Laufen in Zeiten von Corona: BITTE MEHR VERNUNFT!


von Sabine

Lange habe ich mich gewehrt, einen Artikel zu Corona zu schreiben. Zu sehr hat mich dieses Thema in den letzten Tagen genervt. Oder, besser ausgedrückt: Mich nervt die Inflation dieses Themas, die diversen „Corona-Ticker“, die extremen Positionen, die von Bagatellisierung bis Panikmache reichen. Dazu kommt, dass ich selbst im Gesundheitswesen – wenn auch in der Forschung - arbeite und sich auch dort gerade vieles um Corona dreht.

Doch dann habe ich in den (sozialen) Medien einige Kommentare gelesen, die für mich das Fass zum Überlaufen brachten.



Absage von Veranstaltungen

Die Corona-Krise hat den Laufsport erreicht. Waren es in den vergangenen Wochen vor allem Veranstaltungen in Asien wie der Gaoligong by UTMB oder der Nine Dragons in Hong Kong, die abgesagt oder verschoben werden mussten, so erwischt es nun mehr und mehr europäische Laufveranstaltungen. Dass vor allem Straßenlauf-Veranstaltungen betroffen sind und kaum Trailrunning-Events, liegt vor allem daran, dass die Trailrunning Saison in Mitteleuropa noch nicht so recht gestartet ist. Vergangenes Wochenende wurde der Bienwald-Marathon kurzfristig abgesagt, aber auch Großveranstaltungen wie Halbmarathon und Marathon von Paris sowie der Barcelona Marathon wurden auf den Herbst verschoben, der Rom Marathon ganz abgesagt. Und mit dem Marathon des Sables und dem Ötzi Trailrun hat es nun zwei Veranstaltungen abseits der Straßenrennen erwischt. Es ist schon jetzt klar, dass es dabei nicht bleiben wird. Immer mehr Länder verbieten Großveranstaltungen mit über 1000 Teilnehmern oder raten zumindest davon ab.

Um es vorweg zu nehmen: Ich verstehe jeden, der angesichts einer Absage oder Verschiebung enttäuscht oder frustriert ist. Schließlich hat man sich akribisch vorbereitet – und dann wird der Wettkampf abgesagt und man kann nicht testen, was man draufhat. Aber manch eine Reaktion in den sozialen Medien schießt weit über die reine Enttäuschung hinaus. Da werden – wie beim Bienwald Marathon – die Veranstalter angeranzt, von Panikmache gesprochen, die Entscheidung wird lächerlich gemacht, die Veranstalter als mutlos bezeichnet. Dabei möchte ich nicht in den Schuhen der Organisatoren stecken – denn es gibt in Deutschland bislang keine konkreten Vorgaben, und die zuständigen Gesundheitsämter schätzen die gleiche Lage an verschiedenen Orten ganz unterschiedlich ein. Anders ist nicht zu erklären, warum am Wochenende der Frankfurter Halbmarathon mit 6000 Teilnehmern stattfand, nicht aber der Bienwald-Marathon, bei dem normalerweise weniger als 2000 Läuferinnen und Läufer auf der Strecke sind.

Immer wieder lese ich: Wie soll ich mich denn  dabei anstecken? Das Ganze ist doch eine Freiluftveranstaltung – und so viele Läufer sind nicht auf der Strecke …



Die Gesellschaft steht im Fokus, nicht der Einzelne

Es scheint einigen Leuten nicht in den Schädel zu gehen, dass sich die Welt nicht immer um sie als Individuum dreht. Viele verfahren nach dem Motto: Wenn für mich das Risiko gering ist, dann ist doch alles gut.

Dann hat sich gestern der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, bezüglich der Absage von Fußballspielen geäußert: Auch in einem Fußballstadion sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fan nebenan Corona habe, extrem gering. Diese Aussage ist an Dummheit und Verantwortungslosigkeit kaum mehr zu überbieten.

Es ist sicherlich richtig, dass das Risiko für den Einzelnen gering ist. Aber darum geht es nicht bei der Absage von Großveranstaltungen. Hier kommen viele Menschen zusammen, die scheinbar gesund sind. Und die lange Inkubationszeit von SARS-CoV-2 lässt es nun mal zu, dass man noch beschwerdefrei unterwegs sein kann, auch wenn man das Virus schon in sich trägt und verbreiten kann. Es müssen nur einer oder zwei Virusträger unter den Zuschauern sein, und schon kann es sich unkontrolliert verbreiten. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, neben einem solchen Corona-Patient zu stehen, für den einzelnen gering ist – diese Wahrscheinlichkeiten für die Gesamtheit der Fans summiert sich auf. Wie sich das auswirkt, hat man beim „Kondensationskeim“ der SARS-CoV-2 Epidemie gesehen: Der Faschingsveranstaltung in Heinsberg. Aus zwei Erkrankten wurden viele. Und der Effekt der Veranstaltungen am Faschingssonntag und Rosenmontag wurde Ende der vergangenen Woche sichtbar, als es in NRW einen dramatischen Anstieg der bestätigten Corona-Patienten gab. Großveranstaltungen – selbst wenn nur ganz wenige Infizierte teilnehmen – sind im Infektionsgeschehen die reinsten Brandbeschleuniger.



Eine Modellrechnung

Auch wenn die Gefahr für den Einzelnen verschwindend gering ist, ist dennoch die Gefahr für die Gesellschaft sehr groß. Dabei geht es nicht nur um die Zahl der kritisch Erkrankten und die zu erwartenden Todesfälle, es geht vor allem um die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems.

Auch wenn die „Kennzahlen“ des Virus noch nicht genau bekannt sind, gehen Schätzungen derzeit von einer mittleren Inkubationszeit von 5,2 Tagen aus sowie von einer Basisreproduktionszahl von 2,7. Die Basisreproduktionszahl ist die Zahl von Menschen, die ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt.

Was das bedeutet, kann man in einem vereinfachten Modell leicht ausrechnen. Nach einem Monat werden aus einem Infizierten etwa 308 Infizierte. Das hört sich noch nicht besonders schlimm an. Aber nach zwei Monaten wären es knapp 95000 Infizierte (etwa so viel, wie China bislang hatte), und nach drei Monaten würde die Zahl sogar auf etwa 30 Millionen anwachsen. Natürlich geht ein solches Modell davon aus, dass die Basisreproduktionszahl immer gleichbleibt – das stimmt aber nur am Anfang einer Infektionswelle, da später diejenigen, die die Infektion durchgemacht haben, immun gegen das Virus sind und damit für die weitere Ausbreitung eine natürliche Bremse darstellen. Und dennoch zeigen solche Schätzungen, dass im Fall eines unkontrollierten Infektionsgeschehens unser Gesundheitssystem zusammenbrechen würde – denn auch wenn nur ein geringer Teil der Erkrankten (intensiv)medizinische Versorgung bräuchte, so wären die vorhandenen Kapazitäten weit überschritten.


Nun kann man an der Inkubationszeit nichts ändern. Wohl aber an der effektiven Basisreproduktionsrate. Da gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Zum einen die Immunisierung der Bevölkerung – entweder durch die Krankheit selbst oder durch Impfung. Ersteres ist laut obiger Rechnung kaum möglich, ohne dass einem das Infektionsgeschehen um die Ohren fliegt. Und bis ein Impfstoff entwickelt ist, wird noch einige Zeit vergehen. Die zweite Möglichkeit, die Basisreproduktionsrate zu reduzieren: Frühzeitig Infizierte erkennen (durch Tests) und isolieren. Und für die, die scheinbar gesund sind: Mehr Abstand zueinander halten. Denn wir wissen nicht, in wem das Virus schon steckt.

Und genau auf letzteres zielt das Verbot von Großveranstaltungen, Schließung von Kitas, Schulen und Universitäten, aber auch die (freiwillige) Absage von Veranstaltungen, z.B. von Läufen.

Wenn es uns gelingen würde, die reale Basisreproduktionsrate von 2,7 auf 2 zu reduzieren, hätte man im oben genannten Beispiel nach 3 Monaten nicht 30 Millionen Infizierte, sondern nur gut 160000. Und würden die Maßnahmen dazu führen, dass jeder Infizierte nur noch 1-2 Personen ansteckt (Basisreproduktionsrate = 1,5), dann wäre die Zahl der Infizierten nach 3 Monaten gerade mal gut 1000.



Was bringt das denn?

Wieder einmal sind es im Netz die Extremen, die am lautesten die Stimme erheben. Da sind auf der einen Seite die Verharmloser – „Corona ist doch harmloser als eine Grippe“ – und auf der anderen Seite die, die reine Panikmache betreiben, für die das Ende der Welt bevorsteht. Da gibt es diejenigen, die Hamsterkäufe tätigen – und andere, die mit bissigen Kommentaren Fotos von leeren Regalen oder übervollen Einkaufswagen ins Netz stellen – selbst wenn diese Fotos teilweise gar nicht aus Deutschland stammen und gar nicht mit der Corona-Panik in Verbindung stehen.

Und genau zwischen diesen beiden Extremen ist es sehr schwierig, für komplexere Sachverhalte Gehör zu finden. Zum Beispiel, dass man den Erfolg von Maßnahmen zur Begrenzung der Corona-Epidemie nicht sofort sieht.  Die Auswirkung von Maßnahmen, die jetzt getroffen oder versäumt werden, sieht man in den Diagrammen der Infektionszahlen in 10 bis 14 Tagen. Wer jetzt nach der Absage von Veranstaltungen schreit „Das bringt doch alles nichts, die Infektionszahlen steigen weiterhin“, der zeigt, dass er von Epidemiologie keine Ahnung hat – auch wenn es derzeit gefühlt mindestens eine Million Epidemiologen und Virologen in Deutschland gibt.

Man braucht bei der Bekämpfung von Epidemien klaren Sachverstand, Voraussicht – und langen Atem. Zwei Nationen – China und Südkorea – haben nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge die Trendwende geschafft, und das mit ganz unterschiedlichen Konzepten. In China sah man ab Mitte Februar sinkende Infektionszahlen – also über drei Wochen nach Beginn der drakonischen Maßnahmen mit Lockdown von Wuhan und Quarantäne ganzer Stadtbezirke. In Südkorea schaffte man die Trendwende Anfang März durch großflächiges Testen, sowie durch Verschieben des Schul- und Semesterbeginns in den betroffenen Gebieten – auch hier dauerte es zwei Wochen, bis man die Früchte der Maßnahmen sah.



Nicht alles tun, was möglich ist

Drakonische Maßnahmen wie in China sind bei uns nicht vorstellbar. Umso mehr ist jeder einzelne von uns gefragt, einen Beitrag zu leisten, damit sich die Viren langsamer ausbreiten. Das kann zum einen durch das regelmäßige Händewaschen geschehen – hierin werden die Deutschen zurzeit in einer Art Telekolleg-Dauerschleife intensiv „geschult“. Man kann auch seinen Beitrag leisten, indem man konsequent darauf verzichtet, andere mit Handschlag zu begrüßen – und auch bei Gesprächen einen Mindestabstand hält.

Das alles wird aber nicht ausreichen. Wir müssen auch für eine gewisse Zeit unseren „Aktivitäts- und Kontaktradius“ so gut wie möglich verkleinern. Nicht nur während der Arbeitszeit – Stichwort Homeoffice und Verschiebung/Vermeidung von Dienstreisen – sondern auch in der Freizeit. Und hierzu gehört auch, dass man für sich selbst auf den Prüfstand stellt, ob man bei einer Veranstaltung – auch wenn diese nicht abgesagt oder verschoben wird – überhaupt antreten will. Ob man überhaupt bei einem Rennen starten will. Nicht primär aus Selbstschutz, sondern um die individuelle Basisreproduktionszahl so gering wie möglich zu halten. Auch das wäre ein sinnvoller Beitrag, um bald wieder in den „Normalzustand“ zurückkehren zu können.

Übrigens: Wir Läufer haben die besten Voraussetzungen, wenn es darum geht, unseren „Aktivitäts- und Kontaktradius“ zu verkleinern, ohne den Sport an den Nagel hängen zu müssen. Anders als z.B. beim Fußball oder in anderen Mannschaftssportarten brauchen wir nicht notwendigerweise andere Läufer, um unseren Sport zu betreiben. Wir können auch sehr gut alleine durch den Wald und über die Felder laufen. Lediglich mit den Wettkämpfen sieht es in den kommenden Wochen eher mau aus.



Seid kreativ!

Aber halt – warum sollte es eigentlich weniger Wettkämpfe geben? Warum machen wir denn nicht aus der Not eine Tugend? Wir Trail- und Ultrarunner sind doch, was die Erfindung neuer Wettkampfformate angeht, ein sehr kreatives Völkchen. Eine Krise muss nicht nur Einschränkung bedeuten, sie kann auch neue Möglichkeiten eröffnen.

Wenn man schon Veranstaltungen absagen muss, warum sollte man nicht mal einen virtuellen Wettkampf organisieren? Die technischen Voraussetzungen dazu hätten wir – dank Strava & Co. Und das Konzept ist nicht mal neu. Ethan Newberry, für die meisten eher bekannt als Ginger Runner, veranstaltet seit 2016 Jahren seinen Ginger Runner Global Run. Man läuft so viele Kilometer wie möglich in 2 Stunden – dokumentiert wird das ganze über Strava.

Oder wie wäre es mit einem Wettkampf, bei dem man zwar eine bestimmte Strecke läuft – aber innerhalb eines längeren Zeitfensters. Wodurch automatisch die Läufer nicht aufeinander „kleben“, ohne dass der Wettkampfcharakter verlorengeht. Das Vorbild: Die Trail Running Trilogy, wo man in einem Zeitfenster von 9 Stunden auf drei der Hausberge von Garmisch-Partenkirchen läuft. Startzeit und Reihenfolge wählt man selbst; die Zeitmessung erfolgt über eine App.

Es gibt so viele Möglichkeiten, die eigene Fitness unter Beweis zu stellen – da muss bei einer Wettkampfabsage nicht gleich die Welt zusammenbrechen.



In guten wie in schlechten Tagen

Eine große Bitte: Wenn Euch auch eine Corona-bedingte Rennabsage ärgert – bitte ladet diesen Ärger jetzt nicht bei den  Organisatoren ab. Die haben sich die jetzige Situation genauso wenig gewünscht wie Ihr sie Euch gewünscht habt. Die meisten wissen um ihre Verantwortung – für den Sport, aber auch für die Gesundheit.

Der Laufsport lebt davon, dass es einige gibt, die alles geben, um tolle Wettkämpfe zu organisieren. In guten Zeiten profitieren wir alle davon. Die meisten von uns rufen nach mehr, wenn es mal wieder Engpässe bei Startplätzen gibt. Da sind wir froh über jeden, der bereit ist, ein weiteres Rennen zu organisieren.  Jetzt trifft die Corona-Krise auch und vor allem diejenigen, die mit viel Arbeit und Herzblut die tollsten Wettkämpfe auf die Beine stellen. Es trifft sie auch finanziell. Und das ist hart, denn die meisten Veranstaltungen sind hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit auf Kante genäht. Eine Absage, aber auch eine Verschiebung, kann ganz schön ins Kontor schlagen.

Organisatoren von Wettkämpfen können – anders als mancher Industriebetrieb oder die Hotel- und Gaststättenbranche – nicht mit staatlichen Hilfsgeldern rechnen. Eigentlich sind wir hier gefragt:  Manchem Organisator wäre schon geholfen, wenn der eine oder andere nicht auf die Rückzahlung des Startgelds bestehen würde.



Vom Virus lernen ...

Die Corona-Krise ist nicht nur eine Herausforderung für unser Gesundheitssystem, sondern für unsere Gesellschaft. Die Gesundheit eines jeden wird dann am besten geschützt werden können, wenn jeder auch seinen Beitrag dazu leistet, den Virusausbruch zu verlangsamen. Auch dann, wenn man Einschnitte bei unserem liebsten Hobby hinnehmen muss. Es reicht nicht aus, auf unsere persönlichen Freiheiten zu pochen – in Notsituationen aber nur nach staatlichen Maßnahmen zu rufen.

Wenn wir in der Corona-Krise lernen, unseren eigenen Beitrag zu leisten, könnte das uns helfen, mit einer  viel größere Herausforderung umzugehen: dem Klimawandel. Denn Klimawandel und Corona-Krise haben einige Ähnlichkeiten: Wie beim Corona-Virus ist auch beim menschengemachten Klimawandel die „Inkubationszeit“ lang – wir haben Jahrzehntelang über unserer Verhältnisse gelebt, und erst jetzt wird für alle sichtbar, wie krank wir damit unsere Umwelt gemacht haben. Wie bei Corona wird es auch beim Klima lange dauern, bis wir die Wirkung von Gegenmaßnahmen sehen.  Auch hier sind ein klarer Sachverstand, Voraussicht und langer Atem gefragt. Und wie bei Corona kann die Trendwende nur dann gelingen, wenn wir nicht nur versuchen, uns selbst zu retten, sondern wenn jeder den Anteil leistet, den er leisten kann.

In diesem Sinne: Bleibt gesund – see you on the trails!


Einen weiteren Artikel zu Corona und unseren Beitrag zur Eindämmung findet Ihr hier.


Kommentare

  1. Danke, Sabine - dein Text spricht mir aus der Seele und ich bin gedanklich ähnlich unterwegs: http://www.ostwestf4le.de/2020/03/11/venloop-halbmarathon-metro-marathon-duesseldorf-absage-wegen-corona-virus/

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  2. Danke für den sehr informativen Bericht. Die Gesellschaft geht vor dem Individuum. Bin wahrscheinlich/hoffentlich in Leipzig ebenfalls betroffen. Wenn ich gesund bleibe, lauf ich meinen eigenen Marathon an dem Tag.

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  3. Hast Du gut geschrieben, danke für die Mühe, ratze

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