von Sabine
Corona – nicht schon wieder! Ich kann’s nicht mehr hören. Das muss doch nicht sein ...
Doch!
Es muss sein, weil ich merke, dass immer noch ein großes
Unverständnis herrscht über das Virus, vor allem aber auch über das, was uns
jetzt auferlegt wurde: Abstand halten!
Veranstaltungen werden untersagt. Zunächst solche mit mehr
als 1000 Teilnehmern, aber die Teilnehmerzahl wird immer mehr eingeschränkt. In
allen Bundesländern ist ab der kommenden Woche der Unterricht – zumindest als
Präsenzunterricht – vorläufig gestoppt. Kitas werden geschlossen, der Universitätsbetrieb
eingestellt. Jeden Tag gibt es neue und strengere Verordnungen. Und unsere
Bundeskanzlerin sagt, man möge Sozialkontakte so weit wie möglich einschränken.
So einschneidend das wirken mag, es ist noch weit weg von
den Bestimmungen des Lockdown in Italien und Spanien, und noch viel weiter weg von der
Totalkontrolle in Wuhan. Und auch in unseren Nachbarländern – Frankreich oder
Österreich zum Beispiel – sind die Einschränkungen des öffentlichen Lebens noch
viel größer als bei uns.
Manche Reaktion auf diese Einschränkungen war für mich befremdlich.
Da versammelten sich hunderte von Fußballfans dicht gedrängt vor den Stadien,
während ihre Mannschaften vor leeren Kulissen spielen. Da begrenzte ein Mannheimer
Konzertveranstalter die Zahl der Zuschauer auf 999. Es fanden
immer noch Volksfeste statt, es wurden immer noch Familienfeiern veranstaltet,
Leute gehen immer noch in enge Bars, Clubs und Discos. Oft mit dem Verweis
darauf, man sei doch jung und fit, so hoch sei die Infektionsgefahr doch gar
nicht. Oder mit dem trotzigen Statement: „Das lass ich mir doch nicht
verbieten“.
Die Ursache für diese Einstellung ist häufig, dass die Leute
nicht verstehen, wie sich das Virus verbreitet und welche Möglichkeiten wir
haben, diese Verbreitung aufzuhalten bzw. zu verlangsamen.
Und ich gewinne manchmal den Eindruck, dass sich jahrzehntelanges
„Steueroptimieren“ bei den Deutschen so ausgewirkt hat, dass man nach dem
Buchstaben des Gesetzes schaut und nach möglichen Schlupflöchern, aber nicht
nach dem Sinn des Ganzen. Problem ist: Dieses Virus, dieses fiese, kleine
COVID-19, lässt sich mit Tricksereien nicht aufhalten. Im Gegenteil ...
In der Filterblase
Über die Verbreitung des Virus wurde ja schon viel
geschrieben. Sie ist exponentiell. Und inzwischen gibt es auch die neusten Zahlen, die diese exponentielle Verbreitung beschreiben.
Ein Infizierter steckt etwa drei weitere Menschen an, die wiederum jeweils drei
u.s.w. Zwischen den Ansteckungen liegt eine Zeit von etwa 7,5 Tagen. So werden
aus einem Infizierten in einer Woche 3, in einem Monat 81, in zwei Monaten 6561
und in drei Monaten über 16 Millionen.
Nun kann sich das Virus nicht einfach so verbreiten, sondern
es verbreitet sich entlang von Pfaden. Und diese Pfade sind soziale Kontakte.
Jeder kennt jeden um sechs Ecken, sagt das Sprichwort – und dass das stimmt,
haben Wissenschaftler bestätigt.
In den Social Media spricht man häufig von Filterblasen.
Aber nicht nur in den sozialen Medien, auch wenn es um die Ausbreitung von
Viren geht, gibt es solche Filterblasen: Die engste ist die der eigenen Familie,
zumindest diejenigen der Familie, die im gleichen Haushalt wohnen. Dies ist
auch der Grund, weshalb häufig eine Infektion mit Corona auch auf die engsten
Familienmitglieder überspringt. Nun sind diese familiären Filterblasen
miteinander verbunden, sind Teil größerer Filterblasen: Freunde, Verwandte,
Vereine etc.
Der große Unterschied zu den Filterblasen der Social Media: Die virologischen Filterblasen sind eng miteinander verwoben. Außerdem gibt es „Umschlagsplätze“,
in der viele Leute aus unterschiedlichen Filterblasen aufeinandertreffen: Das
sind Kongresse, Großraumbüros, Kantinen, Fußballspiele, Konzerte, Kinos,
Parties, aber auch die harmlos erscheinende Familienfeier. Immer dann, wenn
viele Menschen in engem Raum zusammen sind, geben sie dem Virus einen Pfad,
sich in andere Blasen auszubreiten.
In der Animation ist das exemplarisch dargestellt:
Das Virus wird zunächst auf einem Kongress weitergegeben, dann im Büro, dann im
Familienkreis – und schließlich geben die Mitglieder der Familie das Virus bei
einem Fußballspiel und einem Geburtstag weiter. Am Ende der Kette landet das
Virus dort, wo es möglichst nicht landen sollte: Bei den betagten,
gesundheitlich angeschlagenen Eltern und bei den Angestellten einer Klinik, die
letztlich die Versorgung der Kranken übernehmen sollen.
Und damit ist auch verständlich, warum es so wichtig ist,
die großen Umschlagsplätze der Virenausbreitung auszuschalten: Kongresse absagen,
Veranstaltungen canceln, auf Heimarbeit umstellen.
Dort, wo der Staat nur bedingt die Möglichkeit der
Einwirkung hat, ist ein jeder von uns gefragt. Wir müssen unsere Freizeitaktivitäten
dringend und schnell anpassen. Kino ist zurzeit nicht – genauso wenig wie das
Konzert oder die Laufveranstaltung. Es ist aber auch wichtig, auf die
Geburtstagsparty oder das Familienfest zu verzichten.
Um hier mit einem großen Missverständnis aufzuräumen: Es
geht nicht darum, dass man sich nicht infiziert. Man kann sich, vor allem wenn erst
einmal ein gewisser „Durchseuchungsgrad“ erreicht ist, mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit bei jedem Kontakt anstecken. Es geht darum, es dem Virus schwer
zu machen, seine Ausbreitungspfade einzuengen. Das gilt vor allem für die
Ausbreitungspfade hin zu den besonders gefährdeten Menschen: Alten Menschen,
Menschen mit Vorerkrankungen und immunsupprimierten Patienten.
Go the Extra Mile – It’s Never Crowded
COVID-19 mutet uns einiges zu. Bislang sind die staatlichen
Bestimmungen in Deutschland bei weitem nicht so streng wie in unseren
Nachbarländern oder wie in Italien und Spanien. Umso wichtiger ist es, dass wir
nicht das Maximum des noch Machbaren ausreizen, sondern eher: Dass wir noch
mehr tun als das, was gesetzlich bzw. durch Verordnungen von uns verlangt wird.
Das ist doch eigentlich das, was wir auch aus dem Laufsport
kennen: Go the Extra Mile. Nicht nur so viel trainieren, dass man gerade
so durchkommt – sondern das Bestmögliche aus sich selbst herauszuholen.
Ich habe gemerkt, dass es wichtig ist, sich selbst
klare Grenzen zu setzen – weil man sonst bei Anfragen immer wieder geneigt ist,
eine Ausnahme zu machen. Da ist die eine oder andere Geburtstagsfeier, ein
gemeinsamer Kaffee oder Abendessen. Kann oder soll ich da wirklich absagen?
Ich selbst arbeite im Gesundheitswesen, genauer gesagt in
der Forschung. Aber ich habe auch beruflich bedingt Kontakte zu denen, die in
der Krankenversorgung arbeiten. Um diese nicht zu gefährden, habe ich mir
selbst eine Grenze auferlegt: In geschlossenen Räumen maximal mit 3 Personen
maximal 15 Minuten verbringen. Ausnahmen sind berufliche Verpflichtungen, die
sich nicht anders lösen lassen. Natürlich ist eine solche selbst auferlegte
Grenze für jeden unterschiedlich, da muss man sich ehrlich fragen was machbar
ist und was nicht.
Ein Blick in die Geschichte und Simulationen
Es gibt inzwischen viele Hinweise, dass die Schwere der Epidemiewelle,
aber auch die Zahl der Toten wesentlich davon abhängt, wie konsequent das „Social
Distancing“ durchgeführt wird. Hier wird gerne auf das Beispiel von St. Louis vs. Philadelphia während der zweiten Welle
der Spanischen Grippe verwiesen: Während man in Philadelphia noch zwei Wochen
nach der drastischen Steigerung der Infektionsrate die sogenannte „Liberty Loan
Parade“ abhielt, wurden in St. Louis wenige Tage
nach Auftreten der ersten Grippefälle Schulen und Kinos geschlossen und
öffentliche Veranstaltungen verboten. Der Verlauf der Ausbreitung und der Mortalitätsrate
in diesen beiden Städten könnte unterschiedlicher nicht sein.
In einem
Simulationsmodell, das die Washington Post gerade veröffentlicht hat, ist auch zu erkennen, das Social
Distancing eine der effektivsten Methoden ist, die Infektionskurve flach zu bekommen
(Stichwort #flatteningthecurve) und damit auch die Mortalitätsrate möglichst
niedrig zu halten. Interessanterweise ist Social Distancing effektiver als
komplette Ausgangssperren und Abriegelungen, da bei einer flachen Kurve in
ausreichender Rate genesene – und mittlerweile immune – Patienten zum Bremsen
der Ausbreitung beitragen.
Schließlich haben Forscher der Technischen Universität Wien –
ebenfalls in einer Simulationsstudie- vorhergesagt, dass die jetzt ergriffenen Maßnahmen zu einem deutlichen
Abflachen der Kurve führen werden. Diese Abflachung wird umso effektiver sein,
je mehr Menschen mitmachen.
Lasst uns die Extra Mile gehen, lasst uns die
sozialen Kontakte freiwillig so gut wie möglich auf die not-wendigen einschränken.
Dann haben wir vielleicht eine Chance, auch ohne die drastischen Maßnahmen
auszukommen, die wir derzeit in anderen Ländern sehen.
Dann werden wir in gut einer Woche einen Knick in der
Ausbreitungskurve sehen, der so wichtig ist, auf den wir alle warten. Dann wird
sich das Virus nicht mehr unkontrolliert verbreiten, sondern wir gewinnen wieder
Kontrolle über die Verbreitung.
Die Bundeskanzlerin sagte: "Ich wünsche, dass wir diese Probe auch bestehen." Ist mir ein bisschen zu wenig.
Denn: Zusammen schaffen wir das.
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