von Sabine
Was war das für ein Wochenende! In Kona siegten Anne Haug und Jan Frodeno beim Ironman. In Chicago stellte Brigid Kosgei einen neuen Marathon-Weltrekord auf.
Das Wochenende begann aber damit, dass Eliud Kipchoge in Wien bei der INEOS 1:59 Challenge als erster Mensch überhaupt einen Marathon in einer Zeit unter 2 Stunden lief. Das Projekt war im Vorfeld kontrovers diskutiert worden. Auch ich war mir nicht sicher, was ich von dieser Veranstaltung halten sollte. Nur ein überzogenes Marketing-Spektakel oder eine Veranstaltung, die ein neues Fenster im Laufsport aufstoßen würde? Das von Nike initiierte Vorgängerprojekt „Breaking 2“, das ebenfalls mit Eliud Kipchoge als Protagonisten vor zwei Jahren im Autodromo Nazionale in Monza stattfand, hatte mich merkwürdig kalt gelassen.
Dieses Mal war es anders. Von Anfang bis Ende verfolgte ich das Rennen im Youtube Kanal. Und war begeistert. Danach las ich die vielfältigen Reaktionen in den sozialen Medien, die mich teils sprachlos zurückließen.
Hier folgen - mit etwas zeitlichem Abstand zu diesem Event - meine Gedanken zur Leistung Kipchoges, zum Stellenwert der Veranstaltung und zur Rezeption des Resultats.
Was für ein Druck!
Schon im Vorfeld der Veranstaltung habe ich mich gefragt: Was für ein Druck muss auf Kipchoge lasten? Was hat man alles – parallel zu einem auf diese Veranstaltung fokussierten Training - in dieses Projekt investiert: An Ideen, an Arbeit, an Geld. Straßen wurden aufgefräßt und neu geteert, 41 Pacer perfekt vorbereitet und choreographiert, neuste Schuhtechnologie zur Verfügung gestellt, Ernährung perfekt abgestimmt. Es wurde eine Location mit einem perfekt geraden und flachen Kurs gewählt und ein Tag, an dem meteorologisch alles stimmen sollte.
Und dennoch haben alle, die Langstreckenlauf betreiben, es schon einmal erlebt: Man hat sich perfekt vorbereitet, freut sich auf das Rennen, steht morgens auf: Und dann fühlt es sich einfach nicht gut an. Keine Krankheit, keine Verletzung. Einfach nur ein schlechter Tag.
Es gibt Faktoren, an denen man nur bedingt herumschrauben kann. Und die Frage war für mich am Samstagmorgen: Würde Kipchoge dem Druck standhalten, der durch die Investitionen und den riesigen Hype auf ihm lasteten?
Laborbedingungen
In vielen Kommentaren wurde geschrieben, dass man hier einen Marathon unter Laborbedingungen durchgeführt hat. Ich finde: Verglichen mit einem Feld-, Wald- und Wiesenmarathon, an denen der Ottonormalläufer teilnimmt, finden die Eliteläufer bei den großen Stadtmarathons schon Laborbedingungen vor: Freie Bahn, Pacer über weite Strecken des Laufs, Führungsfahrzeug mit Uhr auf dem Dach.
Ich würde die Verhältnisse, unter denen die 1:59 Challenge stattfand, mit einem Reinstraum in der Chipfertigung vergleichen. Nichts, aber auch wirklich nichts, sollte stören. Wenn die Kamera von der Läufergruppe wegschwenkte, sah man sogar mehrere Helfer, die die wenigen Blätter von der frisch geteerten und perfekt flachen Praterallee wegkehrten. Das erinnerte mich an die Sweeper beim Curling. Es war eine perfekte Kontrolle der (möglicherweise störenden) Elemente – und das auf die Spitze getrieben.
Und dennoch: Trotz dieser perfekten Bedingungen war es Eliud Kipchoge, der auf seinen eigenen zwei Beinen die Marathonstrecke bewältigen musste.
In den sozialen Netzwerken konnte man Dinge lesen wie „da könnte er auch gleich mit dem Auto fahren“.
Nope.
Die Laborbedingungen im „Reinstraum“ Praterallee diente dazu, alle möglichen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die Eliud auch nur eine Millisekunde langsamer hätten machen können. Diese Maßnahmen sollten dazu dienen, dass er seine Leistung voll ausschöpfen kann, nicht dazu, seine Leistung künstlich zu erhöhen.
Ein kleiner, aber feiner Unterschied ...
Was war das denn jetzt?
Auch wenn einige Medien anders titeln: Es war kein Weltkrekord. Aber das war vorher klar kommuniziert.
Es ging auch nicht darum – wie teilweise kommentiert wurde -, die schnellste menschenmögliche Marathonzeit zu produzieren. Es war das Leistungsmaximum, das Eliud Kipchoge am 12.10.2019 unter bestmöglichen Bedingungen bringen konnte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ebenso problematisch finde ich den vom Projekt selbst verwendeten Slogan „No human is limited“. Der menschlichen Leistungsfähigkeit sind Grenzen gesetzt, an die man sich zunächst in größeren, später in infinitesimalen Schritten herantasten kann. Es gibt Menschen, denen sind aufgrund von Krankheiten und Behinderungen sogar sehr brutale Limits gesetzt.
Die meisten vermeintlichen Limits bestehen jedoch in unserem eigenen Kopf oder im Urteil der Außenstehenden. An solchen „Limits“ kann jeder arbeiten; jeder kann sie verschieben, und sei es in Mikroschritten.
Und in diesem Kontext sehe ich auch die INEOS 1:59 Challenge: Kipchoge hat – nicht nur theoretisch, sondern praktisch – gezeigt, dass für einen Mann eine Marathonzeit unter 2 Stunden möglich ist. Er hat Limits verschoben. Ein neues Fenster aufgestoßen.
Was mich in der Diskussion in den sozialen Medien wunderte: Nicht nur „Laien“, sondern auch Leistungssportler diskutierten das Event holzschnittartig. Brachten mit Formulierungen wie „this record is not legit“ (dieser Rekord ist nicht legitim/echt) fast schon eine ethische Komponente in die Wertung hinein. So verwies z.B. Camille Herron, Ultraläuferin und Weltrekordhalterin (nach Standards der IAU) über 100 Meilen, 12 Stunden und 24 Stunden, in Diskussionen mehrfach darauf, dass ihre Weltrekorde nach Verbandsstandards aufgestellt wurden, Kipchoge aber die Verbandsstatuten verletzt habe und daher der Rekord „not legit“ ist.
Das ist formal richtig, verkennt aber zum einen die klar kommunizierte Stoßrichtung der 1:59 Challenge.
Zum anderen sind Leistungen nicht weniger wert oder weniger bewundernswert, wenn sie außerhalb von Verbandsstatuten durchgeführt wurden. Denn die Definition, was zugelassen wird und was nicht, ist arbiträr, unterliegt dem Gutdünken des Verbands. Und ganz so puristisch, wie es scheinen mag, ist man bei der IAAF nicht.
Denn immerhin sind für die offiziellen Rekorde Pacer zugelassen (sofern sie vom Start an mitlaufen), und es ist erlaubt, dem Läufer eine stetige und genaue Information über die Zwischenzeiten zu geben, z.B. per Führungsfahrzeug.
Wie arbiträr die Bestimmungen für offiziell anerkannte Weltrekorde sein können, zeigt das Beispiel des 1-Stunden Weltrekords im Fahrradfahren. Hier hat der zuständige Verband im Jahr 2000 alle zuvor mit Zeitfahrlenkern erzielte Weltrekorde nachträglich annulliert und bestimmt, dass Rekordversuche auf „klassischen Fahrrädern“ aufgestellt werden müssen. Außerdem verbot die UCI die Verwendung von Armbanduhren und Pulsmessern – lediglich ein Betreuer am Rand durfte die Rundenzeiten durchgeben. Erst 2014 wurde diese Regel wieder aufgehoben.
Man muss gar nicht die Welt der Leichtathletik verlassen, um zu sehen, dass Regularien für Rekorde nicht in Stein gemeißelt sind. Bis 2011 konnten Frauen Weltrekorde im Marathon in sogenannten Mixed-Gender-Rennen aufstellen, in denen also Männer und Frauen gleichzeitig starten. Dann wurde diese Regel „kassiert“, und damit auch der 2003 von Paula Radcliffe in London aufgestellte Weltrekord, der ab sofort nur noch „Weltbestzeit“ heißen durfte. Die Begründung ist ähnlich wie die, die zum Verbot „rotierender“ Pacer verwendet wird: Pacer könnten über das ganze Rennen hinweg Unterstützung leisten, ohne in den Wettkampf selbst eingreifen zu können. Denn anders als beim Rennen der Männer hätten männliche Pacer im Frauenrennen aufgrund des geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieds die Möglichkeit, selbst die schnellste Frau von Start bis Ziel zu begleiten.
So weit, so gut.
Aber es blieb nicht dabei. Denn nach größeren Protesten, vor allem aus Großbritannien, wurden die 2:15:25 von Paula Radcliffe wieder als Weltrekord geführt, und zwar durch folgende Bestimmung: Ab sofort gab es zwei Weltrekorde – einer für separate Frauenrennen (derzeit 2:17:01, Mary Keitany) und einer für Mixed-Gender-Rennen (derzeit 2:14:04, Brigid Kosgei).
Da stellt sich die Frage: Mit welcher Berechtigung werden bei Rekorden der Männer nicht ebenfalls zwei Bestzeiten geführt: Die bisherige, bei dem Pacer von Anfang an mitlaufen müssen – und eine weitere, bei dem Pacer eingewechselt werden dürfen.
Das ist zum großen Teil Verbandpolitik. Was aber grundsätzlich festzuhalten ist: Die Leistung von Eliud Kipchoge bei der INEOS 1:59 Challenge ist nicht weniger wert als die Leistung von Eliud Kipchoge beim Berlin Marathon 2018. Man darf erstere einfach nicht „Weltrekord nach IAAF“ nennen.
Alles sauber?
Im Vorfeld der Veranstaltung wurden die Rahmenbedingungen (Pacer, Verpflegung, Strecke) sehr transparent kommuniziert.
Leider ist das aber längst nicht mehr das einzige, worüber sich der (kritische) Zuschauer Gedanken macht. Wenn schon überall optimiert wurde, so lautete ein häufiger Einwurf, hat man da nicht auch optimierend durch leistungssteigernde Medikamente eingegriffen?
Diese Sorge ist verständlich. Nur zu oft wurden in der Vergangenheit Athleten, die Spitzenleistungen scheinbar sauber erbracht hatten, nachträglich überführt. Kenia stand zwischen 2016 und 2017 auf der Watchlist der WADA. Daher würde ich niemals die Hand dafür ins Feuer legen, dass eine Leistung sauber erbracht wurde, so gerne ich es auch glauben möchte. Es wäre naiv.
Und dennoch: Eine Leistung hat als sauber zu gelten, so lange kein Beweis für unerlaubte Mittel erbracht wurde. Das verlangt die Unschuldsvermutung. Und diese Unschuldsvermutung ist kein Ausdruck von Naivität, sondern ist unabdingbar, weil sonst der Verleumdung Tür und Tor geöffnet wäre.
Mein Fazit
Was war das für ein Wochenende! In Kona siegten Anne Haug und Jan Frodeno beim Ironman. In Chicago stellte Brigid Kosgei einen neuen Marathon-Weltrekord auf.
Das Wochenende begann aber damit, dass Eliud Kipchoge in Wien bei der INEOS 1:59 Challenge als erster Mensch überhaupt einen Marathon in einer Zeit unter 2 Stunden lief. Das Projekt war im Vorfeld kontrovers diskutiert worden. Auch ich war mir nicht sicher, was ich von dieser Veranstaltung halten sollte. Nur ein überzogenes Marketing-Spektakel oder eine Veranstaltung, die ein neues Fenster im Laufsport aufstoßen würde? Das von Nike initiierte Vorgängerprojekt „Breaking 2“, das ebenfalls mit Eliud Kipchoge als Protagonisten vor zwei Jahren im Autodromo Nazionale in Monza stattfand, hatte mich merkwürdig kalt gelassen.
Dieses Mal war es anders. Von Anfang bis Ende verfolgte ich das Rennen im Youtube Kanal. Und war begeistert. Danach las ich die vielfältigen Reaktionen in den sozialen Medien, die mich teils sprachlos zurückließen.
Hier folgen - mit etwas zeitlichem Abstand zu diesem Event - meine Gedanken zur Leistung Kipchoges, zum Stellenwert der Veranstaltung und zur Rezeption des Resultats.
Was für ein Druck!
Schon im Vorfeld der Veranstaltung habe ich mich gefragt: Was für ein Druck muss auf Kipchoge lasten? Was hat man alles – parallel zu einem auf diese Veranstaltung fokussierten Training - in dieses Projekt investiert: An Ideen, an Arbeit, an Geld. Straßen wurden aufgefräßt und neu geteert, 41 Pacer perfekt vorbereitet und choreographiert, neuste Schuhtechnologie zur Verfügung gestellt, Ernährung perfekt abgestimmt. Es wurde eine Location mit einem perfekt geraden und flachen Kurs gewählt und ein Tag, an dem meteorologisch alles stimmen sollte.
Und dennoch haben alle, die Langstreckenlauf betreiben, es schon einmal erlebt: Man hat sich perfekt vorbereitet, freut sich auf das Rennen, steht morgens auf: Und dann fühlt es sich einfach nicht gut an. Keine Krankheit, keine Verletzung. Einfach nur ein schlechter Tag.
Es gibt Faktoren, an denen man nur bedingt herumschrauben kann. Und die Frage war für mich am Samstagmorgen: Würde Kipchoge dem Druck standhalten, der durch die Investitionen und den riesigen Hype auf ihm lasteten?
Laborbedingungen
In vielen Kommentaren wurde geschrieben, dass man hier einen Marathon unter Laborbedingungen durchgeführt hat. Ich finde: Verglichen mit einem Feld-, Wald- und Wiesenmarathon, an denen der Ottonormalläufer teilnimmt, finden die Eliteläufer bei den großen Stadtmarathons schon Laborbedingungen vor: Freie Bahn, Pacer über weite Strecken des Laufs, Führungsfahrzeug mit Uhr auf dem Dach.
Ich würde die Verhältnisse, unter denen die 1:59 Challenge stattfand, mit einem Reinstraum in der Chipfertigung vergleichen. Nichts, aber auch wirklich nichts, sollte stören. Wenn die Kamera von der Läufergruppe wegschwenkte, sah man sogar mehrere Helfer, die die wenigen Blätter von der frisch geteerten und perfekt flachen Praterallee wegkehrten. Das erinnerte mich an die Sweeper beim Curling. Es war eine perfekte Kontrolle der (möglicherweise störenden) Elemente – und das auf die Spitze getrieben.
Und dennoch: Trotz dieser perfekten Bedingungen war es Eliud Kipchoge, der auf seinen eigenen zwei Beinen die Marathonstrecke bewältigen musste.
In den sozialen Netzwerken konnte man Dinge lesen wie „da könnte er auch gleich mit dem Auto fahren“.
Nope.
Die Laborbedingungen im „Reinstraum“ Praterallee diente dazu, alle möglichen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die Eliud auch nur eine Millisekunde langsamer hätten machen können. Diese Maßnahmen sollten dazu dienen, dass er seine Leistung voll ausschöpfen kann, nicht dazu, seine Leistung künstlich zu erhöhen.
Ein kleiner, aber feiner Unterschied ...
Was war das denn jetzt?
Auch wenn einige Medien anders titeln: Es war kein Weltkrekord. Aber das war vorher klar kommuniziert.
Es ging auch nicht darum – wie teilweise kommentiert wurde -, die schnellste menschenmögliche Marathonzeit zu produzieren. Es war das Leistungsmaximum, das Eliud Kipchoge am 12.10.2019 unter bestmöglichen Bedingungen bringen konnte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ebenso problematisch finde ich den vom Projekt selbst verwendeten Slogan „No human is limited“. Der menschlichen Leistungsfähigkeit sind Grenzen gesetzt, an die man sich zunächst in größeren, später in infinitesimalen Schritten herantasten kann. Es gibt Menschen, denen sind aufgrund von Krankheiten und Behinderungen sogar sehr brutale Limits gesetzt.
Die meisten vermeintlichen Limits bestehen jedoch in unserem eigenen Kopf oder im Urteil der Außenstehenden. An solchen „Limits“ kann jeder arbeiten; jeder kann sie verschieben, und sei es in Mikroschritten.
Und in diesem Kontext sehe ich auch die INEOS 1:59 Challenge: Kipchoge hat – nicht nur theoretisch, sondern praktisch – gezeigt, dass für einen Mann eine Marathonzeit unter 2 Stunden möglich ist. Er hat Limits verschoben. Ein neues Fenster aufgestoßen.
Was mich in der Diskussion in den sozialen Medien wunderte: Nicht nur „Laien“, sondern auch Leistungssportler diskutierten das Event holzschnittartig. Brachten mit Formulierungen wie „this record is not legit“ (dieser Rekord ist nicht legitim/echt) fast schon eine ethische Komponente in die Wertung hinein. So verwies z.B. Camille Herron, Ultraläuferin und Weltrekordhalterin (nach Standards der IAU) über 100 Meilen, 12 Stunden und 24 Stunden, in Diskussionen mehrfach darauf, dass ihre Weltrekorde nach Verbandsstandards aufgestellt wurden, Kipchoge aber die Verbandsstatuten verletzt habe und daher der Rekord „not legit“ ist.
Das ist formal richtig, verkennt aber zum einen die klar kommunizierte Stoßrichtung der 1:59 Challenge.
Zum anderen sind Leistungen nicht weniger wert oder weniger bewundernswert, wenn sie außerhalb von Verbandsstatuten durchgeführt wurden. Denn die Definition, was zugelassen wird und was nicht, ist arbiträr, unterliegt dem Gutdünken des Verbands. Und ganz so puristisch, wie es scheinen mag, ist man bei der IAAF nicht.
Denn immerhin sind für die offiziellen Rekorde Pacer zugelassen (sofern sie vom Start an mitlaufen), und es ist erlaubt, dem Läufer eine stetige und genaue Information über die Zwischenzeiten zu geben, z.B. per Führungsfahrzeug.
Wie arbiträr die Bestimmungen für offiziell anerkannte Weltrekorde sein können, zeigt das Beispiel des 1-Stunden Weltrekords im Fahrradfahren. Hier hat der zuständige Verband im Jahr 2000 alle zuvor mit Zeitfahrlenkern erzielte Weltrekorde nachträglich annulliert und bestimmt, dass Rekordversuche auf „klassischen Fahrrädern“ aufgestellt werden müssen. Außerdem verbot die UCI die Verwendung von Armbanduhren und Pulsmessern – lediglich ein Betreuer am Rand durfte die Rundenzeiten durchgeben. Erst 2014 wurde diese Regel wieder aufgehoben.
Man muss gar nicht die Welt der Leichtathletik verlassen, um zu sehen, dass Regularien für Rekorde nicht in Stein gemeißelt sind. Bis 2011 konnten Frauen Weltrekorde im Marathon in sogenannten Mixed-Gender-Rennen aufstellen, in denen also Männer und Frauen gleichzeitig starten. Dann wurde diese Regel „kassiert“, und damit auch der 2003 von Paula Radcliffe in London aufgestellte Weltrekord, der ab sofort nur noch „Weltbestzeit“ heißen durfte. Die Begründung ist ähnlich wie die, die zum Verbot „rotierender“ Pacer verwendet wird: Pacer könnten über das ganze Rennen hinweg Unterstützung leisten, ohne in den Wettkampf selbst eingreifen zu können. Denn anders als beim Rennen der Männer hätten männliche Pacer im Frauenrennen aufgrund des geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieds die Möglichkeit, selbst die schnellste Frau von Start bis Ziel zu begleiten.
So weit, so gut.
Aber es blieb nicht dabei. Denn nach größeren Protesten, vor allem aus Großbritannien, wurden die 2:15:25 von Paula Radcliffe wieder als Weltrekord geführt, und zwar durch folgende Bestimmung: Ab sofort gab es zwei Weltrekorde – einer für separate Frauenrennen (derzeit 2:17:01, Mary Keitany) und einer für Mixed-Gender-Rennen (derzeit 2:14:04, Brigid Kosgei).
Da stellt sich die Frage: Mit welcher Berechtigung werden bei Rekorden der Männer nicht ebenfalls zwei Bestzeiten geführt: Die bisherige, bei dem Pacer von Anfang an mitlaufen müssen – und eine weitere, bei dem Pacer eingewechselt werden dürfen.
Das ist zum großen Teil Verbandpolitik. Was aber grundsätzlich festzuhalten ist: Die Leistung von Eliud Kipchoge bei der INEOS 1:59 Challenge ist nicht weniger wert als die Leistung von Eliud Kipchoge beim Berlin Marathon 2018. Man darf erstere einfach nicht „Weltrekord nach IAAF“ nennen.
Alles sauber?
Im Vorfeld der Veranstaltung wurden die Rahmenbedingungen (Pacer, Verpflegung, Strecke) sehr transparent kommuniziert.
Leider ist das aber längst nicht mehr das einzige, worüber sich der (kritische) Zuschauer Gedanken macht. Wenn schon überall optimiert wurde, so lautete ein häufiger Einwurf, hat man da nicht auch optimierend durch leistungssteigernde Medikamente eingegriffen?
Diese Sorge ist verständlich. Nur zu oft wurden in der Vergangenheit Athleten, die Spitzenleistungen scheinbar sauber erbracht hatten, nachträglich überführt. Kenia stand zwischen 2016 und 2017 auf der Watchlist der WADA. Daher würde ich niemals die Hand dafür ins Feuer legen, dass eine Leistung sauber erbracht wurde, so gerne ich es auch glauben möchte. Es wäre naiv.
Und dennoch: Eine Leistung hat als sauber zu gelten, so lange kein Beweis für unerlaubte Mittel erbracht wurde. Das verlangt die Unschuldsvermutung. Und diese Unschuldsvermutung ist kein Ausdruck von Naivität, sondern ist unabdingbar, weil sonst der Verleumdung Tür und Tor geöffnet wäre.
Mein Fazit
- Was mich gewundert hat: Die Differenz zwischen dem Weltrekord nach den Regularien der IAAF (2:01:39) und der unter optimalsten Bedingungen gelaufenen Marathonzeit bei der 1:59 Challenge (1:59:40.2) war kleiner als gedacht. Und das, obwohl man an allen Stellschrauben optimiert hatte. Das heißt, dass es eben doch im Wesentlichen der Faktor „Mensch“ ist, der bei einigermaßen rekordversprechenden Bedingungen leistungsentscheidend ist. Dafür würde auch sprechen, dass auch bei den Frauen die Differenz zwischen den Weltrekorden in Mixed-Gender- und Women-only-Rennen ebenfalls bei rund zwei Minuten liegt. Oder war man bei der 1:59 Challenge im Pacing einfach nur konservativ – wollte nichts riskieren? Dafür sprachen die Bilder, nachdem Kipchoge über die Ziellinie gelaufen war. Wie ein Flummiball hüpfte er auf und ab und feierte mit dem Publikum seine Zeit. Sieht so jemand aus, der alles, wirklich alles gegeben hat?
- Nach dem erfolglosen „Breaking 2“ und der erfolgreichen „1:59 Challenge“ wäre es m.E. jetzt an der Zeit, den Fokus wieder auf einen Faktor zu legen, der bei dieser Veranstaltung völlig ausgeblendet war: Konkurrenz. Ich würde mir wünschen, dass die Sportartikelhersteller hier weniger an Marketing-Aktionen denken als an den Sport. Dass die schnellsten Athleten – unabhängig vom jeweiligen Sponsor – in einem Rennen zusammengebracht würden. Das ist nicht unbedingt ein Rezept für Erfolg, denn dass eine hohe Konkurrenzsituation auch zu einem Harakiri-Pacing führen kann, dass dann im Desaster endet, hat man schon bei einigen Rennen sehen können. Aber es könnte auch – wie beim legendären Iron War zwischen Dave Scott und Mark Allen - ungeahnte Kräfte freimachen.
- In den letzten Jahren haben wir immer wieder Rekordjagden gesehen, die eigentlich verkappte Marketing-Aktionen von Sportartikelherstellern waren. Nike mit dem „Breaking 2“, Hoka mit dem Carbon X Project, und auch bei der jetzigen, vom Chemieriesen INEOS gesponserten 1:59 Challenge hatte Nike seine Finger mit im Spiel. Marketing hin oder her – aber wäre es bei dem derzeitigen Vertrauensverlust in einen sauberen Sport nicht sinnvoller, wenn die Hersteller mehr Geld in ein effizientes Kontrollsystem gegen Doping investieren würden?
- Bestürzt bin ich immer wieder, wie wenig differenziert manche Kommentare zu solchen umstrittenen Ereignissen sind. Das betrifft nicht nur die sozialen Medien, sondern auch die „offizielle“ Berichterstattung. Man scheint in dieser lauten Welt lieber plakativ irgendwas rauszuhauen als differenziert zu erörtern. Doch ein holzschnittartiges Denken, das nur schwarz und weiß kennt, wird unserem Sport nicht gerecht.
- Persönlich muss ich sagen, dass ich den Lauf von Eliud Kipchoge nicht nur als sportliche Höchstleistung empfunden habe. Auch wenn man seinen ästhetischen Laufstil aufgrund der Pacer-Phalanx um ihn herum nicht immer beobachten konnte, die Choreographie der Veranstaltung mit den rotierenden und perfekt auf Aerodynamik abgestimmten Pacern hatte schon etwas von klassischem Ballett. Auch wenn das kein Weltrekord nach IAAF Standards war: Ich werde mir diesen Lauf sicher nochmal anschauen. Denn es war nicht nur Höchstleistung. Es war auch: Schöner laufen!
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