitgereiste Läuferinnen und Läufer funktionieren. In diesem Sommer gab es – anders als in den Jahren zuvor – keinen Run von chinesischen Läufern auf europäische Events – die konnten schlichtweg nicht reisen.
Eigentlich eine gute Entwicklung – wenn man das Ganze mal vom Klimaschutzes her denkt. Muss man wirklich den Wochenend-Trip auf die Kanaren machen, nur um dort ein Rennen zu bestreiten? Oder zu einem Rennen nach Argentinien, China oder nach Südafrika fliegen? Auch vor der Haustür gibt es spannende Rennen. Und wie ein internationaler Vergleich trotz lokaler Austragung stattfinden kann, hat im Oktober die „Big’s Backyard World Championship“ vorgemacht: Reale Rennen vor Ort, kombiniert mit einem virtuellen internationalen Vergleich. Ein ähnliches Konzept verfolgt seit Jahren der Wings for Life World Run. Natürlich hat ein solches Konzept seine Haken– Streckenbeschaffenheit und klimatische Bedingungen lassen sich wohl kaum „normieren“. Und dennoch hat es gerade vor dem Hintergrund des Klimaschutzes großen Charme: Race global – stay local.
VIRTUAL REALITY
Weiterer Gewinner der Saison: Virtuelle Rennen. Es ist nun nicht so, dass es virtuelle Rennen nicht schon früher gegeben hätte. So hat beispielsweise der Wings for Life Run schon längs seine virtuelle Sparte, und auch den Ginger Runner Global Run gibt es schon seit fünf Jahren. Doch als im Frühjahr 2020 reale Rennen nicht mehr möglich waren, schossen die virtuellen wie Pilze aus dem Boden.
Aber mal ganz ehrlich: Virtuelle Rennen werden reale nicht ersetzen. Sie sind ein gutes Instrument, um für eine bestimmte Zeit die Motivation hochzuhalten oder überregionale/globale Verbundenheit auszudrücken und haben daher meines Erachtens ihren Platz eher im Fundraising denn als Ersatz für reale Rennen. Und so braucht man auch keine Glaskugel um vorherzusagen, dass diese Welle an virtuellen Rennen brechen wird, sobald wieder reale Rennen durchgeführt werden können.
Und doch sollten gerade Veranstalter mal schauen, ob die Ideen und technischen Entwicklungen, die die Flut an virtuellen Rennen begleiteten, nicht auch als Werkzeuge für reale Rennen genutzt werden können.
Beispiel: Alternativen zum Chip-Timing. Einige virtuelle Rennen wurden auf der realen Strecke durchgeführt, allerdings konnte man die Leistung über einen größeren Zeitraum erbringen. Da sich kein Veranstalter leisten kann, Zeitmessmatten wochenlang liegen zu lassen, hat man sich mal in der “Nachbardisziplin” Wandern umgeschaut. Dort gibt es nämlich mehrere Apps, die das virtuelle Pendant zum klassischen Stempelbuch sind. Beispielspielsweise Summitlynx, die mittlerweile in einigen Regionen als digitales Gipfelbuch verwendet wird. Hier nutzt man einen GPS-Abgleich zusammen mit einer Fotodokumentation. Diese App wurde beispielsweise beim Karwendelmarsch unlimited zur Dokumentation der Leistung verwendet. Eine Alternative zum GPS-Abgleich bildet das Einscannen eines QR-Codes. Ob man den Standort nun per GPS oder per optischer Bestätigung dokumentiert, letztlich muss man die Apps aus dem Wanderbereich nur noch mit einem Zeitstempel kombinieren, und fertig ist eine Self-Timing App. Hier hat sich einiges entwickelt – und wird sich sicher noch weiterentwickeln. Beispiele:
- MeinBerglauf: Diese App wird derzeit schon bei der Trail Running Trilogy und der Eckbauer Challenge eingesetzt. Eigentlich eine ideale App für Bergläufe oder Läufe, bei denen es um die schnellste Zeit von Punkt A zu Punkt B geht, das korrekte Einhalten der Strecke aber keine Rolle spielt. Der Start kann hier innerhalb eines beliebigen Zeitpunkts (zumindest in einem vorher definierten Zeitkorridor) erfolgen.
- ViRace: Hier sind die Startzeit und die Streckenlänge exakt festgelegt, während man die Strecke selbst beliebig aussuchen kann. Vorteil: Man bekommt während des Rennens angesagt, wie man in Relation zu den gleichzeitig laufenden Konkurrenten liegt. Nachteil: Das Profil der Strecke wird nicht berücksichtigt, daher ist diese App eher für Straßenläufe geeignet als für Trailläufe.
- Webscorer: Hier bietet man unter anderem ein Self-Timing System an, das auf QR-Codes basiert. Das heißt: Die Strecke ist definiert und an beliebigen Zwischenpunkten mit QR-Codes beschildert, die der Läufer scannen muss. Hierüber wird der Beweis geführt, dass die definierte Strecke gelaufen wurde.
Auch wenn nach Ende der Covid-Krise die Zahl der virtuellen Rennen sicherlich abnehmen wird – die Technologie, die für diese virtuellen Rennen entwickelt wurde, wird für manche Veranstalter eine echte und kostengünstige Alternative zum klassischen Chip-Timing darstellen.
In Mitteleuropa wird für die Zwischenzeiten die gleiche Technologie verwendet wie beim Straßenlauf. Das bedeutet in der Praxis: Es muss viel Technik auf den Berg geschleppt werden. Wenn man hier stärker auf Self-Timing-Konzepte übergehen und dabei auch zunehmend die Smartphones einsetzen würde, die sowieso jeder Läufer mit sich führen muss, könnte man ein online Timing mit der gleichen Zuverlässigkeit bei deutlich reduzierten Kosten erreichen.
Klingt exotisch? Ist es eigentlich nicht. Self-Timing Konzepte sind beispielsweise beim Orienteering oder Fellrunning Gang und Gäbe: Über das sogenannte E-Punching wird an den Kontrollpunkten eine E-Card, die der Läufer mit sich führt, mit einem “Zeitstempel” versehen. Dieser Zeitstempel dokumentiert dadurch die Splits, ist aber auch Beweis dafür, dass der Läufer an allen Kontrollpunkten vorbeigekommen ist. Die virtuellen Rennen der vergangenen Saison haben gezeigt, dass dies auch “berührungsfrei” mit dem eigenen Smartphone geht – und damit potentiell den Weg geöffnet für neue und günstigere Zeitmess-Konzepte.
DIE NEIDISCHEN BLICKE DER NACHBARN
Auch wenn Trailrunning in den letzten Jahren deutlich gewachsen ist, ist es immer noch ein Nischensport. Dennoch konnte man in den letzten Jahren verwundert feststellen, dass sich einige Nachbardisziplinen plötzlich für’s Trailrunning interessierten – vor allem wohl mit monetären Hintergedanken.
Da ist zum einen IRONMAN – das Triathlon-Unternehmen, das im vergangenen Jahr von der chinesischen Wanda Group in die Hände von Orkila Capital gewechselt ist. IRONMAN ist seit zwei Jahren auf Shopping-Tour bei Ultratrail-Wettkämpfen: 2018 kauften sie Ultra Trail Australia, 2019 den Tarawera Ultra Trail – und 2020 nahmen sie den Mozart Ultra Trail in ihr Portfolio auf.
Auch aus dem Bereich des Obstacle Course Racing gibt es Begehrlichkeiten: Vor drei Jahren begann Spartan Race damit, in den USA eigene Trail-Wettkämpfe zu veranstalten. Wobei sie zunächst etwas ins Fettnäpfchen traten, weil sie die Trail-Kultur nicht zu verstehen schienen. So verlangten sie beispielsweise Eintrittsgelder für Zuschauer ... Im Jahr 2020 kündigten sie dann eine internationale Trail-Serie an – doch diese ereilte das gleiche Corona-Schicksal wie die anderen Ultratrail-Serien.
Dann kam der Dezember 2020 – und die UTWT stellte wie jedes Jahr ihren Rennkalender vor. Doch man konnte sich gleich verwundert die Augen reiben, weil drei angestammte Rennen fehlten: Der Transgrancanaria, der Patagonia Run und der Lavaredo Ultra Trail. Doch diese Verwunderung hielt nicht lange an, fand man diese Rennen doch – zusammen mit einigen neu aufgelegten Trailrunning-Veranstaltungen – in der Spartan Trailrunning-Serie, die sich vollmundig Trail World Championship nennt. Stellt sich die Frage: Wie viele Weltmeisterschaften brauchen wir denn noch im Trailrunning?
Denn auch die Golden Trail Series hat im vergangenen Jahr – eher der Not geschuldet und als Ersatz für die Golden Trail Series – eine inoffizielle Weltmeisterschaft auf den Azoren ausgetragen. Jetzt hat man angekündigt, dass diese Golden Trail Championship alle zwei Jahre alternierend mit der Golden Trail Series stattfinden soll, das nächste Mal also 2022.
Bei so vielen „Meisterschaften“ verliert man schon mal den Überblick... Aber es sei betont: Eine Weltmeisterschaft, die diesen Namen auch verdient - nämlich ein Rennen, bei dem sich ein großer Teil der Weltelite versammelt – schafft man nicht, in dem man ein Rennen oder eine Rennserie „Weltmeisterschaft“ nennt. Auch nicht dadurch, dass man ordentlich Preisgelder in die Rennen pumpt. Das ist schon beim „Ultra Race of Champions“ schiefgegangen. Weltmeisterschaften entstehen dadurch, dass die Elite gute Bedingungen vorfindet – und eine interessante Konkurrenz. Ein solcher Effekt ist letztlich selbstverstärkend – viele gute Läufer ziehen noch mehr gute Läufer an. In diesem Sinne gibt es eigentlich nur eine Ultratrail-Weltmeisterschaft: Der UTMB mit seinen Schwesterrennen.
Auch die Verbands-Weltmeisterschaften (IAU/ITRA) hatten in den letzten Jahren ihre Probleme. Gerade die Besten der Besten zeigten häufig nur geringes Interesse. Dann gibt es auch noch zusätzlich die Langdistanz-Weltmeisterschaften im Berglauf, die von der World Mountain Running Association (WMRA) veranstaltet werden. Außenstehenden ist kaum zu erklären, was diese Langdistanzen von Trailrunning unterscheidet. Und folgerichtig hat man sich vor ein paar Jahren zusammengetan und verabredet, alle zwei Jahre die Weltmeisterschaften im Berglauf und die Ultra-Trail WM gemeinsam auszutragen – unter dem Schirm von IAU, ITRA und WMRA und mit einem „Rundumschlag“, was das Programm angeht: VK, Berglauf, Marathon-Trail und Ultra-Trail. Man darf gespannt sein, wie dieses Angebot angenommen wird, und ob die teilweise artifiziellen Grenzziehungen zwischen Berg-, Trail- und Ultraläufern aufgebrochen werden können. Die erste Ausgabe dieser Dreifach-Weltmeisterschaften wird im November in Chiang Mai, Thailand, ausgetragen.
ITRA: EMANZIPATION VOM UTMB?
Manche Dinge ergeben erst im Nachhinein einen Sinn. So zum Beispiel das Vorzugs-Punktesystem für die Teilnahme an den UTMB-Rennen, das 2019 angekündigt wurde. Während es bislang die ITRA-Punkte waren, die die Läufer zur Qualifikation für die UTMB-Lotterie beibringen mussten, gibt es nun eine Art Erste-Klasse Ticket auf dem Weg zum UTMB: Die Running Stones. Die kann man bei Rennen von „UTMB International“ oder bei der Ultra Trail World Tour erwerben. Warum, konnte man sich damals fragen, schafft der UMTB eine Art „Abkürzung“ zum bisherigen Qualifikationssystem?
Während die Welt gerade mit der ersten Corona-Welle kämpfte und während sich die Läuferwelt versuchte, sich mit den Lockdown-Maßnahmen zu arrangieren, gab es dann eine Meldung, die an einigen vorbeigegangen sein dürfte. Michel Poletti, Renndirektor des UTMB, trat als Präsident der ITRA zurück. Die offizielle Begründung: Er sei mittlerweile 65 und habe damit ein Alter erreicht, in dem er es etwas ruhiger angehen lassen könne.
Die tatsächliche Begründung dürfte aber vielschichtiger sein: Schon Anfang 2019 hatte sich angedeutet, dass Michel Poletti und seine Frau Catherine eine Art „geschlossenes System“ aus UTMB und UTWT anstrebten, bei der das Non-Profit Unternehmen ITRA marginalisiert werden würde. Damals gab es – ebenfalls praktisch unbemerkt – in der UTWT einen „Putsch“ der Familie Poletti: Die komplette Mannschaft der Gründungsmitglieder - Fabrice Perrin, Jean-Charles Perrin, Cyril Gauthier und Alain Hirt – verschwand aus dem Vorstand, dafür rückte zu Catherine Poletti ihr Mann Michel sowie Remi Duchemin und Paul Kelly in den Vorstand auf (nachzulesen im Schweizer Handelsregister). Gleichzeitig wurden die Rennen von UTMB International („by UTMB“) als integrale Bestandteile in die UTWT aufgenommen. Zudem soll Berichten zufolge
Druck auf andere Veranstalter der UTWT-Serie ausgeübt worden sein, ihr Rennen ebenfalls als Franchise des UTMB – also „by UTMB“ – zu vermarkten. Da wundert nicht, weshalb es Spartan leichtfiel, Traditionsrennen aus der UTWT Serie herauszulösen und in seine eigene Trailrunning-Serie mit aufzunehmen. Mit der Vorstellung der „Running Stones“ als Vorzugs-Punktesystem für die UTMB war dann praktisch der Kreis geschlossen und die ITRA marginalisiert.
Wenden wir uns aber dem neuen ITRA-Präsidium zu: Mit dem Rückzug von Michel Poletti wurde Bob Crowley als neuer Präsident der ITRA angekündigt. Bob Crowley hat nicht nur einen Hintergrund als Unternehmer im TV und IT-Sektor, sondern ist seit mehr als 20 Jahren „Head Yeti“ des TARC, des in den Neuengland-Staaten beheimateten Trail Animals Running Club, mit inzwischen mehr als 6000 Mitgliedern. Und nebenbei hat er eine über 30-jährige Ultrarunning-Karriere mit mehr als 60 Rennen zu Buche stehen. Er scheint also grundsätzlich der geeignete Mann auf dem Posten des ITRA Präsidenten. In den ersten Interviews nach Amtsantritt betonte er, dass das bisherige „Geschäftsmodell“ der ITRA, die Qualifiktationspunkte für den UTMB zu verwalten und zu vergeben, nicht zukunftsfähig sei. Und dass die ITRA in einigen Ländern (Frankreich, Spanien, Italien) sehr bekannt und aktiv sei, in anderen Ländern aber – beispielsweise der USA – praktisch nicht präsent.
Crowley möchte das ändern, indem er die ITRA stärker zur Informations- und Vernetzungsplattform ausbaut. Interessant wird sein, ob das Misstrauen gegen die ITRA – gerade auch von Seiten vieler deutscher Trailrunning-Veranstalter – mit einem neu ausgerichteten Präsidium geringer wird. Denn viele der jetzt schon bestehenden Features, beispielsweise der ITRA Performance Index, funktionieren nur, wenn sich möglichst viele Rennveranstaltungen der ITRA anschließen und die Ergebnisse übermitteln. Hier ist sicher auch noch einige Aufklärungsarbeit nötig, denn aufgrund der Corona-Turbulenzen haben einige den Wechsel an der Spitze der ITRA nicht mitbekommen.
Wie auch immer: Eine Entflechtung der Profit-Unternehmen UTMB/UTWT einerseits und dem Non-Profit Unternehmen ITRA andererseits war längst überfällig und geht auf jeden Fall in die richtige Richtung.
DAS WAR’s ...
... zum Thema „Trail- und Ultrarunning im Jahr 2020“. Für 2021 wünsche ich Euch viele interessante und abenteuerliche Läufe – und: Bleibt gesund! See you on the trail ...
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